Heikles Thema: Israel und die Völker
Gottesdienst am 4. August 2024
Heute also Israelsonntag!
„Denk‘ ich an Israel dann….“
… dann habe ich zuerst die aktuellen Bilder vor Augen: Netanjahu in den USA, Fotoshooting mit Biden und mit Trump. Krieg in Gaza im Süden, Krieg jetzt auch mit der Hisbollah im Norden? Oder sogar direkt mit dem Iran?
„Denk‘ ich an Israel“, dann steht unweigerlich der 7. Oktober im Raum. Die Terrororganisation Hamaz verübt den furchtbaren Anschlag auf Israel; ich sehe Bilder von Opfern und Verwüstung, Videos von Geiseln, die verschleppt werden. Und kann nur ahnen, was das für Israelis bedeutet, die hofften, in diesem Land ihren Zufluchtsort gefunden zu haben.
„Denk‘ ich an Israel“, dann kann ich natürlich nicht unsere deutsche Geschichte ausblenden, den Holocaust, der Millionen Juden das Leben gekostet hat, und Hunderttausende zur Flucht zwang, viele davon „zum Zion“.
„Denk‘ ich an Israel“, denke ich den Staat, der 1948 gegründet wurde und dessen Sicherheit deutsche Staatsraison ist, was immer das genau heißt.
„Denk‘ ich an Israel“, dann denke ich auch an die biblischen Geschichten, mit denen ich aufgewachsen bin und die die Grundlage meines Glaubens bilden: Ich denke an Jakob, der sich in einer nächtlichen Begegnung mit Gott rumschlägt und der dann diesen Namen erhält: „Israel“ – auf deutsch: der mit Gott kämpft. Ich denke an seine Nachkommen, die Israeliten, die Gott aus der Knechtschaft in Ägypten in die Freiheit führt, mit denen er am Sinai seinen Bund schließt, die er zu seinem Volk erwählt.
Wohl dem Volk, dessen Gott, der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat. (Psalm 33,12)
Wenn ich an Israel denke, dann gehen in meinem Kopf – und sicher nicht nur dort – die Gedanken und Bilder durcheinander, dann vermischt sich vieles, und dieses Gemisch kann ein ziemlich explosives werden, das wissen wir. Wenn wir heute Israelsonntag begehen und über Israel reden, sollten wir uns zumindest klar machen, wo sich religiöse und politische Fragen berühren und was zu unterscheiden ist: Das Verhältnis zum Judentum ist nicht gleich das Verhältnis zum Staat Israel. Israeliten sind nicht gleich Israelis. Und übrigens sind nicht mal Israelis gleich Israelis, wie die Demonstrationen dort zeigen.
Grenzen wir also das Thema ein: „Kirche und Israel“ – so heißt eigentlich die Überschrift über den heutigen Sonntag. Das zielt auf eine Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum. Das allein ist schon heikel genug. Schon da schleppen wir genug historischen Ballast aus der Kirchen- und Theologiegeschichte mit uns herum: Ich erlebe es immer wieder und noch heute, dass mir Konfirmandinnen oder auch erwachsene Gesprächspartner mit großer Überzeugung erklären, dass der Gott des Alten Testamentes ein strafender, richtender Gott sei, der des Neuen Testamentes, der sich in Jesus gezeigt hat, ein liebender und barmherziger. Dabei schwingt natürlich mit, dass in diesem Fall neu besser ist als alt. Dass das Alte überholt ist, abgelöst, aufgehoben.
Lange hat man das auch explizit so geglaubt und gepredigt, dass das Neue Testament – und Testament heißt ja nichts anderes als „Bund“, dass also der neue Bund in Jesus, den alten Bund, die alten Geschichten von der Erwählung des Volkes Israel abgelöst habe. In dieser Sichtweise hat das Christentum das Judentum beerbt oder noch radikaler: enterbt. Israels Heilsprivilegien seien ganz auf die Kirche übergegangen: Seinen Namen und alle übrigen biblischen Verheißungen „reißt die Gemeinde Jesu Christi… an sich“. (Zitat eines Missionstheologen1)
Das fängt schon bei Paulus an: „Aber ihr Sinn wurde verstockt“, (2. Korinther 3,14) schreibt der Apostel über die Juden, die in Jesus nicht den Messias erkennen. Seine Briefe wurden oft so gelesen, dass sie einen Gegensatz aufmachen zwischen dem Gesetz unter Mose auf der einen und dem Evangelium, das Jesus gebracht hat, auf der anderen Seite. Natürlich kann man solche Passagen finden. Aber Paulus schreibt ja keine Dogmatik, also kein Werk, wo er seine Theologie allgemeingültig entwickelt, sondern er schreibt in eine ganz konkrete Situation hinein. Und an anderer Stelle, in anderer konkreter Situation schreibt derselbe Paulus, übrigens ein gesetzestreuer Jude, „Das Gesetz ist heilig, gerecht und gut.“ (Römer 7,12).
Trotzdem glaubte man Paulus und auch Luther auf seiner Seite, wenn man sich diesem Schema anvertraut hat: alter – neuer Bund, Gesetz – Evangelium, strafender – liebender Gott. Das ist schön einfach. Und einfach ist meistens attraktiv, aber meistens eben auch nicht ganz der Wahrheit entsprechend. Die Texte des alten und des neuen Testamentes geben diesen Gegensatz nicht her, und Jesu Botschaft schon gar nicht. Trotzdem hat diese Auslegung ein lange und unheilvolle Wirkungsgeschichte entwickelt und das ist ein Punkt, an dem sich religiöse Fragen mit politischen berühren, wo der implizite oder explizite Antijudaismus der christlichen Theologiegeschichte ungute politische Strömungen begünstigt hat, nicht erst und nicht nur im Nationalsozialismus, aber dort besonders.
In den Jahrzehnten nach der Shoa entwickelte sich in den Kirchen langsam ein neues Bewusstsein. Ein Bewusstsein für die bleibende Erwählung Israels. „Wir glauben, daß Gottes Treue über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.2“ schreibt 1950 die Synode der evangelischen Kirche in Deutschland. Aber es dauert lange, bis sich dieses Bewusstsein in den Kirchen und Gemeinden durchsetzt.
Und natürlich bleibt es schwierig. Wie predigen wir als Christinnen über jüdische Texte, so wie ich es heute tun soll? „Ich will euch retten, dass ihr ein Segen sein sollt“ – so steht es im 8. Kapitel bei Sacharja, das ja heute der Predigttext ist. „Diese Segensverheißung gilt allein Israel und darf nicht vorschnell auf alle Segensbegierigen übertragen werden.“ schreibt Bischof Ralf Meister dazu3. Und doch stellen wir uns hinein in diesen Segen, in diese Verheißung, in diesen Bund.
Und auch dieser Gedanke, dass sich die Verheißung über Israel hinaus für andere Völker öffnen könnte, findet sich nicht erst im Neuen Testament, sondern schon im sogenannten Alten, z.B. in dem Bild von der Völkerwallfahrt zum Zion in unserem Sacharjawort, wo es heißt:
Predigttext:
„So spricht der HERR Zebaoth: Es werden noch Völker kommen und Bürger vieler Städte, und die Bürger der einen Stadt werden zur andern gehen und sagen: Lasst uns gehen, den HERRN anzuflehen und zu suchen den HERRN Zebaoth; wir wollen mit euch gehen. So werden viele Völker und mächtige Nationen kommen, den HERRN Zebaoth in Jerusalem zu suchen und den HERRN anzuflehen. So spricht der HERR Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“ (Sachraja 8, 10–31)
Vielleicht ist das das passende Bild: Wir hängen am Rockzipfel der jüdischen Glaubensgeschwister, weil wir gehört haben, dass Gott mit ihnen ist.
Es ist wirklich ein prophetisches Wort, das wir heute nachlesen, mehr als 2500 Jahre, nachdem es geschrieben wurde. „Viele Völker und Nationen werden kommen, Gott in Jerusalem zu suchen“, schreibt Sacharja und zwar 500 Jahre, bevor Jesus in Jerusalem gekreuzigt wird und die Stadt damit zur Heiligen Stätte von Christ:innen, und ca. 1200 Jahre, bevor die al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg gebaut wurde. Ja, in Jerusalem suchen die Menschen nach Gott. Leider tun sie das oft nicht gemeinsam und nicht friedlich.
Auch bei Sacharja war das alles nicht so schön, wie es sich anhört. Seine Worte fallen in eine – heute würde man sagen – Zeitenwende. Die Juden und Jüdinnen, die vor mehreren Generationen ins Exil nach Babylon verschleppt worden waren, durften endlich in ihre Heimat – eben zum Zion zurückkehren. Es ist eine Zeit des gesellschaftlichen, politischen und religiösen Neuanfangs in Jerusalem. Und dieser Neuanfang ist alles andere als leicht. Die Häuser der Zurückgekehrten sind zerstört oder andere haben sie sich angeeignet. Überhaupt gibt es Konflikte zwischen den Zurückgebliebenen und den Zurückkommenden. Ins Exil war die Oberschicht verschleppt worden, aber man räumt den Rückkehrern nicht ohne weiteres wieder ihre alten Rechte ein. Die Wirtschaft liegt am Boden. Das Verhältnis zu den Nachbarvölkern, den ehemaligen Kriegsgegnern muss neu justiert werden, Erzfeindschaften können nicht einfach so weggewischt werden. Und Haggai, ein Prophetenkollege von Sacharja, beschwert sich darüber, dass jeder erst das eigene Häuschen bauen will und der Wiederaufbau des Tempels vernachlässigt wird.
Wir müssen uns vorstellen, Jerusalem ist zerstört, entvölkert, völlig bedeutungslos. Sicher kein Magnet für Völker aus aller Welt. Und der Ein-Gott-Glaube dieses bedeutungslosen Volkes wird in der polytheistischen und multireligiösen Umwelt eher als minderwertig beurteilt und misstrauisch beäugt. In dieser Situation entwirft Sacharja mit seiner Vision ein absolutes Gegenbild zu der Wirklichkeit, die die Menschen gerade erleben. Als ob sich zehnmal so viele an den jüdischen Rockzipfel hängen wollten! Es ist ein Wunschdenken und doch ist es mehr als das: Ein Hoffnungsbild, eine Verheißung, Ausdruck der Zuversicht, dass die Zeit des Heils kommen wird.
Wenn ich heute nach Israel schaue – und ja, jetzt mische ich wieder politische und religiöse Fragen – wenn ich heute an Israel denke, dann scheint mir ein Sacharja so nötig wie nie: Einer der ein Heilsbild entwirft, das die realen Verhältnisse völlig umkehrt. Ein Hoffnungsbild von Israelis und Palästinensern, die in Frieden beieinander wohnen, eine Zeit ohne Hamaz und Hisbollah, ohne Hass und Angst, wo Menschen gemeinsam zum Zion kommen, sich Jerusalem teilen, um Gott anzubeten. Das ist die Herausforderung in unserer krisenhaften Welt: Nicht zu resignieren, sondern Worte des Trostes und der Verheißung zu finden, Visionen einer guten Zukunft zu besingen: „Hinneh ma tow – Schön ist’s, wenn Brüder und Schwestern friedlich beisammen wohnen.“
Unmöglich? Total weltfremd? Sicher!
Und ich zitiere noch ein letzte Mal Sacharja:
„So spricht der HERR Zebaoth: Selbst wenn das dem Rest dieses Volkes in dieser Zeit unmöglich scheint, sollte es darum auch mir unmöglich scheinen?, spricht der HERR Zebaoth.“
Und der Friede Gottes, der eben höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
1Walter Hosten zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Judenmission
2https://de.wikipedia.org/wiki/Judenmission
3Ralf Meister, Predigtstudien, Perikopenreihe VI, Zweiter Halbband 2023/2024 S. 123