Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Anfang und Ende

Anfang und Ende

Predigt zum Ewigkeitssonntag
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Ewigkeitssonntag, 20. November 2022

Predigt zu Maerkus 13, 28–32

Predigttext Markus 13, 28–32

Jesus sprach: An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis: Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. 29 Ebenso auch, wenn ihr seht, dass dies geschieht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist. 30 Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. 31 Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. 32 Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.

Predigt zu Egon Schiele: Herbstbaum in bewegter Luft (1912)
und Markus 13, 28–32

Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!

Im Sommer habe ich in Wien das Leopold Museum besucht. Eine ganze Etage ist dort dem Künstler Egon Schiele gewidmet, von dem das Museum die größte Sammlung der Welt besitzt: 42 Gemälde und 184 Aquarelle, Zeichnungen und Druckgrafiken. Bekannt ist Schiele, der jung – mit nur 28 Jahren – im Jahr 1918 an der Spanischen Grippe starb, vor allem für seine Frauen- und Männerakte in knalligen, schwarz kontrastierten Farben. Die exaltierte Mimik und Gestik, die durchbohrenden Blicke verbinden Selbstdarstellung und Selbstreflexion mit existentiellen Fragestellungen. Manche seiner Bilder können einem in ihrer Intensität fast zu nahekommen.

Neben den großformatigen Akten waren in Wien in einem Nebenraum auch einige von Schieles Naturbildern ausgestellt. Der „Herbstbaum in bewegter Luft“, auch „Winterbaum“ genannt, den Sie im Gottesdienstzettel sehen, sprach mich besonders an.

Es ist ein quadratisches Bild, etwa 80×80 cm groß, in Öl auf Leinwand gemalt. An mehreren Stellen sieht man, dass der junge Maler mit einem weichen Bleistift vorgezeichnet hat. Braun- und Grautöne. Ein abstrakt anmutender Baum, der sich kantig im Wind biegt, zwei dunkelbraune Hauptäste und ein weißgekalkter Stamm, der auf einen Weinstock oder Obstbaum hindeutet. Der Hintergrund craquelé-artig von Strichen durchzogen. Man weiß nicht genau: Sind es Zweige oder Risse?

Schmal und zart, fast zerbrechlich sieht der einsame Baum aus – und scheint dennoch Sturm und Kälte zu trotzen. Es wirkt, als habe er im Ungleichgewicht unberechenbarer Gewalten sein eigenes Gleichgewicht gefunden, seine eigene bestimmte Form.

Unwillkürlich hat mich der Baum an einen Menschen erinnert, ein Individuum. So, wie wir alle heute hier sind mit den individuellen Namen, Geschichten und Bildern von Menschen, die wir verloren haben. Die zu uns und unserem Leben gehörten, ihm seine bestimmte Form und Färbung gegeben haben und die wir hergeben mussten. Heute mögen sie uns wieder besonders deutlich vor Augen stehen und innerlich nah sein.

Auf eigene, damals neuartige Weise hat Egon Schiele den „Herbstbaum in bewegter Luft“ geradezu anthropomorph gemalt. Man weiß, dass er über seine Beobachtungen menschlicher Merkmale in der Natur intensiv nachdachte. So schrieb er beispielsweise 1913 in einem Brief: „Hauptsächlich beobachte ich jetzt die körperliche Bewegung von Bergen, Wasser, Bäumen und Blumen. Überall erinnert man sich an ähnliche Bewegungen im menschlichen Körper, an ähnliche Regungen von Freuden und Leiden in den Pflanzen.“ [https://www.leopoldmuseum.org/de/sammlung/highlights/106]

Der weißgekalkte Stamm kann einen an die Kindheit eines Menschen erinnern, die wir in unseren Erinnerungen und Gefühlen immer besonders stark bewahren. Schon in der Kindheit Krümmungen des Stammes; kein makelloser, edler Stamm schießt hier gerade empor, sondern einer, der offenbar verschiedenen Einflüssen von Standort und Klima ausgesetzt ist, die ihn prägen, wie ein Kind von seiner Familie, Gesellschaft und Zeit geprägt wird.

Ein Ast wächst auf Schieles Bild fast rechtwinklig nach links. Folgt man dem Stamm als der Kindheit, lässt er an jugendlichen Protest denken, wenn man alles ganz anders machen will als die Eltern, ihrem Lebensstil geradezu entgegengesetzt. Das galt für Schiele selbst, der als Sohn eines Eisenbahners in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs, aus denen er ausbrechen wollte. Ein freies Leben suchte er, hatte wechselnde Liebesbeziehungen, zu wenig Geld, zog häufig um, suchte seinen eigenen unverwechselbaren Ausdruck…

Der Hauptast, der sich auf Schieles Bild durchsetzt, ist der, der aus dem Stamm hervorgeht – nicht die Abzweigung. Durchsetzungsstärker scheinen die frühen Prägungen und Entwicklungen zu sein, als die Versuche, auszubrechen oder sich selbst ganz neu zu erfinden.

Dieser braune Hauptast scheint sich erst der Windrichtung zu beugen, bis er sich verzweigt, zwei Nebenäste bekommt, und sich kurz danach dem Wind zuwendet, ihm die Stirn bietet – vielleicht wie es uns in den besonders kraftvollen Jahren unseres Lebens möglich ist.

Ein weiterer Abzweig, und dann beschreibt der Ast einen großen Bogen, so als wolle er wieder zur Erde, seinem Ursprung zurückkehren. Als würde sich sein Lebenskreis schließen. Wie alt auch immer dieser Baum geworden sein mag.

Und immer wieder kleinere Zweige, Striche oder Risse, mal spitz und zackig, mal geschwungen. Mal scheinen sie aus dem Baum herauszuwachsen, mal auf ihn zuzulaufen, wie Begegnungen mit der Umwelt, Interaktionen und Bewegungen.

Einerseits wirkt das Bild zerbrechlich und unfertig auf mich – und andrerseits ist es in sich geschlossen, mit einer ganz eigenen Form.

So mag es uns im Rückblick gehen, dass uns manche Wege und Bewegungen im Leben unverständlich oder unabgeschlossen erscheinen, während anderes, auch manche anderen Lebensläufe stimmig und rund wirken.

Die Einen, die alt und scheinbar lebenssatt gestorben sind, die Familie, Haus und Beruf hatten – womöglich alles, wonach man sich sehnen kann. Andere, die zu früh starben, in deren Leben vieles offen geblieben ist. Und wieder andere, die auf der Suche waren, rastlos, deren Leben vielleicht weniger einen roten Faden als viele kurze Kapitel hatte… Manche mehr, manche weniger glücklich, erfolgreich oder geliebt.

Heute, wenn wir die Namen unserer Toten vor Gott bringen, kann es uns im Glauben ein Trost sein, dass Gott seinen eigenen Blick auf sie und ihre Lebenswege hat. Dass er unsere Erfolge, unser Glück, unser Sehnen und Streben anders ansieht und beurteilt, als wir es können. Vielleicht gnädiger, vielleicht genauer, wahrscheinlich nach ganz anderen, als unseren menschlichen Maßstäben. Und wir können auch darauf vertrauen, dass sich bei Gott und durch ihn manches vollenden wird, was in unseren Augen Stückwerk geblieben ist.

Im Predigttext für heute, im Markus-Evangelium, spricht Jesus von einem Feigenbaum. An ihm könne man erkennen, welche Jahreszeit kommt: „An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis: Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist.“ (V. 28+29)

An einem Baum kann man ablesen, wann die Zeit der Reife, wann die Zeit der Ernte ist. Blüten, Blätter und Frucht, und dann das Fallen der Blätter im Herbst, die Kahlheit und Starre des Winters – auch dies wie Bilder für das menschliche Blühen, Reifen, Welken und Vergehen.

Aber Jesus geht es nicht nur um den Vergleich der Jahreszeiten oder Lebensalter, er zieht das Bild auf den Anbruch der kommenden Zeit, der Endzeit, die zugleich den Beginn von Gottes Zeit und seinem Reich markiert. Jesus, die ersten Christinnen und Christen glaubten, dass diese Zeitenwende unmittelbar bevorstand.

Wir heute, jedenfalls wir Christen, tragen die Hoffnung auf Gottes Reich noch immer in uns. Gegen den Augenschein, der manchmal erdrückend sein kann, gegen die Katastrophen und Kriege, Leid und Tod halten wir daran fest, dass Gott da ist, in dieser und in der kommenden, neuen Zeit.

Dann werden die Schmerzen vergehen und die Tränen von Gott abgewischt, so erzählt es die Bibel. Dann wird stark sein, was jetzt daniederliegt oder mit Füßen getreten wird. Gott wird lebendig machen und leuchten lassen, was jetzt tot ist.

Nur in Bildern lässt sich von diesen großen Hoffnungen reden, die uns tragen, wenn Trauer uns drückt und die Zuversicht schwindet.

„Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen“, (V. 31) sagt Jesus. Gottes Worte der Liebe und des Lebens werden bleiben und neu zum Leben erwecken, was nun schwach und sterblich ist. Wir wissen nicht Zeit noch Stunde, aber die Hoffnung hält uns wach. Die Hoffnung auf Gott, der neues Leben schenken kann in dieser Zeit und in Ewigkeit. Amen.