Manches Holz
Reihe Neue Passionslieder
Gottesdienst zum Sonntag Okuli
Predigtreihe: Neue Passionslieder
Manches Holz
Manches Holz ist schon vermodert,
manches Holz ist frisch geschlagen.
Bei dem Kreuz, mit Blick zum Himmel,
sammeln sich in diesen Tagen
Splitter der Erinnerung,
Trauer, die wir in uns tragen.
Mancher Zorn ist längst erloschen,
mancher Zorn birgt neue Fragen.
Bei dem Kreuz, mit Blick zum Himmel,
lodern auf in diesen Tagen
Funken der Erinnerung,
aus der Asche neue Klagen.
Manches Wort schweigt in der Seele,
manches Wort führt laute Klagen.
Bei dem Kreuz, mit Blick zum Himmel,
werden laut in diesen Tagen
Fetzen der Erinnerung,
Schrecken, die noch Wunden schlagen.
Mancher Trost ist tief verborgen,
mancher Trost will Hoffnung wagen.
Bei dem Kreuz, mit Blick zum Himmel,
leuchten auf in diesen Tagen
Träume der Erinnerung,
Gottes Worte, die uns tragen.
Liebe Gemeinde
„Oh Mensch, bewein dein Sünde groß“ (76) – so beginnt eines der traditionellen Passionslieder und führt fort – ZITAT – „dass er für uns geopfert würd, trüg unserer Sünde schwere Bürd“. Denn sonst – so ein anderes Lied (75) – „hätten wir müssen verdammt sein ewiglich“. Es wird das „Haupt voll Blut und Wunden“ beschrieben und die Schuldfrage geklärt: „Menschenkind, nur deine Sünd hat dieses angerichtet.“ Mit solchen Worten deuten die Passionslieder unseres Gesangbuches das Leiden und Sterben Christi. Viele stammen aus dem 16. oder 17. Jahrhundert.
Ich tue mich schwer mit dieser Sprache, auch mit der Zuspitzung auf die sogenannte Sühnetodtheologie, d.h. darauf, dass der Mensch, weil er sündig ist, den Tod Jesu verschuldet hat und nur durch seinen Tod mit Gott versöhnt und vor ewiger Verdammnis gerettet werden kann. In den biblischen Erzählungen zur Passion, im Leidensweg Jesu steckt so viel mehr als nur der schwer zu begreifende Plan Gottes, die Sündenrechnung des Menschen durch ein blutiges Opfer zu begleichen. Ich bin überzeugt davon, dass wir eine neue Sprache finden müssen, um zu verstehen, was das heißt: Sünde und Sühne und was das mit unserem Leben zu tun hat. Neuere Passionslieder versuchen das – mehr oder weniger erfolgreich, das ist immer auch Geschmacksache, aber einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Das Lied „Manches Holz“ vertont von Martina Pohl und getextet von Ilona Schmitz-Jeromin, einer Pfarrerin aus Oberhausen, ist so ein Versuch.
Manches Holz ist schon vermodert – Manches Holz ist frisch geschlagen.
Mancher Zorn ist längst erloschen – mancher Zorn bringt neue Fragen.
Die ersten Zeilen der beiden Strophen zeigen, dass eine Brücke geschlagen werden soll zwischen dem, was vor langer Zeit geschehen ist, und dem, was wir heute noch genauso erleben. Das Holz, an dem Jesus hing, ist schon lange vermodert. Diese Geschichte ist alt. Aber sie ist nicht überholt, weil Tod und Trauer auch für uns immer wieder aktuell sind.
Wenn ich über den Ohlsdorfer Friedhof gehe, sehe ich dort die Kreuze aus frischem Holz stehen. Blumen daneben. Die Namen auf manchen Kreuzen kenne ich, weil ich selbst mit den Angehörigen am Grab stand. Oder mit ihnen bei der Trauerfeier in unserer Kirche war. Frisch geschlagen. Manche viel zu früh verstorben. Familienväter. Dann sitzen weinende Kinder in der ersten Kirchenbank vor mir. Oder Ehefrauen sind nach einem erfüllten Leben friedlich eingeschlafen und der Witwer muss nach Jahrzehnten gemeinsamen Lebens plötzlich lernen, alleine zurecht zu kommen. „Trauer, die wir in uns tragen“ besingt das Lied und ich bin mir sicher: Wir alle haben schon Menschen beweint, die uns nahestanden und von denen wir uns trennen mussten. Die Leerstelle bleibt, auch wenn sie nach einiger Zeit nicht mehr so schmerzt. „Splitter der Erinnerung“ an den Schmerz und die Trauer tragen wir alle in uns.
Die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu erzählt aber nicht nur von Tod und Trauer. Kaum eine dunkle Seite menschlicher Existenz wird ausgeblendet:
Da geht es z.B. um enttäuschte Hoffnungen. Judas so vermutet man hat sich das mit Jesus wohl anders vorgestellt und seine Verbitterung führt zum Verrat. Petrus wiederum hat Angst, wie die anderen auch, sie laufen ja alle weg, als Jesus verhaftet wird. Wer kann es ihnen verdenken. Und dann schämen sie sich hinterher für ihr Versagen. Von Petrus wird das ausführlich berichtet. Es geht auch um Macht und Manipulation: Die jüdischen Autoritäten sehen durch Jesu Auftreten und Reden ihre Deutungshoheit für Religion in Frage gestellt und liefern ihn deswegen ans Messer. Das Messer hält Pontius Pilatus in der Hand, der über Tod und Leben entscheiden darf. Und er wiederum möchte seine Macht erhalten, indem er die Lage im Land beruhigt, also den aufgeregten Juden ihren Unruhestifter opfert. Verrat und Verleugnung, Hass und Angst, Scheitern und Scham – all das kommt in den Berichten von Jesu letzten Tagen zum Tragen.
Es sind allgemein menschliche Beweggründe und Gefühle, die wir auch kennen, die unser Leben immer mal wieder bestimmen oder denen wir uns ohnmächtig ausgeliefert fühlen. Stellvertretend für diese dunklen Seiten wird im Lied der Zorn genannt. Wo Leid ist, ist eigentlich immer auch Wut. Der Zorn der Massen, die damals „Kreuzige ihn!“ riefen, ist erloschen, aber heute bringt der „Zorn neue Fragen“. Gesellschaftlich und ganz persönlich: Die junge Generation ist wütend über das, was wir – was gerade meine Generation verpasst hat in der Klimapolitik – sie ist wütend über das Aussitzen wichtiger Entscheidungen und greift zu zornigen Maßnahmen, um ihre Ansichten deutlich zu machen. Das kann man gut finden oder nicht. Gewütet wird aber auch in Klassenzimmern, in Familien, in Beziehungen. Wir werden zornig, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen, wenn Menschen uns verletzen. Warum so, warum nicht anders, warum immer ich? Fragen, die für uns heute aktuell sind.
All das, was damals erzählt wurde, und wovon die alten Geschichten sprechen, das gibt es auch heute noch. Und deswegen haben uns diese alten Texte immer noch etwas zu sagen. Die Brücke bildet das Kreuz. In jeder Strophe des Liedes steht das Kreuz im Zentrum.
„Bei dem Kreuz, mit Blick zum Himmel tut sich was in diesen Tagen“
so wird es wiederholt. Für mich erdet das Kreuz den Himmel. Es macht klar, dass wir keinen Gott haben, der da irgendwie über all dem schwebt, was menschlich ist – über dem Tod und der Trauer, über dem Zorn und der Klage, dem Schweigen und den Träumen. Wir haben einen Gott, der all das menschliche Leid kennt, weil er es am eigenen Leib erlebt hat. Einen, der weiß, was es heißt verraten und verlassen zu werden, Schmerzen zu haben und Todesangst. Egal, was uns Menschen zustößt, was wir ertragen müssen, wir sind nicht allein damit, weil unser Gott selbst gelitten hat und deswegen im Leid an unserer Seite ist. Unser Gott ist menschlich. Das Kreuz holt den Himmel auf die Erde.
Und umgekehrt lenkt es unseren Blick von der Erde, vom Kreuz, vom Leid – hin zu Gott. Das Kreuz schafft die Verbindung. So versuche ich die traditionelle Rede von Sünde übersetzen. Das Wort Sünde kommt ja von absondern – also sich trennen. Ein sündiger Mensch, das bedeutet eigentlich ein Mensch, der sich von Gott absondert, dem Gott egal ist, der weder nach ihm fragt noch sucht. Und wenn jemand Sünde sühnen muss, einen Ausgleich dafür schaffen muss, dann geht es darum, die Verbindung wiederherzustellen. Das Kreuz wirkt wie ein Steg über diesen Graben zwischen Mensch und Gott: In Jesus überwindet Gott die Trennung, kommt zu uns, kommt in unsere Nähe. Und zwar gerade auch dann, wenn wir scheitern und versagen.
Beim Kreuz – also dort, wo Menschen unmenschlich mit anderen Menschen umgehen – da kann uns nur der Blick in den Himmel retten, das heißt die Erinnerung daran, dass Gott uns nahegekommen ist. Das Lied beschwört diese Erinnerung: Splitter, Funken, Fetzen, Träume der Erinnerung. Wir sollen uns erinnern, was Jesus erlebt und erlitten hat – damit wir den Blick zum Himmel heben und wissen: Gott ist uns nahe.
„Manches Wort schweigt in der Seele,
manches Wort führt laute Klage
Bei dem Kreuz mit Blick zum Himmel
werden laut in diesen Tagen
Fetzen der Erinnerung,
Schrecken, die noch Wunden schlagen.“
Worte können Wunden schlagen. „Nein, ich kenne den nicht!“ sagt Petrus über Jesus, weil er Angst hat. Vielleicht sind Sie auch schon mal verleugnet worden. Jemand ist ihnen in den Rücken gefallen bei einer wichtigen Entscheidung, hat sich von Ihnen distanziert, als sie seine Loyalität gebraucht hätten. Worte können Wunden schlagen: „War mir doch sowieso klar, dass du das nicht hinkriegst!“ – „Ich habe mich in eine andere verliebt!“ – „Sie werden leider nie Kinder bekommen können.“ Manche Worte schmerzen noch in der Erinnerung, egal wie lange es her ist, dass sie gesprochen wurden. Manchmal schmerzt umgekehrt das Schweigen. Ein klärendes Wort hätte besser ausgesprochen werden müssen, es schweigt in der Seele und vergiftet sie. Oder Leid macht uns sprachlos. „Ich weiß gar nicht was ich sagen soll“ ist der hilflose Kommentar, wenn es keine angemessenen Worte gibt. Manchmal tut es gut, geneinsam zu schweigen. Manchmal macht das Schweigen der anderen die Betroffenen aber auch einsam. Manchmal braucht es laute Klage: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ – vermutlich haben unzählige Menschen vor Jesus und nach ihm schon so gebetet. Und auch dieses Wort lenkt den Blick zu Gott, in den Himmel.
In der letzten Strophe darf dann der Trost zu Wort kommen. Manches Trostwort kommt ja eher daher wie eine leere Floskel: „Das Leben geht weiter, die Zeit heilt alle Wunden“. Das kann man sich sparen, dann lieber schweigen. Trost soll ja nicht vertrösten – auf die Zeit, wenn das Leben weitergegangen ist und die Zeit die Wunden geheilt hat – sondern Trost soll „Hoffnung wagen“. Auch das geht am Kreuz. Aus dem Zeichen des Todes ist ein Symbol für unseren Glauben geworden, für unsere Hoffnung auf Auferstehung.
Die letzte Strophe zeigt einen Weg hinaus aus dem Leid. Nicht wie eine Autobahnausfahrt, eher ein Trampelpfad. Tief verborgen, Hoffnung wagen. Nach Worten suchen, die Halt geben könnten, wenn Menschen trauern und leiden. Das Lied wird nicht vom Passions- zum Osterlied. Die Passionszeit ist 7 Wochen lang und man kann sie nicht abkürzen. Das kennen alle, die schon mal in Trauer oder einer schweren Krise waren: die Gefühle, der Schmerz sind überwältigend und man kann sie nicht einfach schneller oder effektiver verarbeiten. Sie müssen durchlebt werden. Aber es gibt Dinge, die auch mitten in der Krise tragen und die auch in diesem Passionslied zu Wort kommen dürfen: der Blick zum Himmel und – so ganz zum Schluss – Gottes Worte, die uns tragen.
Das Passionslied „Manches Holz“ erzählt keine Geschichten. Es gibt uns eigentlich nur große Worte an die Hand: Trauer, Zorn, Fragen, Klagen, Worte, Schweigen. Damit hält sich dieses Lied ganz offen: Offen, damit wir unsere Deutung hineinlegen können, unsere eigenen Erinnerungen, unsere eigenen Träume. Für manche mag das Lied zu offen sein, dann bleiben es aneinandergereihte Worte oder Floskeln. Aber ich hoffe, dass für uns alle das Zentrum des Liedes spürbar wird. Die Idee, dass all diese Erfahrungen von Leid – die alten und die aktuellen – dass die im Kreuz ihren Mittelpunkt finden. Aber nicht ihren Endpunkt. Sondern, dass wir im Leid immer den Blick in den Himmel richten können, dass wir an Gott verwiesen sind, dem kein Leid fremd ist. An Gott, der uns nicht vor Leid bewahrt, aber im Leid bewahrt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unseren Herrn. Amen.