Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Ach, großer König

Ach, großer König

Predigt an Karfreitag
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Karfreitag, 7. April 2023

Predigt zu Johannes 19, 16–30

Predigttext: Johannes 19, 16–30

Da überantwortete Pilatus ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, 17 und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. 18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. 19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. 20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. 21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König. 22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. 23 Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. 24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten. 25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. 26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! 27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. 28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. 29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund. 30 Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Es ist vollbracht!“ (Joh 19, 30) So endet die Passionsgeschichte Jesu nach dem Johannes-Evangelium. So endet Jesu Leben nach dem Bericht von Johannes, der ihm diese Worte in den Mund legt: „Es ist vollbracht!“

Ich habe mich oft gefragt, wenn ich die Johannes-Passion gehört habe oder im Karfreitags-Gottesdienst saß, worauf sich diese Worte beziehen. Meinte Jesus, sein Leiden, seine schrecklichen Qualen am Kreuz wären endlich „vollbracht“? Meinte er, er hätte sein Leben „vollbracht“, es zu Ende gebracht? Oder meinte er, er hätte sein Werk, seinen besonderen Auftrag „vollbracht“ und erfüllt?

Erleichterung schwingt für mich in Jesu Worten mit: Einwilligung ins Sterben, das er vielleicht als Erlösung empfand. Auch Stolz über das „Vollbrachte“, Vollendete und Gelungene. Und auch so etwas wie eine Distanzierung von seinem Lebensweg, den er als Gottes Sohn gehen musste und nun zurück in Gottes Hand legt.

„Es ist vollbracht!, und er neigte das Haupt und verschied.“

Das ist die Nachricht von Karfreitag, die Botschaft von Jesu Tod. Die man ganz kurz fassen könnte, wie auch sonst Todesnachrichten oft sehr kurz gefasst sind: Mein Bruder ist tot. Unsere Mutter ist tot. Eine Schulfreundin oder ein Kollege … ist tot. Wir erfahren es durch einen Anruf, im Gespräch oder aus der Post.

So, wie auch manche unter uns in den letzten Monaten eine Todesnachricht erhalten haben. Ein Name, ein Mensch, den wir kannten, vielleicht liebten, und die Ansage vom Ende: Er, sie ist tot. Das, was wir mit ihm oder ihr erlebt haben, ist zu Ende. Das, was uns verbunden hat, kann nicht fortgeführt werden. Das, was wir noch gemeinsam zu erleben oder besprechen hofften, wird nicht geschehen.

Solche Gedanken an die Zukunft ohne den Verstorbenen, solche Erinnerungen an die nun abgeschlossene, vergangene Zeit mit dem Verstorbenen schließen sich an jede Todesnachricht. Erinnerungen, Bitten, Fragen, Ungesagtes und Unvollendetes… Häufig ist der Überbringer der Todesnachricht der erste Gesprächspartner für solche Gedanken und ungesagten Worte.

Der Überbringer der Todesnachricht am Karfreitag ist für uns heute der Evangelist Johannes. Wir haben seine Botschaft in den Lesungen aus dem Evangelium gehört. Die Choräle aus Bachs Johannes-Passion haben sie aufgenommen, vertieft und verstärkt.

Johannes trägt die Nachricht von Jesu Tod schon in der 2. oder 3. Generation weiter. Jesu Tod liegt schon länger zurück. Aber in seiner Nachricht kommt uns Jesu Tod ganz nah. Es kann so wirken, als träfe sie uns neu: Jesus ist tot.

„Pilatus gab Jesus hin, dass er gekreuzigt würde, und so geschah es. Sie kreuzigten ihn und er starb.“

So die Zusammenfassung von Jesu Sterben. Aber so nüchtern möchte der Evangelist die schreckliche Botschaft vom Tod des Herrn nicht überbringen. So kurz will er sich nicht fassen, sondern will als Überbringer der Todesnachricht von Gottes Sohn mit uns gleichsam ins Gespräch treten.

So, wie Menschen vom Sterben eines geliebten Menschen selten knapp und nüchtern erzählen. Meistens erinnern sie sich detailliert an die letzten Worte und Gesten, an die Uhrzeit, das Licht, das ins Zimmer fiel, die letzten Besucher… An merkwürdige Zeichen und Begebenheiten, die etwas von diesem einzigartigen Menschen und seinem Tod erzählen. Als bliebe die Zeit stehen, als dehne sich die Zeit aus, wenn ein Mensch stirbt.

Auch Johannes schildert Jesu Sterben detailgenau. Auch für ihn scheint die Zeit stillzustehen, als Gottes Sohn stirbt, auf dem doch die Hoffnung der Welt lag. Er erzählt von Jesu Ende mit Bildern, Zeichen und Szenen, die für ihn deutlich machen, wer dieser Mensch war. Was ihn ausgemacht hat als Gottessohn, König und Erlöser, den Johannes in ihm sieht.

Drei Szenen fallen ins Auge, drei Szenen verknüpft Johannes mit Jesu Tod:

Es beginnt mit Pilatus, der Jesus im Verhör kennengelernt hat, von seinen Antworten überrascht war, vielleicht überzeugt wurde. Pilatus bringt am Kreuz die Aufschrift an: „Jesus von Nazareth, König der Juden“. In drei Sprachen lässt er es schreiben, auf Hebräisch, Lateinisch und Griechisch. Für die ganze damalige Welt zu verstehen. Damit keiner später sagen könnte, er hätte nichts davon gewusst. Als die Hohenpriester Pilatus auffordern, die Inschrift zu ändern, bleibt er dabei: „Jesus von Nazareth, König der Juden“.

Der römische Präfekt Pontius Pilatus wird damit zum ersten Zeugen: Er verkündet und deutet den Tod Jesu. Der auf einem Esel in Jerusalem einzog, eine Dornenkrone und einen Purpurmantel trug, den bezeichnet er als Außenstehender, keiner Sympathie für Juden oder Christen verdächtig, als „König der Juden“.

Er legt damit den Finger gleich in mindestens zwei Wunden. Zum einen: Sollte Jesus wirklich ein König gewesen sein, ein Herrscher, der Gerechtigkeit und Frieden hätte bringen können? Wurde er verkannt, übersehen?

Daran schließen sich damals wie heute bohrende Fragen, wie die, welchen Herrschenden und Regierenden wir vertrauen? Wem wir Macht zubilligen, welchen Mächten und Gewalten wir folgen? Wie sehen unsere Herrscher heute aus, einsam an allzu langen Tischen, stolz neben Kampfpanzern, auf Rollfeldern … Wie sehen sie aus neben dem König Jesus von Nazareth? Und auf wessen Herrschaft setzen wir?

Die zweite offene Wunde, auf die der Titel „König der Juden“ zeigt, ist das Verhältnis zwischen Christen und Juden. Zwischen dem jüdischen Volk, dem Jesus und seine ersten Jünger angehörten, an das Jesus sich zuerst richtete. Der Streit und die Trennung, die zwischen der neuen Jesus-Bewegung und den jüdischen Synagogengemeinden entstand. Die antijudaistischen Töne in den Schuldzuweisungen an Jesu Tod, die schon in den Evangelien angeschlagen werden und grauenhafte Folgen für die Juden hatten. Die Schuld, die Christen jahrhundertelang und bis heute auf sich geladen haben.

Die erste Szene, die Johannes von Jesu Tod erzählt, beleuchtet wohl, wie die Umwelt, die anderen Jesus sahen und sich an ihm auch entzweiten. Wie Menschen damals und wir heute Jesus verstehen oder ablehnen. Erkennen, akzeptieren, glauben wir Jesus als König, als Retter? Bekennen wir uns zu ihm, tragen wir seinen Namen auf den Lippen, seine Worte im Herzen? Und welchen Namen, welchen Titel trägt er für uns?

Die zweite Szene, die für Johannes zur Todesnachricht gehört, sind die vier römischen Soldaten, die Jesu Kleider zerreißen, unter sich aufteilen und um das Obergewand losen. Gierig und roh wirken sie, abgestumpft von Gewalt, Krieg und Tod. Ohne jede Achtung, geschweige denn Mitleid mit anderen Menschen – und sei es ein Sterbender.

Diese Notiz wirkt, als wollte Johannes festhalten und weitersagen, wie grausam Jesus starb. Nackt und verachtet. Von der Welt gedemütigt, die zu retten er gekommen war.

Für mich ist es eine herzzerreißende Szene, ein verstörendes Bild dafür, wie Gottes Sohn in Menschenhände gefallen ist, was Menschen in dieser Welt einander antun. Täglich sehen wir Bilder davon: im Donbass, in Idlib, im Kongo … Bilder von Gottes Wehrlosigkeit, Hingabe und Menschlichkeit in einer unmenschlichen Welt.

In der dritten Szene schließlich beleuchtet Johannes die drei Frauen unter dem Kreuz: Jesu Mutter, seine Tante und seine Freundin, die drei Marien, daneben sein Freund, der Jünger Johannes. So, als wolle der Evangelist seine Nachricht tröstlich schließen: Am Ende war Jesus nicht allein! Trotz der Unkenntnis, dem Missverstehen seiner Umwelt, trotz der Gewalt der Söldner – es gab doch Menschen, die ihn liebten, die zu ihm hielten und sich zu ihm bekannten.

Jesu Liebe zeigt sich in dieser Szene, als er seine Mutter Maria und seinen Freund Johannes bittet, einander als Mutter und Sohn anzunehmen, sich umeinander zu kümmern. Sein Tod soll keine Lücken zwischen Menschen reißen. Jesu Liebe verbindet Menschen über Gräben hinweg, im Leben und auch im Sterben. Mitfühlend und liebevoll sagt er: „Passt aufeinander auf! Haltet zusammen! Sorgt füreinander!“

Und dann seine letzten Worte: „Es ist vollbracht!“

Als habe Jesus seinem Leben und Sterben nun nichts mehr hinzuzufügen. Als akzeptiere er, was ihm gelungen ist, was er erleben und unter uns Menschen säen und beginnen konnte … Als nehme er auch diese letzten Szenen unter seinem Kreuz an: Die Inschrift „Jesus von Nazareth, König der Juden“, die rohe Habgier der Soldaten, die ihm das Letzte nehmen, und die Nähe der ihm vertrauten, geliebten Menschen.

Ich denke: Ja, in seinem Sterben spiegelt sich Jesu Leben. Gottes Liebe, die in einem Kind zur Welt kam, schutz- und wehrlos, arm und nackt. Manche Menschen haben diese Liebe aufgenommen und weitergegeben, wie ein helles, wärmendes Licht. Und viele andere wollten sie nicht sehen oder annehmen, können oder wollen es nicht bis heute.

Um der Liebe willen ist Jesus gestorben, ans Kreuz gebracht durch Verachtung, Habgier und Gewalt. Nicht Gottes Zorn galt es zu versöhnen, sondern die Auflehnung, den Hass der Welt gegen Gott und seine Liebe zum Leben.

„In ihm war das Leben“, schreibt Johannes am Anfang seines Evangeliums, „und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, aber die Finsternis hat’s nicht begriffen.“ (Joh 1, 4+5)

Gott stärke uns, sein Leiden zu bedenken und sein Licht zu fassen. Amen.