Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Menschen gehen zu Gott in ihrer Not

Menschen gehen zu Gott in ihrer Not

Predigt am 26. März
Reihe Neue Passionslieder
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Sonntag Judika, 26. März 2023

Liedtext: Menschen gehen zu Gott

 

 

Liedpredigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Menschen gehen zu Gott in ihrer Not…“ Das ist vom Text her das älteste Lied, mit dem wir uns in der Gottesdienstreihe zu neuen Passionsliedern beschäftigen. Ein Gedicht, das der lutherische Theologe und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus Dietrich Bonhoeffer im Sommer 1944 im Gefängnis in Berlin-Tegel verfasste. Es war einem Brief vom 8. Juli 1944 beigelegt, entstand also kurz vor dem Attentatsversuch auf Adolf Hitler am 20. Juli.

Bonhoeffer wusste von dem geplanten Anschlag. Männer aus seinem Familien- und Freundeskreis waren daran beteiligt. Angespanntes Warten und Hoffen müssen die Wochen im Untersuchungsgefängnis geprägt haben, als das Gedicht entstand.

Insgesamt verfasste Bonhoeffer in den zwei Jahren Haftzeit, die mit seiner Hinrichtung am 9. April 1945 endete, zehn Gedichte. Bemerkenswert ist, dass es in fast keinem der Texte um die Beziehung zu Jesus Christus geht, obwohl Christus gerade für Dietrich Bonhoeffer im Zentrum seiner Theologie stand.

Unser Gedicht ist das einzige der in der Haft entstandenen Gedichte, in dem er das Verhältnis zu Christus zur Sprache bringt: Menschen begegnen Gott in Christus; Gott begegnet Menschen in Christus.

In seiner engen Zelle, in der er kaum fünf Schritte gehen kann, beginnt Bonhoeffer sein Gedicht mit den Worten: „Menschen gehen zu Gott in seiner Not.“

Wenn ich ans Gehen denke, daran, wie und wo Menschen gehen, um Gott zu suchen, dann steht mir zuerst der Kerzentisch hier in unserer Kirche vor Augen. Jeden Tag kommen Menschen – Christen und Nicht-Christen – in diese Kirche, gehen langsam den Mittelgang nach vorne, entzünden eine oder mehrere Kerzen und sprechen ein Gebet oder halten inne. Sie kommen „in ihrer Not“, wie Bonhoeffer sagt, „flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot, um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod“.

Nach meiner Erfahrung bitten sie vor allem für andere: für Kranke, für Kinder, Eltern, für zerstrittene Familien, Verstorbene, für Menschen im Krieg, wie der Ukraine, oder in Not wie in Syrien und der Türkei.

Aber sie kommen, sie gehen zu Gott auch mit ihrem Dank. Viele Kerzen werden angezündet für eine geglückte Operation oder eine überstandene Krankheit, für die Geburt eines Kindes, eine bestandene Prüfung, das Glück der Liebe, für Wohlstand und Frieden.

Unsere Situation hier und heute ist anders als die von Bonhoeffer, als die unserer Eltern, Groß- und Urgroßeltern in Deutschland 1944.

Aber für seine wie für unsere Zeit hält Bonhoeffer fest, dass Menschen Gott suchen und zu ihm gehen – ganz gleich, ob sie Christen, Juden, Muslime, Buddhisten oder anders spirituell orientiert sind. Menschen suchen die Begegnung mit Gott. Und das begründet Bonhoeffer nicht damit, dass Gott alle Menschen liebt und sie dadurch irgendwie zu ihm gehören. Sondern er stellt fest, dass auch Nicht- oder Andersgläubige zu Gott „in ihrer Not“ gehen und um die Abwendung von Not bitten. Um Hilfe in schwierigen Lebenssituationen, um Trost oder Orientierung.

So, wie es zum Beispiel auch beim Pilgern, wo man ja ganz real einen Fuß vor den anderen setzt, oft darum geht, eine Beziehung zu Gott zu suchen. In allen Menschen wohnt offenbar das Verlangen, Gott zu begegnen, die Sehnsucht nach Leben, Frieden und dem Ende von Leid.

Auch in der 2. Strophe des Liedes geht es um die Begegnung zwischen Menschen und Gott. Aber nun ist nicht mehr ein allmächtiger, allumfassender Gott im Blick, der quasi von außen oder oben in das Weltgeschehen eingreifen und Menschen helfen kann, sondern der Gott, der mitten in der Welt und unter den Bedingungen der Welt zugegen ist.

Bonhoeffer schreibt: „Menschen gehen zu Gott in seiner Not.“

Er greift auf, was auch wir alltäglich beobachten können: Zwar nicht alle, aber viele Menschen lassen sich von Not und Leid anrühren. Sind bereit, anderen zu helfen und beizustehen.

Ich denke an die vielen Hilfsangebote, die es in der Corona-Krise in Nachbarschaften gab: Wie Jüngere für Ältere eingekauft haben, Großeltern Enkeln am Telefon vorgelesen oder mit ihnen online Schulaufgaben gemacht haben, Freiwillige bei Impfkampagnen geholfen haben.

Ich denke auch an die vielen Menschen in unserem Stadtteil, die Geflüchtete aus Syrien und jetzt aus der Ukraine aufnehmen. An Leute, die Bettlern in der U-Bahn etwas zu essen schenken, die ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission mitarbeiten oder Besuche im Seniorenheim machen.

Bonhoeffer schreibt: Menschen finden Gott „arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit, Tod.“ Er sagt damit zum einen, dass wir Gott dort finden, ihm da begegnen, wo Menschen in Not sind, wohnungslos oder hungrig, schuldig geworden, schwach oder krank. So, wie Jesus es im Matthäus-Evangelium selbst formuliert hat: „Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25, 40)

Dass wir Gott also nicht außerhalb dieser Welt, in heiligen Sphären oder an traumhaften Orten finden, sondern auf den Schattenseiten, in den Abgründen und Dunkelheit.

Und er beschreibt zum anderen einen Gott, der angewiesen ist auf uns Menschen. So, wie Jesus seine Jünger und Jüngerinnen brauchte. Als er sie zum Beispiel bat, in seiner letzten Nacht im Garten Gethsemane wach zu bleiben und seine Todesangst mit auszuhalten. Oder wie er sich das Kreuz abnehmen ließ, und ein anderer – Simon von Kyrene – es für ihn trug auf einem Abschnitt seines letzten Weges.

Zu einer Begegnung mit Gott kommt es, wo Menschen dem Leiden nicht ausweichen. Wo wir Leid, auch Gottes Leid, erkennen – und daran mittragen, mitleiden.

„Sie stehn bei Gott in seinem Leiden“, heißt es. Das meint, nicht vom Kreuz zu fliehen, sondern es mit auszuhalten.

Wenn Angst, Not oder Schmerz überwältigend werden, zählt allein die Liebe. Eine Liebe, die beisteht, nahe bleibt und mit aushält. Oft braucht sie nicht viele Worte oder große Gesten. Es geht ums Beistehen. In dieser Liebe begegnen sich Gott und Mensch.

Bonhoeffer hat das in einem eindrucksvollen Text formuliert, in einem Brief an seinen Freund Eberhard Bethge. Friederike Hoppe liest die Passage für uns vor:

„Ich dachte, ich könnte glauben lernen,
indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. […]
Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde,
dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt.
Dies nenne ich Diesseitigkeit,
nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben.
Wenn man völlig darauf verzichtet hat,
aus sich selbst etwas zu machen […],
dann wirft man sich Gott ganz in die Arme,
dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden,
sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst,
dann wacht man mit Christus in Gethsemane.
Und ich denke, das ist Glaube, das ist Umkehr.
Und so wird man ein Mensch, ein Christ.“
(Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge, 21. Juli 1944)

Bonhoeffer beschreibt in der 3. Strophe seines Liedes, was geschehen kann, wenn Menschen „Christen“ werden. Wenn sie glauben und umkehren, anderen Menschen wie Gott selbst im Leiden beistehen. Dann kann für sie, für uns erfahrbar werden, dass Gott uns „den Leib, die Seele mit seinem Brot“ sättigt. Dass unsere Sehnsucht nach Frieden, nach Einssein mit uns selbst, mit unseren Nächsten und Gott gestillt wird. Dass wir tief innen satt werden, erfüllt und glücklich, weil wir Gott begegnen.

Auch hier weicht Bonhoeffer der Diesseitigkeit, von der er spricht, nicht aus. Er weiß, dass wir in dieser Welt unweigerlich schuldig werden, aneinander, in unseren Familien und auch durch unsere wirtschaftlichen und politischen Strukturen.

Konkret weiß Bonhoeffer 1944 von den Vorbereitungen des Attentats auf Hitler: Christen hatten sich entschlossen, Hitler zu töten, um Deutschland und die Welt von seinem Irrsinn zu befreien. Sie nahmen auf sich, Schuld auf sich zu laden, Leid zu ertragen, ihr Leben zu riskieren und damit ihren Familien Leid anzutun. Wenn wir auch im Nachhinein ihren Mut bewundern mögen, so verstrickten sie sich doch selbst in Schuld. Eine Schuld, von der Gott allein befreien kann.

Darauf haben sie damals gehofft, und Bonhoeffer mit ihnen – und darauf können und müssen wir hoffen, mit der ganz anders gelagerten Schuld, die wir heute auf uns laden: Schuld aufgrund unserer verschwenderischen, meist gedankenlosen Lebensweise, unserer Ausbeutung anderer Menschen und des Planeten. Die uns in die Verantwortung ruft in unserem Handeln und uns zur Rechenschaft zieht vor Gott.

Wir hoffen darauf, Christen und Heiden, dass alles Leid gewendet wird, dass Schuld vergeben und die Macht des Todes gebrochen wird.

„Können wir neben dir sitzen, einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit?“ (Markus 10, 37), fragen die Jünger im Evangelium von heute. So menschlich, so verständlich der Wunsch, die Sehnsucht nach Herrlichkeit – so verweist Jesus sie und uns in seiner Antwort an den Menschen zurück. Christus ist nahe, wer neben anderen sitzt, wer sich anderen zum Nächsten macht.

Und wir glauben daran, dass wir dies nicht nur träumen und hoffen, sondern durch Gottes Kraft und Liebe leben, erleben werden. So wir Gott begegnen in Jesus Christus. Amen.