Predigttext: Galater 2, 16–21
Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch gerecht. 17 Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, sogar selbst als Sünder befunden werden – ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne! 18 Denn wenn ich das, was ich niedergerissen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter. 19 Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. 20 Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. 21 Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!
„Weil wir wissen, dass der Mensch
durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird,
sondern durch den Glauben an Jesus Christus …“ (V. 16)
So beginnt der Predigttext heute aus dem Galaterbrief. Der Brief von Paulus an die Gemeinden in Galatien, heute in etwa Anatolien, in denen jüdisch geprägte Missionare dazu aufriefen, auch im neuen christlichen Glauben an der Tora festzuhalten, das heißt an den fünf Büchern Mose und den darin enthaltenen Vorschriften und Gesetzen.
„Weil wir wissen, dass der Mensch
durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird,
sondern durch den Glauben an Jesus Christus …“
Wir evangelische Christinnen und Christen, allzumal in den lutherischen Kirchen, „wissen“ das, sollten es zumindest wissen oder schon einmal davon gehört haben:
„Der Mensch wird gerecht nicht durch die Werke des Gesetzes,
sondern allein durch den Glauben.“ (Röm 3, 28)
Wie hier im Römerbrief und zuvor schon im Galaterbrief, so wiederholte es der Apostel Paulus wieder und wieder. Denn die Frage nach dem Umgang mit dem jüdischen Gesetz, der Tora, war für die ersten, vor allem für die jüdisch geprägten Christen essentiell. Sollten die ihnen vertrauten Regeln im religiösen, im sozialen, finanziellen und gesellschaftlichen Bereich Geltung behalten – oder nicht? Sollten also zum Beispiel der Sabbat als Gottes Ruhetag, der Schuldenerlass nach sieben Jahren, die koschere Essenszubereitung oder die Opfer im Jerusalemer Tempel beibehalten werden? Oder sollte all dies denen, die sich zum sog. neuen Weg, zu Jesus Christus bekannten, freigestellt sein?
Und vielleicht noch wichtiger die Frage: Was trug das Befolgen oder Nicht-Befolgen der Regeln für den Glauben, für die Beziehung zu Gott aus? Was macht das für Gott und mich?
Was macht es für mich, wenn ich mich an bestimmte überlieferte Traditionen, Übereinkünfte oder Gesetze halte – oder nicht? Was macht das mit uns?
Es gibt Menschen, die lieben es, sich an Regeln, Rituale und Routinen zu orientieren. Die finden Gesetzestexte und Vereinbarungen einleuchtend oder sogar interessant, die bewegen sich mehr oder weniger eng und gerne im Rahmen von Regeln. Uns Deutschen wird nachgesagt, dass wir einen Hang dazu hätten mit dem, was daran pedantisch und kontrollierend nerven kann, wie mit dem, was daran funktional und verlässlich ist.
Andere Menschen brauchen es geradezu, immer wieder Regeln zu brechen, die Norm, die Vorgabe oder Tradition zu sprengen, weil dies zu ihrem Selbstbild und zu ihrer Auseinandersetzung mit ihrer Familie oder Umwelt gehört.
Und dann gibt es solche, die stellen sich selbst über das Gesetz. Autokraten und Despotinnen im Großen wie auch im Kleinen, denen nur ihre eigenen Bedürfnisse heilig sind.
Wie ich mich zu Gesetzen verhalte – auch zu religiösen Traditionen und sozialen Konventionen – das erzählt, denke ich, zumindest in unseren westlichen Gesellschaften davon, wie ich mich in Bezug zur Gemeinschaft verstehe. Natürlich ließe sich dazu noch mehr sagen. Aber positiv gesagt können gemeinsame Rituale und Regeln Gemeinschaft stärken. Wir hier erleben das vielleicht gerade …
Die Frage, die daraus im Duktus der paulinischen Texte folgt, lautet: Glauben wir, das heißt halten wir es für möglich, dass unser Handeln – ob regeltreu oder regelwidrig – in irgendeiner Weise Auswirkungen auf unsere Gottesbeziehung hat?
Ich muss bei dieser Frage immer an eine ältere Frau denken, die auf der allerersten Pilgerreise dabei war, die ich angeboten habe. In einem Gespräch über Gemeinschaft und praktische Nächstenliebe sagte sie leicht errötend und verschämt: „Also, ich glaube schon, wenn ich anderen helfe, dass mir das zwei, drei Sternchen im Himmel bringt!“ Wir anderen in der Gruppe lächelten – aber zugleich verstummten wir auch, denn in ihren Worten wurde für uns alle auf berührende Weise deutlich, in welch einer engen Beziehung Ingrid zu Gott lebte, wie sie ihr alltägliches Leben ganz klar auf Gott bezog.
Manche unter uns hier mögen so ähnlich denken oder fühlen wie sie: Dass Gott doch wohl hoffentlich irgendwie sieht oder mitbekommt, ob ich anderen helfe, etwas von meiner Zeit, meiner Kraft, meinem Geld für andere opfere, ob ich mich für die Gemeinschaft oder die Schöpfung einsetze …
Andere tun dies sozusagen für sich selbst, für ihr eigenes Karma oder ihr individuelles gelingendes Leben, so wie es die psychologischen, philosophischen oder spirituellen Ratgeber in unserer Zeit und Kultur propagieren, die in etwa sagen: Menschen, die sich engagieren, die persönliche Beziehungen pflegen, die sich um Pflanzen oder Tiere kümmern, sind glücklicher. Vielleicht leben sie sogar länger oder leiden weniger unter Depressionen.
Bei diesem, in unserer Gesellschaft so verbreiteten Ansatz endet der Horizont unseres Handelns bei uns selbst, bei meinem eigenen Lebensgenuss, meiner persönlichen Lebensgestaltung, meiner irdischen Lebensgrenze.
Die christliche Tradition, wie die jüdische und die muslimische Tradition, fragt dagegen nach der Beziehung zu Gott, spannt den Horizont unseres individuellen Lebens viel weiter auf: Zu unseren Mitmenschen hin, zur Schöpfung, zu Gott. Sie stellt uns als Menschen mit unserer Ethik zwischen Himmel und Erde.
Paulus nun vertritt – wie nach ihm prominent Martin Luther – vehement die Auffassung, dass nicht so sehr unser Handeln als unser Glaube an Jesus Christus den Ausschlag für unsere Beziehung zu Gott gibt.
„Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.
Denn was ich jetzt lebe im Fleisch,
das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes …“ (V. 20)
Der Glaube an Jesus Christus nicht als ein verbales Bekenntnis oder die Überzeugung bestimmter Glaubenssätze, nicht als eine Angelegenheit des Redens oder Denkens – sondern als eine veränderte Existenz. Sie galt für Paulus zunächst aufgrund des öffentlichen Bekenntnisses und Gebetes zu Jesus Christus, Und sie gilt seit dem Urchristentum bis heute durch die Taufe.
„Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“
In-Christus-Sein, Christus-Angezogen-Haben, eben ein Christ, ein Christus-Mensch zu sein, das ist ein Geheimnis. Eine Verwandlung, die nur im Glauben zu fassen ist. Die aber wichtiger, prägender ist als die Frage nach einzelnen Gesetzen oder Ritualen, die ich in meinem Alltag befolge oder nicht.
In-Christus-Sein heißt, schon in diesem Leben, in dieser Zeit etwas von dem zu leben, aus dem heraus zu leben, was uns verheißen ist: Das zukünftige Reich Gottes, ein neuer Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit und Frieden wohnen (vgl. 2. Petr 3, 13). Sozusagen zwischen unserer Gegenwart und einer möglichen Zukunft zu leben, in dieser und schon in der verheißenen Zeit.
Davon erzählt für mich zum Beispiel das „West-Eastern Divan Orchestra“ unter der Leitung von Daniel Barenboim, das in diesen Tagen sein 25-jähriges Bestehen feiert. Das Symphonieorchester besteht zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikerinnen und Musikern. Jüdische und muslimische, europäische, arabische und amerikanische Musiker spielen zusammen, erschaffen gemeinsam großartige Klänge, bilden einen Klangkörper, fliegen gemeinsam um die Welt, essen an einem Tisch, diskutieren und hören einander zu. Sie sind nicht immer einig, aber sie bleiben zusammen. Sie leben gegen den Hass, die Hetze, den Krieg, durch die wir Menschen uns aneinander und an Gott versündigen. Sie sind nicht ganz von dieser Welt. Sie musizieren, reden und handeln – ob Muslime, Juden oder Christen – aus dem heraus, was jetzt nicht ist – was zur Zeit in Israel und Gaza überhaupt nicht ist! – woran sie aber glauben und festhalten: Verständigung, Mitmenschlichkeit, Frieden.
Das mag für uns ein Bild dafür sein, wie es gehen kann, in dieser Zeit schon in der kommenden Zeit, in uns selbst in Christus zu leben.
Paulus schreibt: „Ich werfe die Gnade Gottes nicht weg.“ (V. 21)
Nein. So fern die Gnade Gottes uns in unserer Zeit auch erscheinen mag, so fern Liebe, Gerechtigkeit und Frieden auch scheinen mögen – lasst uns an Gottes Gnade festhalten! Sie anziehen, ihr glauben, aus ihr heraus leben.
Denn im Glauben an Gottes Gnade oder Liebe sind wir „in Christus“. Leben wir jetzt schon im Vertrauen auf das, was erst noch kommen wird. Und hier und da vielleicht auch durch unsere Werke und Worte. Amen.