Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Noch Fragen?

Noch Fragen?

Gottesdienst am 30. April
Pastorin

Andrea Busse

Sonntag Jubilate

Predigt zu Johannes 16, 16-23a

Predigttext:

Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater? Da sprachen sie: Was bedeutet das, was er sagt: Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet. Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich gesagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden. Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen. (Johannes 16, 16-23a)

Predigt:

Immer mal wieder mache ich mit Klassen aus der Turmweg­grundschule hier Kirchen­führungen. Beim letzten Mal fragte mich eines der Kinder mit Blick auf das Kreuz: „Wollte Jesus eigentlich sterben?“ Gute Frage. Ich kenne natürlich die entsprechende Bibelstelle: Jesus, der im Garten Gethsemane betet: „Lass diesen Kelch an mir vorüber­gehen“ und dann: „Aber nicht mein Wille geschehe, sondern deiner.“ Aber beantwortet das die Frage? Wollte er jetzt also sterben oder nicht? Willig Gottes Heilsplan am Kreuz vollenden oder hatte er doch einfach ganz men­schlich Todesangst?
Mit Blick auf das Kreuz, auf die Auferstehung, auch auf das Leben Jesu bleiben viele Fragen. Manchmal lasse ich die Konfirmanden und Konfirmandinnen aufschreiben: Was würdet ihr Jesus fragen, wenn ihr könntet. „Wie hast du das gemacht mit dem Wasser zu Wein?“ steht dann in den Sprechblasen. Oder: „Wieso hast du immer so geredet, dass man nur die Hälfte versteht?“; auch: „Wieso bist du gestorben?“ und „Bist du wirklich auferstanden?“ – „Wo bist du jetzt, gibt es dich noch?“ Alles gute Fragen.

Solche Fragen hatten auch schon die Jünger damals. Anders als meine Konfis konnten sie Jesus noch direkt fragen, haben sich aber irgendwie nicht getraut, haben untereinander getuschelt: Was bedeutet das? „Eine kleine Weile“, hat Jesus gesagt – und mal sehen wir ihn und mal nicht. Was heißt das alles?

Manche Fragen kann man erst im Nachhinein beantworten. Hinterher ist man immer schlauer: Die Jünger, die da bei Jesus sind, wissen noch nichts vom Kreuz und von Ostern. Wir, die wir die ganze Geschichte kennen, könnten ihnen erklären: Wenn Jesus stirbt, ist er eine kleine Weile weg, drei Tage lang. Und wenn er dann aufersteht, erscheint er euch wieder, und dann an Himmelfahrt, verschwindet er endgültig. Aber beantwortet das wirklich die Frage: „Was bedeutet das?“

Und die, die damals aufgeschrieben haben, was wir heute lesen, die kannten ja auch schon die ganze Geschichte von Karfreitag und Ostern und Himmelfahrt, und trotzdem treibt die ersten Christinnen und Christen diese Frage „nach der kleinen Weile“ um. Sie hatten ja geglaubt, dass Jesus bald, noch zu ihren Lebzeiten wiederkommt, dass er diese Welt dann für alle sichtbar richtet und rettet. Dass dann das Reich Gottes, von dem Jesus ständig erzählte und das schon angebrochen ist, dass das dann endlich vollendet wird. Sich sichtbar durchsetzt.

„Eine kleine Weile“ noch, hat Jesus gesagt, aber diese kleine Weile dehnt sich und dehnt sich. Die Jüngerinnen und Jünger, die Augenzeugen des Lebens Jesu sterben aus. Das alles wirft in den ersten christlichen Gemeinden Fragen auf, die dieser Bericht im Johannes­evangelium – aufgeschrieben von der 3. Generation nach Ostern – spiegelt.

Jesu Antwort auf die Frage klingt nach Vertröstung: Es ist eigentlich keine Antwort, er erklärt den Jüngern nichts. Ein bisschen wie bei einem Kind: „Du bist noch zu klein, um das zu verstehen. Und später, wenn du größer bist, dann werden sich die Fragen lösen“. Er gibt keine Antwort, sondern er ver­heißt eine Zeit ohne Fragen. „Noch eine kleine Weile und dann ist alles gut. Dann habt ihr keine Fragen mehr, dann ist alles klar, dann werdet ihr fraglos glücklich sein“. Ein bisschen nach Oscar Wilde: „Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.“ Dieses „Später“ ist tückisch. Ist nach 2000 Jahren Kirchen­geschichte nicht mal spät genug?

Unsere Fragen heute sind anders als die der urchristlichen Gemeinden. Wir erwarten nicht die Wiederkunft Christi im Hier und Jetzt. Unsere Fragen beziehen sich nicht auf die Zeit. Sie beziehen sich eher auf die Emotionen, die da genannt sind: auf Freude und Traurigkeit. Wenn Gott, diese Welt in seiner Hand hat, wieso gibt es dann so viel Leid und Not und Sterben und Gewalt? Wenn der Glaube Zuversicht schenkt, wieso muss man den Christinnen und Christen dann das Jubeln verordnen, wie heute am Sonntag „Jubilate!“. Müssten wir nicht erlöster sein? Hat sich durch Ostern eigentlich irgendetwas verändert? In dieser Welt, in unserem Leben? Wie kann man der Botschaft glauben, wenn alles so weiterläuft, als wäre nichts geschehen? Wir hören doch an Ostern und Weihnachten die biblischen Verheißungen davon, dass Gott die Welt auf den Kopf stellen wird: die Mächtigen entthronen, die Armen aus dem Staub heben – das widerspricht doch allem, was wir hier erleben. Wo bleibt die fragen-lose, jubelnde, nachösterliche Welt angesichts einer krisengeschüttelten, eher karfreitagsmäßig anmutenden Realität? Ja, da habe ich noch viele Fragen und Sie vermutlich auch.

Nach Ostern ist gefühlt vor Ostern. Und insofern erstaunt es mich nicht, dass wir wenige Wochen nach dem Osterfest hier einen vorösterlichen Text als zum Nachdenken serviert bekommen. Was machen wir also mit den Fragen?

Ich kann sie hier auf der Kanzel stellen. Und ich glaube, es ist wichtig, dass wir sie stellen. Das lese ich zumindest aus diesem Bericht: Dass die Fragen nicht heimlich getuschelt werden sollen, unausgesprochen bleiben, aus Angst, dass wir keine Antwort parat haben könnten. Jesus greift die Frage der Jünger auf. Sie wird ja im Endeffekt in diesen Versen ständig wieder­holt, was dem Ganzen eine redundante Note gibt. Ich denke, das ist kein Zufall. Manche Fragen müssen wieder und wieder laut werden. Und dann muss man aushalten, dass es keine Antwort gibt – zumindest nicht sofort.

Und trotzdem wird sich etwas ändern. Verwandeln. Die Jünger wollen verstehen. Sie wollen es genau wissen, Erkenntnisse ordnen, Widersprüche beseitigen, Schlüsse daraus ziehen. Jesus holt sie von der kognitiven auf die emotionale Ebene. Die Traurigkeit wird Freude werden. Und das erklärt er tatsächlich auch: Eine Frau, die gebiert, hat Schmerzen. Wenn sie nun fragen würde. Warum ist das so? Dann könnte man sicher eine wissenschaftliche medizinische Erklärung dafür liefern – aber ihre Frage wäre damit überhaupt nicht beantwortet. Und wenn das Kind geboren ist, stellt sich die Frage einfach gar nicht mehr. Was vorher Schmerz war, ist dann Freude pur. Glück über das neue Leben.

Ostern bietet keine kognitiv erfassbare Antwort auf Fragen. Aber eine Kraft, die uns verwandeln kann, die Hoffnung schenkt – nicht irgendwann einmal, sondern jetzt und hier in dieser karfreitagsmäßigen Realität. Der Vergleich mit der Geburt zeigt: Die Traurigkeit ist das Material, aus dem Freude gewonnen wird. Der Glaube überwindet die Traurigkeit nicht, indem er sie beseitigt, sondern verwandelt. Wenn ich Menschen begleite, die trauern, dann kann ich beobachten, wie sich diese Trauer lang­sam verändert. Sie geht nicht weg, sie ist nicht irgendwann überwunden, beseitigt. Wer einen nahen Menschen verloren hat, den wird das immer begleiten. Aber die Trauer verändert sich. Das ist kein linearer Prozess, wo alles immer ein bisschen besser wird, sondern eine Bewegung, die sich immer neu vollzieht. Und eine Bewegung, die man nicht beschleunigen kann, die Geduld braucht.

Der Dichter Rainer Maria Rilke hat das, was hier gemeint ist, einmal wunderbar formuliert – und es ist kein Zufall, dass bei ihm genau dieselben Bilder auftauchen, wie heute hier im Gottesdienst: Bilder von Geburt und Schöpfung.

Rilke schrieb einmal an einen Freund:
„Man muss den Dingen die eigene, stille ungestörte Ent­wicklung lassen, die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann, alles ist austragen und dann gebären. Reifen wir der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch! Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos, still und weit….
Ich möchte Sie so gut ich es kann bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprach geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.“

Ich hoffe, dass Sie heute zwei Aufforderungen mit nach Hause nehmen: Fragen und Jubeln. Stellen Sie die Fragen, laut – ohne Angst, dass Sie ohne Antwort bleiben. Ohne Angst, dass die Fragen Ihren Glauben, Ihre Zuversicht in Frage stellen oder in sich zusammenbrechen lassen könnten. Fragen können auch mal stehen bleiben. Sie können es vor allem, wenn man auch die zweite Aufforderung ernstnimmt: Jubelt. Jubelt über diese Schöpfung. Darüber, dass es draußen immer heller wird und die Tage wärmen. Dass Leben entsteht, die Natur wächst und grünt, dass der Atem fließt, Kräfte sich erneuern. Wir bringen diese Kräfte nicht hervor, aber wir haben Teil daran. Und wir sollten Gott dafür loben. Loben ist eine elementare Lebensäußerung, eine Mischung vielleicht aus Staunen und Danken, eine Reaktion auf das, was ich sehe, was mir begegnet, was mich berührt und erfüllt. Was ich entdecke, schmecke, spüre und was mich freut. Jubeln kann man nicht verordnen, aber kultivieren: im Beten und Singen z.B. – insofern besonders schön, dass wir gerade heute den Neuen Knaben­chor zu Gast haben.

Jubeln kann auch eine Antwort auf Fragen sein. Der Schöpfungsbericht z.B. gibt keine wissenschaftlich fundierte Antwort darauf, wie die Welt entstanden ist. Er ist häufig als solcher missverstanden worden. Aber der Schöpfungs­bericht ist eher ein großes Staunen darüber, wie perfekt Gott alles gemacht hat, wie gut, wie schön. Darüber, dass wir hineingesetzt sind in eine lebenserhaltende Ordnung. Dieser Bericht ist ein Jubel, ein Lobgesang. Manchmal geht es nicht um Erklärungen, sondern um Freude. Um Staunen.

Fragen kann man aushalten, wenn man Jubeln kann, Wer nur im Fragen kreist, macht sich müde und mürbe. Jubeln ist das Ausgleichsprogram. Jubeln über die Schöpfung zeigt uns auch, dass man nicht immer nur mit einer Antwort auf eine Frage regieren kann, sondern auch mit Ver-antwortung, Verant­wortung z.B., die wir für diese Schöpfung übernehmen, die von Gott gut angelegt wurde.

Also noch einmal – ich bin jetzt mal genauso redundant wie der Bibeltext: Trauen Sie sich Ihre Fragen zu stellen, die Fragen nach dem Leid, der Traurigkeit, dem Sinn, und dann staunen Sie über die Schöpfung, jubeln Sie über das, was gut und schön geschaffen ist. Ich glaube, so werden wir alle in die Antworten hineinleben. Amen.