Predigttext:
Johannes 12, 12-19: Einzug Jesu in Jerusalem
12 Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, 13 nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! 14 Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: 15 »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« 16 Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte. 17 Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. 18 Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. 19 Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.
Predigt:
Ein neuer Präsident zieht in seinen Amtssitz ein. Und was macht er? Er fährt nicht mit einer dunklen Limousine vor, sondern auf einem weißen Fahrrad. Entspannt radelt er durch die Straßen der Hauptstadt seines Landes. Passanten winken ihm freundlich zu. Vor diesem Machthaber muss niemand Angst haben. Er ist anders als andere Herrscher: einfach, authentisch, nahbar.
Die Szene ist erfunden. Auf dem Fahrrad sitzt der Komiker und Produzent Wolodymyr Selensky. Gedreht wurde das Ganze für eine ukrainische Fernsehserie 2015. 2019 wurde er ganz real in das Amt des Präsidenten gewählt. Vielleicht hat sein Auftritt auf dem Fahrrad, die Demonstration eines machtkritischen Herrschaftsstils, ihm auch zu diesem Wahlsieg verholfen. Jetzt tritt er anders auf: Im olivgrünen Shirt und Tarnhosen fordert er eindringlich Munition, Panzer und Kampfjets. Er wirbt um Beistand gegen den Aggressor, der sein Land überfallen hat und es in Schutt und Asche legt. Gefangen in den Machtstrukturen dieser Welt bedient er sie demonstrativ mit seinen Videos. Würde er weiter friedlich auf seinem weißen Fahrrad durch die Straßen Kiews fahren, wären diese wohl längst russisch. Die Ukraine dem Mächtigeren ausgeliefert. Diese Bilder – Selensky auf dem Fahrrad, Selensky vor Panzern – zeigen ein beklemmendes Gegenüber von Sehnsucht und Wirklichkeit.
Genauso sprechend waren die Bilder damals beim Einzug Jesu in Jerusalem. Das war nicht einfach nur ein freundlicher Empfang für einen B-Promi, ein harmloses Winke-Winke für diesen Wundertäter vom Lande. Das war eine Demonstration auf den Straßen der Hauptstadt – aufgeladen mit politischen und religiösen Symbolen. Die Palmzweige waren schon in der Makkabäerzeit Symbol für den jüdischen Widerstand gegen die ausländischen Machthaber. Damals im 2. Jh vor Christus wehrten sich Teile der jüdischen Bevölkerung erfolgreich gegen die makedonische Fremdherrschaft. Die Römer – aktuelle Besatzungsmacht in Palästina zur Zeit Jesu – beobachteten sicher genau, was da am Stadttor von Jerusalem vor sich ging. Was damals die Palmzweige waren, wären heute wohl Flaggen und Plakate. „Schmeißt die Römer aus unserem Land!“ hätte darauf stehen können.
Und dann rufen die Menschen ihre Slogans und Parolen. „Hosiana!“ Das ist religiöse Sprache, Psalmensprache, aber absolut nicht harmlos. Der Hosiana-Ruf kann beides sein: Ein Flehen – „Hilf doch!“ – und gleichzeitig ein Jubelruf gerichtet an Gott oder einen König, dem man diese Hilfe zutraut. Hier wird also der messianische Retter, der neue König bejubelt, der den Menschen helfen soll. Die Masse, die da am Straßenrand steht, denkt ganz sicher an die verhasste römische Besatzung, an die repressiven Steuergesetze, die so viele Existenzen, vor allem auf dem Land, ruiniert, an die allgegenwärtige Militärpräsenz, die brutalen Antiterror-Operationen und politischen Schikanen. Die Hosiana-Schreie klangen damals nicht anders als die „Frau- Leben-Freiheit“-Rufe heute im Iran. Was sich da am Jerusalemer Stadttor abspielt, ist vergleichbar mit den Protesten auf den Straßen von Hongkong, Belarus oder Russland.
Klar also, dass die Mächtigen nervös werden. Johannes nennt stellvertretend die Pharisäer.: „Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet, alle Welt läuft ihm nach!“ sagen sie. Gegen Massen sind Mächtige machtlos. Vorerst. Aber sie werden Jesus natürlich nicht einfach machen lassen. Schon vorher haben sie zusammengesessen: die Schriftgelehrten, der Hohe Rat, die Pharisäer. Jesus untergräbt ihre religiöse Autorität. Sie sind die Experten für Glaubensfragen und da kommt dieser Wanderprediger vom Land und spricht ganz anders von Gott. Und die Leute lieben es. Seine spektakulären Wunder ziehen natürlich auch. Die jüdischen Autoritäten fühlen sich von Jesus bedroht. „Lassen wir ihn, so werden alle an ihn glauben und dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute.“ so heißt es in einer vorangehenden Szene. Religiöse und politische Fragen sind eng miteinander verwoben, sie sind nicht zu trennen. Wenn es zu solchen Szenen kommt, wie dort am Stadttor, dann besteht die Gefahr, dass die Schutzmacht der Regierung militärisch eingreift.
Menschen, die sich machtlos fühlen, aber über Macht verfügen, sind gefährlich – das demonstrieren die jüdischen Autoritäten in den nächsten Tagen: Sie schaffen es, einen aus dem engsten Umfeld von Jesus zu bestechen, ihn verhaften und hinrichten zu lassen. Der Unruhestifter wird an die Römer ausgeliefert und beseitigt. Es dauert gerade mal fünf Tage, so einfach geht das.
Mächtige, die sich machtlos fühlen sind gefährlich. Auch über Putin wird spekuliert, dass er mit seiner „militärischen Sonderoperation“ ablenken wollte von innenpolitischen Problemen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes. Oder sich bedroht fühlte von der Macht des Westens.
Mächtige, die sich machtlos fühlen, gibt es aber nicht nur in der großen Politik. Die Englischlehrerin, die erleben muss, dass eine Schülerin, die digital alles im Originalton guckt, wesentlich besser englisch spricht als sie – hat immer noch die Macht über deren Zeugnisnote. Manche Eltern, die hilflos ihrem trotzig schreienden Kind gegenüberstehen, rutscht vielleicht die Hand aus. Was macht Macht mit Menschen? Meistens nichts Gutes.
Hier in dieser Szene am Stadttor von Jerusalem spitzen sich die Machtfragen zu. Jesus kommt in die Hauptstadt – in das Zentrum der Macht. Er weiß, dass das riskant ist, und er riskiert es. Er scheut die Konfrontation mit den Mächtigen nicht. Und er setzt selbst ein Zeichen, inszeniert seinen Einzug. Die anderen Evangelisten berichten ausführlich darüber, wie er seine Jünger den Esel organisieren lässt. Dieser Esel wird zum Symbol oder besser zum Zitat, denn Jesus kennt natürlich das Wort aus dem Propheten Sacharja und die Zuschauer:innen kennen es auch:
„Fürchte dich nicht, du Tochter Zion!
Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselfüllen!“
Ein König kommt da also. Und alle Erwartungen richten sich auf ihn. Sicher sehr unterschiedliche Erwartungen. Aber Jesus dreht seinen ganz eigenen Film. Dass er das Machtspiel, das man sich von ihm erhofft, nicht mitspielt, wird in den nächsten Tagen schnell klar: Er entzieht sich den üblichen Machtstrukturen, er spricht auch kein Machtwort – in unserer Szene spricht er gar nicht und auch später schweigt er meistens.
Als seine Anhänger ihn bei der Verhaftung mit Schwertern verteidigen wollen, hält er sie davon ab.
Als er vor dem Hohen Rat von falschen Zeugen angeklagt wird, verteidigt er sich nicht. Auch nicht vor Pilatus.
Als sie ihn am Kreuz verspotten: „Anderen hat er helfen können, sich selbst kann er nicht helfen. Steig doch runter!“, reagiert er nicht.
Er lässt alles mit sich machen. Er wird als König bejubelt – hier am Stadttor, und als König verspottet – später am Kreuz. Und kommentiert das im Gerichtsprozess mit: „Mein Königreich ist nicht von dieser Welt“,
Es geht um Machtfragen, und die Macht, die Jesus vorlebt, ist so gar nicht von dieser Welt. Sie ist total naiv und weltfremd. Sie ist ungeeignet für diese Welt mit den Machtstrukturen, die uns vertraut sind. Und deswegen scheitert diese andere Macht ja auch an dieser Welt und in dieser Welt und landet am Kreuz. Wie gesagt: Würde Selensky noch radeln, wäre die Ukraine auch längst am Ende, geopfert. Das kann man doch nicht mit sich machen lassen, wir leben doch in dieser Welt. Man kann doch das Spiel nicht einfach verweigern – dann verliert man. Genau so ergeht es Jesus.
Seine Macht ist nicht von dieser Welt. Aber das heißt nicht, dass er keine Macht hat. Seine Macht beginnt dort, wo menschliche Macht immer endet: im Tod. Ich glaube es ist kein Zufall, dass in dieser Geschichte noch einmal daran erinnert wird, dass er Lazarus von den Toten auferweckt hat und auch auf die Auferstehung Jesu wird schon verwiesen. „Das verstanden die Jünger erst nicht, doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran.“ – ein klassischer Spoiler, ein Vorgriff auf Ostern mitten im vorösterlichen Bericht. Was da passiert, verstehen die Jünger:innen nicht, es ist auch nicht zu verstehen – bzw. erst im Nachhinein.
Jesus zeigt eine Alternative zu den Machtspielen, die wir alle nur zu gut kennen. Und obwohl wir alle sehen und wissen, wohin dieses übliche Machtgebahren führt – zu Gewalt, zu Krieg, zu Ungerechtigkeit und Unterdrückung – sind wir doch alle hier überzeugt, dass es natürlich gar nicht anders geht. Und dass es naiv ist, sich dem zu entziehen. Wer ist hier eigentlich naiv? Es geht anders. Jesus hat es vorgelebt – und obwohl er deswegen am Kreuz gestorben ist, ist er seitdem nicht tot zu kriegen, sonst säßen wir alle nicht hier. Dass wir hier sitzen und diese Geschichten erzählen, zeigt doch wie groß die Sehnsucht nach dieser „anderen Macht“ ist.
Und ja, sie ist nicht von dieser Welt. Und ja, wir leben in dieser Welt. Und wir werden uns sicher nicht alle an Kreuz nageln lassen. Aber ich was wir tun können, ist „Hosiana“ rufen und mit Palmzweigen wedeln. Wir können und sollten protestieren gegen die gewissenlosen und gewalttätigen Machthaber, gegen Machtstrukturen, unter denen Menschen leiden. Wir sollten unsere Plakate erheben für die, die sich für Gerechtigkeit und Erbarmen einsetzen. Auch wenn wir dafür ganz sicher als realitätsfern belächelt werden. Vielleicht sind wir, die wir uns Christ:innen nennen, auch nicht ganz von dieser Welt. Und das ist gut so. Es ist gut, der Sehnsucht Raum zu geben – neben der Realität. Mitten in der Realität.
Wenn sich Machtfragen stellen, wären wir naiv, wenn wir ausblenden würden, welche Mechanismen in der Politik oder auch im zwischenmenschlichen Umgang miteinander laufen. Aber wir sollten nie vergessen, dass das nicht die einzige Macht ist, die unser Leben beherrscht. Wir glauben an einen Gott, der die Machtspiele dieser Welt nicht mitspielen muss, weil der die Macht hat über Leben und Tod. Weil sein Reich über diese Welt hinausreicht. Und wir sind nicht nur Bürger:innen dieser Welt, sondern haben auch Anteil am Reich Gottes, das hier in dieser Welt schon beginnen will. Als Jesus in Jerusalem einzieht, beginnt dieses neue Reich – es entfaltet sein Macht: in der Hingabe, in der Liebe, in der Passion. Im Glauben daran, dass Gott auch aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will. Amen.