Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Jetzt ist es schwer

Jetzt ist es schwer

Predigt am 19. März
Reihe Neue Passionslieder
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Sonntag Lätare, 19. März 2023

Predigt zu Johannes 12, 24 und dem Passionslied „Jetzt ist es schwer“

Bibeltext: Johannes 12, 24

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt,
bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.

 

Liedtext: Jetzt ist es schwer

1. Jetzt ist es schwer. Du, Herr, bist mehr.
Du sagst, es fällt ein Korn tief in die Erde,
damit es groß und blühend werde.

2. Jetzt ist es schwer. Du, Herr, bist mehr.
Du sagst, ich bin bei euch, weil ich jetzt gehe.
Ich will, dass ich euch wiedersehe.

3. Jetzt ist es schwer. Du, Herr, bist mehr.
Du sagst, ich bin im Geist an allen Orten.
Ich bin bei euch in euren neuen Worten.

(Text: Gertrud-Marianne Schendel; Melodie: Christiane Schmidt, 2010)

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war da kommt!

„Jetzt ist es schwer. Du, Herr, bist mehr…“

Diese zwei kurzen Sätze, einfach gereimt, fassen eigentlich alles zusammen, worum es in Jesu Leiden und Tod geht. Oder sie deuten es an: Das Leid, den Schmerz, den Jesus an dieser Welt gelitten hat, das Schwere – und zugleich das „Mehr“, das Andere und Neue, das in seinem Leiden schon mitenthalten ist, sich aber erst später zeigen wird. Jesu Passion, die nicht in Schwere und Dunkelheit aufgeht, sondern unsichtbar eben noch „mehr“ und anderes enthält.

Das Lied „Jetzt ist es schwer“, das 2010 den 3. Preis des Passionsliederwettbewerbs gewann, den die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck ausgeschrieben hatte, stammt dem Text nach von einer Frau, die wohl beides kennt.

Gertrud-Marianne Schendel, Jahrgang 1956, stammt aus einer katholischen Familie in Dortmund. Sie studiert zunächst katholische Theologie in Münster, arbeitet als Pastoralreferentin, dann als Dozentin an der katholischen Fachschule für Gemeindedienst in Hildesheim. Sie promoviert in Praktischer Theologie – und beginnt dann drei Jahre später das Studium der evangelischen Theologie in Göttingen. Sie macht das Vikariat in der Hannoverschen Landeskirche, wird ordiniert und arbeitet seither als evangelische Pastorin und Liederdichterin.

Ich kenne sie nicht persönlich, aber ihr Name ist mir immer wieder begegnet. Ich weiß nicht im Einzelnen, welche Fragen und Konflikte sie umgetrieben haben. Aber ich vermute, dass man nicht nur aus Spaß ein zweites Theologiestudium absolviert. Ich weiß, dass sich die meisten Menschen mit einer Konversion vom evangelischen zum katholischen, oder vom katholischen zum evangelischen Glauben nicht leichttun. Ganz besonders dann nicht, wenn sie in einer der beiden Kirchen verwurzelt und längere Zeit tätig waren.

Es ist schwer, die Konfession oder den Glauben zu wechseln. Ähnlich schwer wie auszuwandern oder im Alltag in einer völlig anderen Sprache zu reden.

Welche konkreten Gründe auch immer dazu geführt haben mögen, dass Gertrud-Marianne Schendel die katholische Kirche verlassen, evangelische Theologie studiert und dann in der evangelischen Kirche gearbeitet hat – es wird schwer gewesen sein. Ein schwieriger Entschluss und ein großer Schritt. In der Mitte des Lebens ein Aufbruch aus der ihr vertrauten Glaubenssprache, der auch Reaktionen aus der Familie, ihrem beruflichen und dem kirchlichen Umfeld hervorgerufen haben wird.

Zugleich wird sie gewusst haben, dass „der Herr“, wie es in ihrem Passionslied heißt, „mehr“ ist. Dass Jesus nicht aufgeht in den Traditionen, Hierarchien und Regeln, die sie von klein auf kannte. Dass Jesus mehr ist als unseren kirchlichen Prägungen und Rituale. Und dass Jesus Menschen schon immer herausgerufen hat aus den Ordnungen und Beziehungen, in denen sie zuvor lebten.

Das gilt für die ersten Jünger, Andreas und Simon, Johannes und Jakobus, die ihre Familien und ihre Fischerboote zurückließen, genauso wie für die Zöllner, Kranken und Prostituierten, die ihr früheres Leben hinter sich ließen. Gesettelte und Ungesettelte, sozial Geachtete und Geächtete sind Jesus gefolgt: „Du, Herr, bist mehr!“

Mehr als unsere Familien – auch wenn wir sie lieben. Mehr als unsere Prägungen, Hautfarben, Muttersprachen. Mehr als unser Ansehen und Einkommen.

Sich aber rufen zu lassen und aufzubrechen, ist immer ein Wagnis. Das irritierende Gefühl, die ungemütliche Frage in meinem Leben zuzulassen: Bin ich hier richtig? Wonach suche ich? Wo gibt es für mich „mehr“, so etwas wie erfülltes Leben? Diese Fragen sind riskant.

Man kann Jesu Passionsgeschichte, seine Auseinandersetzungen mit der religiösen und politischen Führungsschicht, seine Liebe und Hingabe so lesen, als sei Jesus selbst auf der Suche nach dem Reich Gottes, nach erfülltem Leben gewesen. Als habe er gesellschaftliche Ordnungen und Schranken aufbrechen wollen, um die Tiefe des Lebens und die Weite der Liebe wirklich zu spüren. Als habe er die Macht der umfassenden Liebe Gottes in der Welt Wirklichkeit werden lassen oder sie eben „inkarnieren“, Fleisch und Blut werden lassen wollen.

Diese Suche, dieser Weg hat Jesus unweigerlich in Konflikte mit dieser Welt und ihren Menschen geführt. Aber sie haben ihn nicht von seiner Verbundenheit mit Gottes Liebe abgebracht. „Jetzt ist es schwer. Du, Gott, bist mehr.“ So oder so ähnlich mag Jesus bisweilen selbst gedacht haben. Wissend um das Mehr- und Anderssein Gottes, eine andere Leidenschaft und Liebe, eine andere Gerechtigkeit, eine neue Zukunft…

Das Gleichnis vom Weizenkorn, das in die Erde fällt und im Dunkeln verborgen liegt, bis es sprießt und wächst und Frucht bringt, ist ein Bild, mit dem Jesus selbst sein Leben, seinen Weg gedeutet hat. Das ihm geholfen haben mag, sich und seinen Auftrag zu verstehen.

Und ich denke, es kann auch zu uns ziemlich unmittelbar sprechen:

Das Bild vom Weizenkorn erzählt von der Dunkelheit, dem Stillstand, der Schwere, die mitunter ihre Zeit braucht, bis neues Leben entstehen kann. Wie man den Winter aushalten muss, bis ein neuer Frühling kommt.

Wie gestern eine Frau auf dem Pilgerweg an der Elbe entlang erzählte, dass große Umbrüche hinter ihr lägen. Abschied und Umzug, eine krankheitsbedingte Pause, in der sie nicht wusste, wie es weitergeht. Und nun wird sie im Sommer eine neue Stelle antreten und es hat sich ein Enkelkind angekündigt. Plötzlich erscheint ihr Leben ihr wie ein Garten, in dem Neues wächst. Er lag brach, aber nun sprießt es aufs Neue.

Ich denke an die Älteren und Jüngeren, die in den letzten Wochen ihren Vater oder ihren Mann, ihre Mutter oder ihre Tochter verloren haben. Hier in unserer Gemeinde und auch an anderen Orten. Wie das Leben entsetzlich still und leer werden kann, und man manchmal gar nicht weiß, ob und wie es jemals weitergehen wird… Aber dann finden sich andere Menschen, die helfen und trösten, die die Wege der Trauer mitgehen, Tränen aushalten und Schmerz mittragen. Und ihre eigenen Erfahrungen teilen, wie man mit Trennung und Tod leben kann, wie Neues werden kann.

Ich habe beim Text vom Weizenkorn auch an ein ganz anderes Bild gedacht: Vor einigen Jahren, auf der Hochzeit meines Patensohnes, wurde abends ein großes Lagerfeuer gemacht. Alle Gäste bekamen ein Papierherz und Stift und sollten aufschreiben, was sie dem Brautpaar wünschen. Als das Feuer hoch brannte, stand einer nach dem anderen auf, warf das zusammengefaltete Herz in die Flammen und rief laut seinen oder ihren Wunsch: Ewige Liebe – viele Kinder – Zeit zu zweit – Frieden für euch und eure Familie und alle Menschen…

Mich hat dieses Ritual zuerst befremdet. Ich dachte, man sollte die Wünsche doch lieber gut hüten und aufbewahren. Aber je länger wir da saßen und standen und ich die lauten Wünsche hörte und die Feuerflammen und -funken gegen den schwarzen Nachthimmel sah, umso mehr bekam ich ein Gefühl dafür, dass wir unsere Wünsche eben auch loslassen müssen. Dass sie sozusagen auf die Reise gehen, sich verwandeln und ihre eigene Gestalt gewinnen müssen, während wir nur darauf vertrauen können, dass Gutes aus dem wird, was wir nicht halten oder bestimmen können: Glück, Liebe, erfülltes Leben…

Noch wissen wir nicht, was wird – und das ist manchmal schwer. In beruflichen oder in familiären Fragen, in der Liebe oder im Alter, auch in gesellschaftlicher, politischer Hinsicht. Aber darauf zu hoffen, daran zu glauben, dass in und durch Jesus Christus „mehr“ ist und „mehr“ werden kann als das, was wir uns jetzt vorstellen können – das zeichnet uns als seine Gemeinde wohl aus.

„Wir sind Protestleute gegen den Tod“, hat der evangelische Theologe und Politiker Christoph Blumhardt schon Ende des 19. Jahrhunderts gesagt. Und hat sich seinerseits für Benachteiligte, Kranke und Arme eingesetzt.

„Protestleute gegen den Tod“ – denn nicht der Tod hat im Glauben das letzte Wort über unser Leben. Sondern der Sonnenaufgang, der neue Tag, die neue Frucht. Amen.