Predigttext: 3. Mose 19
Und der HERR redete mit Mose und sprach: 2 Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott. 3 Ein jeder fürchte seine Mutter und seinen Vater. Haltet meine Feiertage; ich bin der HERR, euer Gott.
13 Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen. 14 Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten; ich bin der HERR. 15 Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten. 16 Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der HERR. 17 Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. 18 Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR.
33 Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. 34 Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
Wenn ich mit Konfirmanden, Schülerinnen oder Studierenden über die 10 Gebote spreche, dann nennen sie eigentlich immer zwei Gebote, die sie kennen: 1. Du sollst nicht stehlen und 2. Du sollst dir von Gott kein Bild machen. Beide Aussagen finde ich bemerkenswert. Denn die zuerst genannte Weisung steht gar nicht in den 10 Geboten! Da heißt es, man soll nicht begehren, was dem Nächsten gehört, aber da steht nichts von Stehlen oder Rauben. Ich vermute also, hier fügen die Jugendlichen etwas hinzu, das sie selbst stark beschäftigt – vielleicht der Reiz etwas zu klauen oder der dringende Wunsch, ein bestimmtes Kleidungsstück oder ein bestimmtes Aussehen oder auch eine bestimmte Freundin oder Freund zu „haben“. Und zugleich erkennen sie sinngemäß durchaus etwas Richtiges: Dass es in den 10 Geboten – wie auch in unserem heutigen Predigttext – darum geht, anderen Menschen nichts wegzunehmen oder vorzuenthalten – sei es ihr Besitz oder ihre Familienangehörigen, ihre Würde oder gar ihr Leben – sondern alle Menschen zu achten mit dem, was zu ihnen gehört.
Überraschend ist für mich immer wieder, wie tief das andere Gebot sitzt: Du sollst dir kein Bildnis machen (2. Mose 20, 4) Ich weiß nicht, ob es hier um besondere evangelische Prägungen geht oder um letzte Verankerungen im Monotheismus oder um die Auseinandersetzung mit muslimischen Mitschülerinnen und Nachbarn, denen unsere Jesus-Darstellungen sehr fremd sind … Das Bilderverbot sitzt! Bemerkenswert in unserer Zeit, in der so viele Bilder gemacht und angesehen werden, wie wohl nie zuvor!
Möglicherweise artikuliert sich im Festhalten am Bilderverbot gerade in unserer bildreichen Zeit ein Empfinden der Heiligkeit Gottes, seiner Unantastbarkeit und radikalen Unterschiedenheit zur Welt.
Als ich den Predigttext aus dem 3. Buch Mose in der Vorbereitung zu heute mir zum ersten Mal angeschaut habe, dachte ich: Das ist ja wie eine ausführliche Fassung der 10 Gebote! Aber je öfter ich den Text las, umso mehr erkannte ich, dass es ein ganz eigener, interessanter Text ist, vielleicht sogar schöner als die 10 Gebote.
„Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben.
Du sollst dem Tauben nicht fluchen
und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen,
denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten;
ich bin der HERR.
Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht:
Du sollst den Geringen nicht vorziehen,
aber auch den Großen nicht begünstigen,
sondern du sollst deinen Nächsten recht richten.
Du sollst nicht als Verleumder umhergehen.
Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben;
ich bin der HERR.
Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen.
Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren.
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst;
ich bin der HERR.“
Auch in der modernen deutschen Übersetzung des hebräischen Textes ist noch etwas von der Anschaulichkeit und Lebensnähe der Weisungen enthalten. Auch vom Rhythmus mit dem markanten Refrain: „Ich bin der HERR“ (vgl. V. 14. 16. 18), der den Eingangssatz aufnimmt, der wie eine Überschrift über dem Text steht: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott.“ (V. 2)
„Heilig“, auf Hebräisch kadosch, heißt ursprünglich so viel wie „ausgesondert, unterschieden, getrennt“ zu sein. Es bezeichnet das, was aus dem Alltäglichen herausfällt, sich vom Profanen unterscheidet.
„Das ist mir heilig“, sagen wir, wenn etwas für uns unantastbar ist. Die Kaffeepause am Nachmittag oder das Joggen am Wochenende, das alljährliche Familientreffen oder ein Konzertabo. Das lasse ich mir nicht nehmen, das darf niemand anrühren!
Und wenn viele von uns auch denken, dass es eigentlich vor allem Menschen sind, die uns heilig sind – so sagen wir es doch gewöhnlich nicht so. Die Vorstellung, dass Menschen „heilig“ sind, ist uns eher fremd und suspekt – aus gutem Grund.
Die Weisungen aus dem 3. Buch Mose setzen aber genauso ein: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“, sagt Gott.
Irgendeine menschliche Heiligkeit, wie auch immer wir sie uns vorstellen, wird abgeleitet von Gottes Heiligkeit. Sie kommt nie aus oder durch uns selbst, sondern hat etwas zu tun mit der Verbindung zu Gottes Anderssein, seinem Ausgesondertsein und Getrenntsein von der Welt und uns.
Heiligsein könnte in diesem Sinne heißen, sich an dem Gott zu orientieren, der anders ist als das, was wir ganz profan und alltäglich erleben. Könnte heißen, mein Handeln und Reden immer auch von außen, mit anderen Augen anzusehen, in einen selbstkritischen Abstand zu mir zu gehen und zu dem, was mir normal und alltäglich erscheint.
Wenn man die Weisungen des Predigttextes ansieht, dann steckt darin implizit jedenfalls viel Welt- und Alltagskritik. Es wäre ja sonst nicht nötig zu sagen:
„Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben.
Du sollst vor den Blinden kein Hindernis legen.
Du sollst nicht als Verleumder umhergehen.
Du sollst deinen Bruder und deine Schwester nicht hassen.
Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande,
den sollt ihr nicht bedrücken …“
So viele konkrete Hinweise! Ich vermute, jeder und jedem von uns fällt dazu etwas aus dem eigenen Leben ein: Wie schwer es im Alltag sein kann, wirklich immer gerecht und respektvoll zu sein, eine freundliche, unvoreingenommene Haltung zu bewahren, uns nicht alle Praktiken und Gewohnheiten unserer Zeit anzueignen …
Von einem älteren, erfahrenen Diakon, der jahrzehntelang mit Konfirmanden und Jugendlichen gearbeitet hat, habe ich gelernt, was ich nach dem Theologiestudium auch hätte wissen können: Die deutsche Aufforderung „Du sollst“ – oder in den 10 Geboten: „Du sollst nicht“ – lässt sich aus dem Hebräischen auch übersetzen mit: „Du wirst“ oder „Du wirst nicht“. Es sind eigentlich eher Zusagen als Ansagen, eher Verheißungen und Angebote als Gebote.
„Du wirst deinen Nächsten nicht unterdrücken oder berauben.
Du wirst nicht als Verleumderin,
als Spötter oder Hetzer umhergehen.
Du wirst deine Mitmenschen nicht hassen.
Du wirst nicht gegen das Leben deiner Nächsten auftreten.“
Gott zeigt uns eine Möglichkeit auf, spricht uns eine Haltung zu, die aus der Verbindung mit ihm entsteht. Mit seiner Heiligkeit, die ihn von der Welt unterscheidet.
Ihr werdet heilig sein – oder leben, denn ich bin heilig.
Ihr werdet anders leben, denn ich bin anders als diese Welt.
Mich packt zur Zeit der Wahlkampf in den USA und ich verfolge gespannt die Auftritte und Reden der Kandidaten und Vize-Kandidaten. Als Kamala Harris Ende Juli eine ihrer ersten Reden als Präsidentschaftskandidatin hielt, fiel mir eine Formulierung besonders auf. Sie sprach von den opportunities, die sich für das Volk auftäten, wenn die Demokraten die Wahl im November gewönnen: Bezahlbare Krankenversicherungen, strengere Waffengesetze, Verbesserungen im Bildungssystem …
Opportunities seien dies – Gelegenheiten oder Chancen. Im Unterschied, dachte ich, zu possibilities – Möglichkeiten.
Wir Deutschen haben oft einen zurückhaltenderen Zugang als die Amerikaner zu dem, was „opportun“ und nützlich ist, auch zu opportunities. Nur nicht zu schnell handeln, denken wir vielleicht, erst die Risiken abwägen und uns beraten. Possibilities bleiben jedoch leicht im Raum des Möglichen, bleiben gute Ideen und interessante Gedankenspiele, die jedoch nicht unbedingt umgesetzt werden.
Ich glaube, dass es bei den Weisungen, wie sie uns im 3. Buch Mose überliefert sind, eben weder um Gesetze geht – wer sollte sie auch durchsetzen? – noch um possibilities, sondern um opportunities. Wir sollen, wir werden, wir können jetzt anders leben. Das ist eine reale Chance. Wir können als Einzelne und als Gemeinschaft in unserer Lebenszeit anders mit Energie oder Nahrungsmitteln umgehen. Wir können anders mit Menschen mit Behinderung umgehen, anders mit Geflüchteten oder „Fremden“, wie es in der Bibel heißt. Wir können anders mit unserem eigenen Zorn, unseren Rachegelüsten, unserer Habgier oder Bequemlichkeit umgehen.
Opportunities, reale Chancen durch die Verbindung mit Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat und konkret geworden ist, damit wir sein Wesen umso besser verstehen und ihm näherkommen können.
Ob wir „heilig“ werden sollen oder können, weiß ich nicht. Aber dass wir anders sein dürfen und können, dass wir in der Suche nach unserem Gott, in unserem Ringen um ihn und in unserem Vertrauen auf ihn, anders werden – das ist uns eine Verheißung und auch ein Trost.
„Ich lebe und ihr sollt auch leben“ (Joh 14, 19), sagt Jesus, als Schwestern und Brüder in dieser und in der kommenden Zeit, in diesem Land und im kommenden Reich Gottes. Amen.