Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Gabriel Fauré (100. Todesjahr)

Gabriel Fauré (100. Todesjahr)

Predigt am 8. September
Gottesdienstreihe Jubiläen Berühmter Komponisten
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

15. So. n. Trin., 8. September 2024

Predigt zu Matthäus 6, 25–34 und Gabriel Fauré

Predigttext: Matthäus 6, 25–34

Ich sage euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? 26 Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie? 27 Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? 28 Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. 29 Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. 30 Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? 31 Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? 32 Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. 33 Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. 34 Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat. Amen.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!

„Die große Stille“ – Manche von Ihnen und Euch mögen sich an diesen Film erinnern, der 2005 auf dem Filmfestival in Venedig lief, mehrfach ausgezeichnet wurde und lange Zeit immer wieder einmal in deutschen Kinos gezeigt wurde. Der Film schildert das Leben der Mönche in der Grande Chartreuse, dem Mutterkloster des Kartäuserordens in einer einsamen Gebirgsgegend bei Grenoble. Die einsiedlerische Lebensweise der Mönche spiegelnd, wird in dem Film kaum gesprochen. Es gibt gar keine Filmmusik. Man hört das Läuten der Stundenglocke des Klosters, das Knistern von Feuer in einem Holzofen in einer Mönchszelle, vereinzelte Vogelstimmen in den Bergen und den Gesang der Mönche beim Stundengebet. Das erste gesprochene Wort im Film erklingt nach 20 Minuten Spielzeit.

Ein Film, der einen auf eine weite Reise mitnimmt – er dauert 170 Minuten – und in eine völlig andere Welt eintauchen lässt. Der eine große Faszination ausübt und – jedenfalls in manchen Menschen – die Sehnsucht nach Stille und Abgeschiedenheit weckt oder verstärkt. Der das Publikum nicht nur still, sondern auch innerlich ruhig werden lässt.

Wenn ich in diesen Tagen erzähle, dass ich nach Frankreich in ein Kloster fahre, werde ich oft gefragt: „In ein Schweigekloster?“ – Nein, ich fahre nicht in ein Schweigekloster. Aber ich höre aus dieser Frage die Sehnsucht nach Stille, Einkehr und Rückzug aus der Welt, die viele Menschen beschäftigt. Und ja, auch ich freue mich auf die Zeit der Stille und Einkehr in Gemeinschaft der Schwestern.

Gabriel Urbain Fauré, der 1845 in Pamiers am Fuß der Pyrenäen geboren wurde und 1924 in Paris starb, hat diese Frage geteilt. Offensichtlich nicht die Sehnsucht nach völliger Stille, aber die Sehnsucht nach Rückzug aus dieser Welt, nach anderen höheren, leichteren oder helleren Sphären. Er sagte: „Die Kunst und besonders die Musik haben für mich die Aufgabe, uns so weit wie möglich über die Wirklichkeit hinauszuheben.“ (vgl. https://www.deutschlandfunk.de/vor-175-jahren-geboren-wegweisend-fuer-die-franzoesische-100.html)

Als jüngstes von sechs Kindern eines Lehrers kam er schon als Neunjähriger nach Paris und wurde Schüler an der Kirchenmusikschule von Louis Niedermeyer, der berühmten, 1853 gerade wiedereröffneten „École Niedermeyer“. Er lernte unter anderem bei Camillle Saint-Saëns, mit dem er zeitlebens befreundet blieb. Als Organist, Chorleiter und Pianist machte er sich in Paris schnell einen Namen, vor allem auch in den Salons, wo man ihn als herausragenden Improvisator am Klavier, als Komponisten von über 100 Liedern und als freundlichen Mann, als Lehrer und Begleiter am Klavier verehrte.

Vom „Wagnerismus“, der damals in Frankreich den Ton angab, hielt er sich fern und suchte eigene Wege: Streng und klassizistisch in der Form – frei, weit ausholend und schwelgerisch in den Melodien. Manchmal an den Grenzen der Dur-Moll-Tonalität, bitter-süß, wie schwebend. Kammermusik interessierte ihn weit mehr als Orchesterwerke, deren Instrumentation er oft sogar anderen überließ.

Er unterrichtete eine Kompositionsklasse am Pariser Konservatorium, wo unter anderem Nadia Boulanger und Maurice Ravel bei ihm studierten. 1905 wurde er Direktor der Hochschule und stieß zahlreiche Reformen an, darunter eine gründliche Modernisierung des Lehrplans. Als er mit 75 Jahren die Leitung niederlegte, komponierte er weiter, und zwar sein einziges Streichquartett. Wie Beethoven fast ertaubt und im Alter mit seiner Familie sehr zurückgezogen lebend, schrieb er:

„Wenn ich nicht mehr da sein werde, werdet ihr hören, dass man von meinem Werk sagen wird: ‚Wie – das war alles?‘ Und vielleicht wird man es vergessen. Macht euch keine Sorgen und seid nicht traurig deswegen. Das hat alles keine Bedeutung: Ich habe getan, was ich konnte. Möge Gott darüber befinden.“ (s.o.)

Beeindruckend, wie kongruent Musik und Wesen bei Fauré wirken! Wie er die Welten, die er komponierend erschuf, auch in Worte zu fassen vermochte.

„Macht euch keine Sorgen und seid nicht traurig. Das hat alles keine Bedeutung …“

Dass wir heute, wo wir Musik von Fauré hören und an diesen großen Komponisten erinnern, den Predigttext zum 15. Sonntag nach Trinitatis aus dem Matthäus-Evangelium hören: „Sorgt euch nicht!“, ist Zufall. Es hat mit den Probenzeiten von Vokalwerk und Chor zu tun – der in 14 Tagen aus Bruckners Requiem singen wird – und geschah ohne Kalkül.

Aber mir hat die Musik von Fauré den Predigttext noch einmal neu erschlossen: Die Tendenz zur Weltflucht, zum Rückzug, die darin steckt. Sich keine Sorgen um Nahrung und Kleidung zu machen, sich selbst mit wunderschönen Lilien und unschuldigen Singvögeln zu vergleichen, von der Mühsal des Alltags abzusehen …

Diese schwebende, weltflüchtige Seite der berühmten Worte Jesu, die so ähnlich auch im Lukas-Evangelium überliefert sind, klingt in Faurés „Messe basse“ an, wenn er allein die Frauenstimmen und keine tiefen Männerstimmen erklingen lässt und auch bei der Orgel ganz auf den Bass verzichtet. In mittleren und hohen Lagen klingen die Sätze wie schwerelos. Man könnte sagen, ohne „Bodenhaftung“.

Dies ist eine Seite des biblischen Textes, in der aber auch Widerständiges steckt: Jesu Aufruf, sich nicht zu verstricken in den Niederungen des Alltags, sich von all dem Naheliegenden und Drängenden jedenfalls nicht binden zu lassen. Den Alltagssorgen und -mühen nicht die Macht über unser Leben zu geben. Zumindest das Sorgen – als Tuwort! – nicht noch selbst aktiv zu betreiben, sondern es loszulassen. Denn, wie der Text am Schluss realistisch und lakonisch feststellt: „Jeder Tag hat seine eigene Plage.“ (Matth 6, 34)

Gerade aus dieser Erfahrung heraus, dass Mühe und Plage das menschliche Leben wie von selbst begleiten, der Appell, sich an Lilien und Vögeln zu orientieren, die blühen und duften, fliegen und singen und sich geradezu selbstverständlich am Leben freuen oder sich dem Leben hingeben.

„Lilien-Momente“ nannte eine Kollegin solche Momente, in denen wir uns selbst und unsere Sorge loslassen. „Lilien-Momente“, die es auch in Betonwüsten und Klinikfluren, auch in Hetze und Lärm geben kann. Wo Farben oder Klänge, Berührung oder Stille uns unversehens herausheben und uns Gottes Gegenwart spüren lassen.

Schaut man in der Bibel, wo, in welcher Situation Jesus seine Lilien-Rede gehalten hat, fällt auf, dass die Passage im Kontext der Bergpredigt steht, wo er nach den Seligpreisungen eine Fülle ethischer Anweisungen gibt: Zum Ehebruch, zu Schwur und Rache, zum Spenden, Beten und Fasten … Und mittendrin dieses Wort: „Sorgt euch nicht! Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen!“ (Matth 6, 33)

Es kommt nicht auf jede einzelne Regel oder jedes Gesetz an. Es kommt nicht auf die Minute und nicht auf den Euro an. Es geht nicht nur um Alltagsbewältigung. Sondern um die Zukunft, die Jesus ankündigt, die Zukunft von Gott mit seinen Menschen. Eine andere Zeit, eine andere Welt, in der wir ganz aus dem Vertrauen auf Gott leben werden.

Man kann das Weltflucht nennen. Man kann es aber auch als „Welterweiterung“ beschreiben. Weil es nicht darum geht, vor negativen Gefühlen oder überwältigenden Problemen davonzulaufen, sondern aufmerksam, gespannt und auch tatkräftig auf etwas Neues, Anderes zuzugehen.

Mitunter braucht es die Distanz bzw. Distanzierung zur Wirklichkeit, die uns erst ermöglicht, eine neue andere Wirklichkeit zu sehen, sie uns vorzustellen oder ansatzweise zu erleben, während das Verharren in Alltagssorgen und die immer gleichen Gedanken uns eher lähmen und phantasielos machen.

So hat Jesus es mit seinen Jüngerinnen und Jüngern eingeübt, im Großen wie im Kleinen: Sie beharrlich ermutigt, sich für Gottes Zeit und Raum und Wirken zu öffnen, die für uns schon jetzt und hier erfahrbar sind, wenn wir uns trauen, ganz im Augenblick zu sein.

Musik ist von den Künsten vielleicht die Augenblicklichste. Sie lässt sich nicht halten und vergeht, sobald wir sie hören. Aber zugleich vermag sie uns wie keine andere Kunst zu helfen, in ferne Sphären einzutreten, in denen das Himmlische, Göttliche, Zukünftige auf flüchtige Weise schon ganz Wirklichkeit ist.

Auch Faurés Komposition „In paradisum“ aus seinem Requiem nimmt uns dahin mit: In eine andere Welt, zu den „Lilien-Momenten“ in diesem und im kommenden Leben. Amen.