Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Das doppelte Lottchen

Das doppelte Lottchen

Literaturgottesdienst: Kinderbücher am 24. September
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Sonntag, 24. September 2023

Begrüßung & Einleitung

Herzlich willkommen zum dritten und letzten Literaturgottesdienst in unserer Septemberreihe zu Kinderbüchern. Nach Michael Endes „Unendlicher Geschichte“, die in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Furore machte, und nach „Rico, Oskar und den Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel, einem zeitgenössischen Kinderbuch-Beststeller, geht es heute um das „Doppelte Lottchen“ von Erich Kästner, erschienen 1949.

Dieses Buch wird seit bald 75 Jahren in der immer gleichen Aufmachung im Dressler-Verlag aufgelegt: Das Cover zeigt eh und je zwei blonde Mädchen Hand in Hand in weißen Blusen und roten Röcken auf einer grünen Wiese, im Hintergrund ein bayerisches Dorf mit Bergsee. Auch der Text ist natürlich unverändert – und mutet heute etwas altbacken an. Das merkt man nachher, wenn Johanna von Hammerstein als Lektorin einige Passagen für uns vorliest.

Neben dieser statisch anmutenden Buchgeschichte des „Doppelten Lottchens“, hat der Erzählstoff aber noch andere interessante Geschichten entfaltet:

Erich Kästner, geboren 1899 in Dresden, begann seine publizistische Karriere in der Weimarer Republik mit gesellschaftskritischen und antimilitaristischen Gedichten, Glossen und Essays. Er arbeitete auch als Drehbuchautor und Kabarettdichter. Als einer der ganz wenigen prominenten intellektuellen Gegner des Nationalsozialismus blieb er in Deutschland, obwohl seine Werke 1933 als „undeutsch“ diffamiert, verboten und verbrannt wurden.

Trotz Repressionen durfte Kästner unter Pseudonym im Nationalsozialismus weiter veröffentlichen. Er schrieb Drehbücher für einige Unterhaltungsfilme und hatte auch Einkünfte aus der Veröffentlichung seiner Werke im Ausland.

In dieser Phase schrieb er 1942 einen Drehbuchentwurf mit dem Titel „Das große Geheimnis“, in dem die Geschichte vom „Doppelten Lottchen“ angelegt ist. Im Nationalsozialismus war das Projekt wegen der darin geschilderten „undeutschen“ Familienverhältnisse nicht zu realisieren. Nach 1945 arbeitete Kästner den Stoff dann zu dem Roman „Das doppelte Lottchen aus“.

Schon bald wurde die Geschichte dennoch verfilmt. Zu Weihnachten 1950 erschien der erste Film, für den Kästner selbst das Drehbuch schrieb und die Rolle des Erzählers übernahm. Seither hat es mindestens 15 Neuverfilmungen gegeben, oft unter anderen Titeln, zum Beispiel: „Die Vermählung ihrer Eltern geben bekannt“, „Ein Zwilling kommt selten allein“ oder „Charlie & Louise“…

Der Plot – die Geschichte von Zwillingen, die getrennt werden und sich wiederfinden, von Eltern, die sich scheiden lassen, wegen ihrer gemeinsamen Kinder aber doch irgendwie kooperieren müssen, von Sehnsucht nach Freundschaft, Versöhnung und Familienfrieden – der bleibt anscheinend aktuell. Ganz egal, in welchen Städten, mit welchen Eltern, zu welchen Zeiten Kinder aufwachsen.

 

1. Lesung „Das doppelte Lottchen“, S. 8-10. 18-19

Lied: Wenn einer sagt, ich mag dich, du (Kindermutmachlied)

Predigtimpuls

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Wenn einer sagt: Ich mag dich, du…
Wenn eine sagt: Ich brauch dich, du…
Wenn eine sagt: Komm, geh mit mir…“

Wenn man das hört, dann könnte man spontan denken, man hat es mit Erich Kästner zu tun. Dessen Kinderbücher „Emil und die Detektive“, „Pünktchen und Anton“ oder „Das fliegende Klassenzimmer“ davon geprägt sind, dass Kinder zusammenhalten, einander ermutigen und helfen – und zwar meistens gegen Erwachsene.

Auch in den Eingangsszenen des „Doppelten Lottchens“ taucht dieses Motiv auf: Eine Gruppe von Mädchen – „Luise, Trude, Brigitte und die anderen Kinder“ (S. 8) – erwartet die Neuankömmlinge im Ferienlager. Luise ist schon Teil dieser Gemeinschaft – Lotte, die erst später dazukommt und außerdem viel zurückhaltender ist als ihre Schwester, noch nicht. Im Laufe der Geschichte wird auch sie in die quirlige, phantasievolle, abenteuerlustige Mädchengruppe integriert. Aber dann wird auch schon das Verwechselspiel der beiden eineiigen Zwillinge im Gange sein und beide Mädchen vollauf beschäftigen.

Bei ihrem ersten bewussten Aufeinandertreffen sind die Zwillingsschwestern, die kurz nach ihrer Geburt getrennt wurden, entsetzt: Da gibt es eine Doppelgängerin! Luise rennt erschrocken davon – Lotte geht still verwundert ihrer Wege.

Vollkommen zu Recht sind sie erschrocken, entsetzt, ins Mark getroffen. Wer möchte schon einer Kopie von sich selbst begegnen? Die eigene Identität, um die wir als Kinder wie als Erwachsene ringen, steht in Gefahr.

Noch am gleichen Abend entsteht jedoch ein zartes Band zwischen Luise und Lotte. Gesponnen aus Mitleid und Einfühlungsvermögen. „Schüchtern“, heißt es, streichelt Luise der ihr unbekannten Zwillingsschwester übers Haar. „Ganz langsam“ tastet Lotte im Dunkeln nach der streichelnden Hand (S. 19). Zwei Mädchen nehmen Kontakt auf, trösten einander und fassen Zuneigung.

Was bei Kästner sozusagen der Normalfall ist, der erzählte Idealfall, das ist in der Realität oft komplizierter und schwieriger. Vielleicht gerade bei Geschwistern, jedenfalls bei solchen, die sich kennen und zusammen aufwachsen. Die tagtäglich um Mama und Papa, um Zuwendung, Abgrenzung und Individualität kämpfen, die gemessen und verglichen werden.

Die Bibel erzählt im Blick auf Geschwister härtere Geschichten. Angefangen bei den ersten Brüdern Kain und Abel über Josef und seine Brüder bis hin zu den Zwillingen Esau und Jakob, bei denen der Zweite mit List und Tücke, mit kräftiger Unterstützung seiner Mutter und anscheinend mit Gottes Zustimmung dem Erstgeborenen den Segen stiehlt und den Rang abläuft.

Ein bekanntes biblisches Schwesternpaar sind Maria und Martha (vgl. Lk 10, 38-42). Als Jesus sie besucht und bei ihnen mit seinen Jüngern einkehrt, kümmert Martha sich sofort um alle praktischen Gebote der Gastfreundschaft und verschwindet in der Küche – das wäre in unserem Buch wohl Lottes Rolle, die des „Hausmütterchens“ (S. 18). Maria hingegen setzt sich selbstbewusst zu Jesus, hört ihm zu und nimmt am Gespräch teil. Jesus urteilt: „Maria hat das bessere Teil gewählt.“

Wie ein Keil kann diese Geschichte zwischen Schwestern oder Frauen liegen, die unterschiedliche Charaktere haben, unterschiedliche Berufe ergreifen oder in verschiedenen Milieus leben.

Luise und Lotte dagegen nähern sich in der Dunkelheit der Nacht an. Die mutigere Luise tröstet die eingeschüchterte, einsame Lotte. Daraus erwächst eine innige und auch gleichberechtigte Beziehung, die beide Mädchen ausgeglichener und auch stärker werden lässt: Luise gewinnt an Einfühlungsvermögen und Disziplin, Lotte an Mut und Neugier. Zusammen sind die unterschiedlichen Schwestern stark!

 

2. Lesung „Das doppelte Lottchen“, S. 60-63. 125-127

Lied: Fürchte dich nicht EG 607

Predigtimpuls

Als eine zweite Perspektive blickt Erich Kästner nach den Kindern auf die beteiligten Erwachsenen. Sie spielen bei ihm eigentlich immer die zweite Geige. Sie treten nicht nur seltener auf und bekommen weniger Raum, sie werden auch distanzierter betrachtet. Während Kästner sich in seine Kinderfiguren leicht hineinversetzt und sie so schildert, als wäre er selbst dabei, stellt er die Erwachsenen oft aus der Distanz und mit dem Blick von Erwachsenen dar, urteilend und wertend.

Da geht es dann, wie beim Vater der doppelten Lottchen, um Aussehen und Ansehen, um ein kompliziertes Innenleben und um solche hochgeschraubten Ansprüche an Selbstverwirklichung, dass man kichern könnte…

Luises und Lottes Mutter hingegen gewinnt Kontur im Gespräch mit der Lehrerin Fräulein Linnekogel. Die ältere, alleinstehende, berufstätige Frau kennt sich im Leben deutlich besser aus als die junge, gestresste Mutter. Für die Entstehungs- bzw. Veröffentlichungszeit des Buches zwischen Nationalsozialismus und Adenauer-Ära geradezu revolutionär sagt sie: „Die Frauen, die wirklichen“ – ein ironischer Seitenhieb auf das Frauenbild der Zeit – „nehmen ihre Männer zu wichtig! Dabei ist nur eines wesentlich: das Glück der Kinder!“ (S. 126)

Kästner wuchs selbst als Einzelkind berufstätiger Eltern auf. Zu seiner Mutter hatte er zeitlebens eine intensive, enge Bindung. Sie arbeitete als Dienstmädchen und Heimarbeiterin und wurde später Friseurin. In vielen Kinderbüchern ergreift er Partei für die Mütter. Für die schwer arbeitenden Frauen, die sich für das Wohlergehen ihrer Kinder krummlegen.

Kästner ist offen parteiisch. Das mag einem missfallen. Aber Fakt ist: auch heute sind etwa 85% der Alleinerziehenden in Deutschland Frauen. Fast 60% der Mütter verdienen weniger als 1.500 Euro monatlich, während nur etwa 15% der Väter in diese Einkommensklasse fallen. Kinder bedeuten für viele Frauen ein Armutsrisiko.

Auch wenn es in der biblischen Tradition nicht um Kinder im Sinne von Familie, Elternrollen oder Kindheit geht, weil es ein besonderes Verständnis von „Kindheit“ noch gar nicht gab, kennt die Bibel aber die Sorge und Liebe von Müttern und Vätern zu ihren Kindern. Sie schildert übrigens auch die Not von Müttern, die unehelich oder unversorgt ein Kind bekommen, siehe Hagar und ihren Sohn Ismael.

Ich denke bei den Müttern, die Kästner schildert, an die Geschichte eines Vaters, eines Synagogenvorstehers mit Namen Jairus, der Jesus so lange hinterläuft, bis der ihm endlich zuhört und ihm nach Hause folgt, wo die Tochter todkrank zu Bett liegt. „Mädchen, steh auf!“ sagt Jesus, heilt das Kind und erlöst die Eltern von ihrer größten Angst (vgl. Mk 5, 21-43).

Nicht zufällig beschreibt Jesus Gott als einen Vater, der seine Kinder so sehr liebt und so gut kennt, dass er ihnen alles gibt, was sie brauchen. „Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, noch bevor ihr ihn bittet“, sagt er (vgl. Matth 6, 8).

Nur dass nach Kästners Einschätzung Gott wohl eher mit einer Mutter zu vergleichen wäre…

 

3. Lesung „Das doppelte Lottchen“, S. 150-152

Lied: Gott gab uns Atem EG 432

Predigtimpuls

Die letzte Szene: der Blick durchs Schlüsselloch.

Lotte und Luise ist es gelungen, ihre Eltern zu ihrem Geburtstag am 14. Oktober zusammenzubringen. Die Scheidungsfamilie sitzt im Kinderzimmer, es gab ein Geburtstagslied, Kuchen und Kerzen. Geschenke haben die Zwillinge abgelehnt. Denn sie haben nur einen Wunsch: „dass wir von jetzt ab immer zusammenbleiben dürfen!“ (S. 150)

Die Sehnsucht der Mädchen nach ihrem Geschwisterkind. Nicht mehr Einzelkind zu sein, sondern eine Schwester zu haben. Verlässliche Beziehungen herzustellen, Zusammenleben, alltägliche Nähe.

Damit so etwas in Scheidungs- oder Patchworkfamilien gelingt, braucht es zwei vernünftige und liebevolle Elternteile. Zwei oder ggf. mehr Erwachsene, die bereit und fähig sind, ihren Kindern zuliebe einen Familienfrieden herzustellen. Sie müssen dazu nicht wieder ein Paar werden – so sehr das oft der Wunsch der Kinder ist. Aber sie müssen sich gegenseitig als Mutter, als Vater respektieren, Absprachen im Blick auf die Kinder aushandeln, Erziehungs- und Aufenthaltsregeln einhalten. Das fällt oft schwer! Aber wenn es nicht gelingt, leiden die Kinder darunter am meisten…

„Daumen halten“, flüstert Luise. Und Lotte fängt an zu beten (S. 152). Sie stehen vor der geschlossenen Tür; nebenan reden die Eltern. Sie hoffen, sie wünschen und sehnen sich mit aller Kraft. Aber für den nächsten Schritt, für einen Familienfrieden, die Erlösung der Mädchen braucht es die Erwachsenen.

Luise und Lotte betend an der verschlossenen Tür – das erinnert mich an Noah und seine Frau, seine Söhne und deren Familien in der Arche (vgl. 1. Mose 6-9). Die mit Pech verschlossen auf den Wassern der großen Flut dahintreibt. Niemand weiß, ob und wann man jemals wieder sicheres Land betreten, festen Boden unter die Füße bekommen wird.

Anders als von Jona, der im dunklen Walfischbauch um Errettung betet, wissen wir nicht, ob Noah mit seiner Familie in der Arche gebetet hat. Ob sie Worte fanden, um ihrer Not Ausdruck zu geben? Ob sie sich überhaupt an Gott wenden mochten, sich von ihm Hilfe versprachen? Worauf ihre Sorgen und Wünsche wohl gerichtet waren?

Auch Luise und Lotte sind nicht im Beten geübt. Soll ihnen alles gesegnet sein, was die Erwachsenen ihnen beschert und aufgetischt haben? Sollen sie brav und widerspruchslos, wie ein Gottesurteil, annehmen, was die Erwachsenen entscheiden?

Sicher ist, sie werden – wie Noah – jubeln, wenn ihnen ihr sehnlichster Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben gewährt wird. Wenn es neues Leben für ihre schwierige Familie gibt, Perspektiven und Zukunft. Ob mit oder ohne Regenbogen.

„Es passt nicht“, stellt Luise entmutigt zu ihren Gebetsversuchen fest. „Aber mir fällt nichts anderes ein.“ (S. 152)

So kann es auch uns manchmal gehen: Dass wir nicht sicher sind, wie wir zu Gott sprechen und beten sollen… Welche Gebete wohl überhaupt erhört werden?! Oder dass wir nicht genau wissen, wie wir mit denen sprechen sollen, mit denen wir zerstritten sind, zwischen denen und uns Schweigen liegt.

Aber das Miteinander-Reden und Zu-Gott-Beten ist, denke ich, an sich wie ein Blick durchs Schlüsselloch. Ein Moment, wo es einen Ausblick, einen Lichtblick gibt – aus der Geschlossenheit des Kastens heraus, sei es die Arche Noah oder ein Kinderzimmer, seien es zerrüttete Beziehungen, Einsamkeit oder Streit.

Ein Blick in die Freiheit, in ein neues friedliches Leben. In der die Kleinen und Schwachen und vor allem die Kinder zu ihrem Recht kommen.

In diesem Sinne ist „Das doppelte Lottchen“ eine Geschichte, die mich immer wieder berührt, weil sie von der Sehnsucht, dem dringenden Wunsch erzählt zusammenzugehören. Schwierigkeiten, Streit und Trennung zu überwinden, vielleicht gerade in der Familie. Und sie erzählt auch davon, dass Kinder dabei überhaupt nicht machtlos sind! Amen.