Kraft aus der Höhe
Christi Himmelfahrt, 18. Mai 2023
Predigttext Lukas 24, 44 –53
Jesus sprach aber zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose und in den Propheten und Psalmen. 45 Da öffnete er ihnen das Verständnis, dass sie die Schrift verstanden, 46 und sprach zu ihnen: So steht’s geschrieben, dass der Christus leiden wird und auferstehen von den Toten am dritten Tage; 47 und dass gepredigt wird in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern. Von Jerusalem an 48 seid ihr dafür Zeugen. 49 Und siehe, ich sende auf euch, was mein Vater verheißen hat. Ihr aber sollt in der Stadt bleiben, bis ihr angetan werdet mit Kraft aus der Höhe.
50 Er führte sie aber hinaus bis nach Betanien und hob die Hände auf und segnete sie. 51 Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel. 52 Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude 53 und waren allezeit im Tempel und priesen Gott. Amen.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
Vor einigen Jahren besuchte eine Freundin von mir einen Gottesdienst in New York. Die Gemeinde war pfingstlerisch geprägt, überwiegend von people of colour besucht. Manches war an dem Gottesdienst anders als bei uns, aber die erstaunlichste Erfahrung war für sie eine Segnung:
Auf dem Weg zum Abendmahl kamen alle Besucher an vier Mitwirkenden vorbei, die sie auf unterschiedliche Weise segneten: Einer legte die Hand auf, eine salbte mit Öl, einer sprach ein persönliches Segenswort, eine machte eine segnende Geste. Nacheinander wurden alle wie in einen „Segensstrom“ getaucht – so empfand sie es.
An diese Erfahrung musste ich denken, als ich den heutigen Predigttext las, die letzten Verse aus dem Lukas-Evangelium. Jesu letzte Worte an seine Jünger, bevor er „von ihnen schied und gen Himmel auffuhr“ (V. 51), wie es heißt.
Jesu Vermächtnis und Segen erreicht uns heute nicht durch vier verschiedene Gesten, sondern in Worten. Aber auch Jesus benennt bei seinem Abschied vier Segensquellen, die die Jünger nach seinem Weggang stärken werden:
Der Reihe nach heißt es im Text zuerst, dass Jesus ihnen das Verständnis für die Schrift öffnet (V. 45). Das, was für Jesus selbst Kraftquelle war und seine Beziehung zu Gott stärkte – die heiligen Schriften des Alten Testaments –, das sollen auch die Jünger, auch wir so verstehen können, dass es uns Kraft gibt. Gottes Wort, die biblischen Texte sollen uns zum Segen werden.
Für die meisten von uns ist die Lektüre der Bibel schwierig. Sie ist für uns heute gar nicht so leicht zu verstehen. Viele haben sich schon einmal vorgenommen, die Bibel von vorne bis hinten durchzulesen – und mussten spätestens im 4. Buch Mose kapitulieren … So ging es jedenfalls mir!
Nach meiner Erfahrung beginnt die Schrift dann als Quelle zu sprudeln, wenn wir sie gemeinsam lesen und hören. So, wie hier heute im Gottesdienst oder im Konfirmandenunterricht, im Theologischen Gesprächskreis am Dienstagvormittag oder im digitalen Gesprächskreis „Bildschirm, Bier & Bibel“ am Donnerstagabend. Im Austausch unserer vielfältigen Gedanken, Fragen und Assoziationen entfalten die Texte meistens viel mehr Kraft und Lebendigkeit.
Nach dem Gesprächskreis am Dienstag, wo wir gerade den 1. Korintherbrief lesen, sagte zum Beispiel eine Teilnehmerin zu mir: „Die Gespräche werden irgendwie tiefer, inniger. Wir erleben richtig was zusammen!“
Wir erleben – nicht immer, aber manchmal – die Kraft der Schrift: Segen, der durch sie strömt.
Als Zweites weist Jesus in seinem Abschied darauf hin, dass Christus, er selbst nach der Schrift „leiden und von den Toten auferstehen musste“ (V. 46). Er versteht sich selbst als die Mitte oder das Zentrum der Schrift, das wir für uns fassen sollen.
Wer sich auf Jesus bezieht, als Zentrum, als Eckstein oder Fundament in seinem Leben, der, die bekommt gewöhnlich einen anderen, wacheren, kritischeren Blick auf diese Welt. Jesu Eintreten für Gerechtigkeit und Gemeinschaft, sein Verzicht auf Besitz und jede Form von Gewalt – das bringt uns unweigerlich zum Nachdenken über unsere Lebensverhältnisse. Über unsere Welt mit ihren Werten, Hierarchien und Mechanismen.
Darin liegt eine Herausforderung, aber auch ein Trost und ein Segen: Glauben zu können, dass Gott uns ein anderes Leben, eine andere Zukunft verheißen hat, dass es auch ganz anders geht …
Im guten Fall öffnet uns Jesus die Augen für Alternativen. Er macht uns Mut, aus manchen Annahmen oder verbreiteten Normen auszusteigen und andere Wege zu gehen. Entscheidungen zu treffen, die am Gemeinsinn, an Hingabe und Verständigung orientiert sind.
Heute, am Vatertag, denke ich zum Beispiel an die Väter, die eine Zeitlang auf ihr volles Gehalt und Karrieresprünge verzichten, um Zeit mit ihren Babys und Kleinkindern zu verbringen. Ich denke an die Männer, die sich trauen, gesellschaftlichen oder familiären Erwartungen nicht zu entsprechen und die beispielsweise Erzieher, Friseur oder Altenpfleger zu werden. Das kann für sie und für uns ein Segen sein!
Die dritte Kraft, von der Jesus zum Abschied spricht, ist die „Buße zur Vergebung der Sünden“ (V. 47). „Buße“, das heißt vom griechischen Wort metanoia her „Umkehr“.
„Vergebung der Sünden“ – wir sind vielleicht manchmal allzu sicher, dass uns alles vergeben ist. Manche schlichten christlichen Sätze lauten ja so: „Gott liebt dich! Gott nimmt dich so an, wie du bist!“
Das ist einerseits richtig, aber andererseits enden viele biblische Geschichten damit, dass Jesus sagt: „Sündige jetzt nicht mehr! Ändere dein Verhalten!“
Für manche mögen es Lügen oder einseitige Schuldzuweisungen sein, an denen wir hängen, für andere Unterschlagung oder Habgier, für wieder andere eine Sucht … Ich denke, wenn wir in uns gehen und ehrlich mit uns selbst sind, ahnen wir, an welchen Punkten in unserm Leben wir umkehren und andere Wege einschlagen sollten – und dies im Vertrauen auf Gottes Vergebung und Kraft zum Neuanfang.
Und schließlich der vierte Hinweis in unserem Text: „Seid dafür Zeugen!“ (V. 48). Für die Kraftquellen der biblischen Tradition, für die Weite und Freiheit, in die Jesus uns ruft, für den Aufbruch aus unguten Zusammenhängen – dafür sollt ihr einstehen und Zeugen sein!
In allen Gemeinden der Nordkirche machen in den letzten Monaten viele Frauen und Männer neue Erfahrungen damit, was es heißt, öffentlich für die Kirche und den Glauben einzustehen. Als neue Kirchenvorsteherinnen und -vorsteher, die im Advent gewählt wurden, zeigen sich viele zum ersten Mal auf diese Weise öffentlich als Christinnen und Christen. Sei es im Stadtteil, wenn sie von Nachbarn oder beim Einkaufen mit Kirche identifiziert werden, sei es im Büro, wenn sie früher zu einer Sitzung in der Gemeinde aufbrechen müssen, oder gegenüber Architekten, Bankmitarbeitern, Restaurantbesitzerinnen oder Politikern, wenn sie für die Gemeinde aktiv sind und sprechen.
Ich bin gespannt, was sie, was ihr erzählen werdet von euren Erfahrungen, deutlicher, erkennbarer Zeugin oder Zeuge zu sein!
Und das gilt natürlich auch für alle, die ihre Kinder taufen oder konfirmieren lassen, die sich in der Kirche – und nicht nur im Standesamt – trauen lassen oder bei Gesprächen im Freundes- oder Kollegenkreis den Mund aufmachen und sich als Christen positionieren.
Vierfachen Segen verspricht uns Jesus. Vier Wege, auf denen wir Anteil an seiner Kraft aus der Höhe bekommen. Dass wir trotz Jesu Abschied von der Erde und seiner Himmelfahrt die Beziehung zu Gott nicht verlieren, sondern in Verbindung mit Gott, in Gespräch und Gemeinschaft bleiben, wie in einem „Segensstrom“.
Nach Jesu letzten Worten ist Segen nicht etwas, das wir passiv empfangen. Sondern Jesus ermächtigt, ermutigt uns, seinen Segen in unsere Welt und unseren Alltag hinein zu übersetzen.
So voller Kraft und Segen und Zuversicht mögen wir sein, wie die Jünger! Die mit „Freude“ (V. 52) nach Hause zurückkehrten, als Jesus in den Himmel aufgestiegen war. Gesegnet, um selbst ein Segen für andere zu sein. Amen.