Papierschiffchen
Samstag, 22. April 2023
Sonntag, 23. April 2023
Predigttext: Matthäus 14, 22–33
Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. 23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. 24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. 26 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. 27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! 28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. 33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden,
liebe Familien, Patinnen, Paten und Freunde, liebe Gemeinde!
Seit zwei Monaten liegt auf meinem Schreibtisch ein weißes Papierschiffchen. Es stammt aus dem Gottesdienst, den wir am Sonntagmorgen auf unserer Konfirmandenfreizeit Mitte Februar auf dem Sunderhof gefeiert haben. Eine Kleingruppe hatte den Seminarraum für den Gottesdienst vorbereitet: mit einem Kreuz und Kerzen, einem langen blauen Tuch, das vom Tisch wie ein Wasserfall herabhing, und weißen Papierschiffchen darauf.
Eine Kleingruppe hatte die Lieder ausgesucht, darunter natürlich „Viva La Vida“ von Coldplay, ein Hit eures Konfa-Jahrgangs! Eine andere Gruppe hat die Geschichte vom sinkenden Petrus auf dem See gespielt, und wieder andere haben sich Gedanken dazu gemacht, was einen im Leben runterzieht und sozusagen sinken lässt und was einen oben, über Wasser oder auf den Beinen hält.
Eigentlich – das war mein Eindruck – habt ihr die Geschichte von Jesus, Petrus und den anderen Jüngern im Boot ganz schnell, fast intuitiv verstanden. Ich glaube, das liegt, wie bei vielen biblischen Geschichten, daran, dass die Erzählung allgemeine Lebenserfahrungen aufnimmt und einfache Bilder verwendet. Sie stammen zwar aus Jesu Zeit und Umwelt, sind aber doch weitgehend selbstverständlich oder symbolisch reduziert. Und eine weitere Stärke der biblischen Geschichten liegt darin, dass sie immer mehrere mögliche Inhalte, Botschaften und Deutungsebenen haben.
Ich verstehe das als eine wesentliche Aufgabe des Konfirmandenunterrichts, und das haben Julia, Moritz, Friederike und ich in den letzten anderthalb Jahren mit euch versucht: mit euch zu üben, biblische Texte zu lesen. Nicht nur formal lesen – das kann manchmal auch schwierig sein, bei seltenen Worten wie „Barmherzigkeit“, „Gnade“ oder „Gethsemane“ –, sondern sie mit einer bestimmten inneren Haltung lesen: neugierig, offen und erwartungsvoll. Beim Lesen damit rechnen, dass darin eine Botschaft steckt, die mich ansprechen kann. Nicht nur eine Botschaft für alle Zeiten und Menschen, sondern verschiedene Aussagen, je nachdem, welche Themen uns gerade beschäftigen.
In diese Richtung war auch die Aufgabe an euch gestellt, einen Text zur Wahl eures Konfirmationsspruchs zu schreiben: dass ihr euch dazu Gedanken macht und in Worte fasst, was für euch in dem Bibelvers steckt, den ihr euch ausgesucht habt. Was er euch jetzt sagt, in eurem jetzigen Alter, in der heutigen Zeit, in der wir leben. Und ich bin sicher, er wird euch in zehn, in 20, in 50 Jahren etwas anderes sagen, weil andere Fragen euch persönlich und uns als Gesellschaft beschäftigen werden. Aber ich bin ebenso sicher: Er wird euch etwas sagen, wenn ihr ihn neugierig, offen und erwartungsvoll lest.
Ich war natürlich gespannt auf eure Texte und auch begeistert, dass viele von euch verschiedene Interpretationen oder Aussagen eures Konfirmationsspruchs gefunden haben. Dass ihr über die vielfältige Bedeutung von Begriffen wie Hoffnung, Furcht, Stärke, Freiheit oder Liebe nachgedacht und daraus Folgerungen für euren Glauben gezogen habt.
Für mich liegt darin ein Schlüssel zum Glauben: dass man in der Lage ist, religiöse Texte, wie die Geschichte von Petrus, religiöse Handlungen, wie die Konfirmation, Zeichen und Symbole, wie hier in dieser Kirche, aber auch Gemeinschafts- oder Naturerfahrungen für sich und den Glauben zu deuten. Dass man insofern mehrsprachig ist, als man auf jeden Fall Fremdsprachenkenntnisse in der Sprache des christlichen Glaubens hat.
Auf diese Weise ist auch das Papierschiffchen von unserer Freizeit für mich ein Zeichen, eine mehrdimensionale Botschaft geworden und die heißt:
Ihr brauchtet kein aufwendiges Material, um es herzustellen. Jedes Grundschulkind kann aus einem Blatt Papier ein Schiff falten – und das ist eine gute Botschaft, denn es heißt auch, dass jede und jeder die Geschichte von Petrus und Jesus versteht. Sich ein Boot, Wellen, Nacht und Sturm, die Gefühle von Nähe und Geborgenheit mit Freunden, wie die von Angst allein im Dunkeln vorstellen kann.
Das Papierschiff steht für das Boot, in dem die Jünger in dieser Nacht saßen. Sie kannten das, denn viele von ihnen waren von Beruf Fischer. Sie alle waren in den letzten Monaten mit Jesus am See Genezareth unterwegs gewesen, hatten vor allem von Brot und Fisch gelebt.
Dieses damals alltägliche Fischerboot kann uns erinnern an unsere Familien, Freundinnen und Freunde, mit denen ihr heute hier seid und feiert – jedenfalls ein Teil von ihnen ist dabei. Wie es wohl wäre, real miteinander in einem Segel- oder Ruderboot zu sitzen? Ob wir uns wohl und geborgen fühlen würden oder eher eingeengt… Wer würde wohl an der Pinne sitzen, wer würde sich besonders in die Riemen legen und wer den Kurs ansagen?
Und wie gehen wir damit um, wenn einer aussteigt? Nicht mehr auf der Bank neben den Geschwistern sitzen will, sondern was Eigenes ausprobieren… So, wie ihr im Konfa von euren Eltern, Geschwistern und Freunden erzählt habt, wenn es um Konflikte ging, die Jesus mit seiner Familie oder die Jünger miteinander hatten. Wer hat das Sagen? Wer darf was und wer bekommt was? Wie laufen Streit und Versöhnung bei uns ab?
Das Boot oder die Gemeinschaft der Jünger – das können wir natürlich auch als Kirche oder Gesellschaft sein. Bei welchen Themen halten wir solidarisch zusammen, achten darauf, dass die Schwächeren, die Nicht-Schwimmer nicht über Bord gehen? Wie steht es um Erziehungs- und Pflegeaufgaben, wenn es um besonders junge oder alte, um Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen geht, die besondere Unterstützung brauchen? Viele von euch machen durch ihre Konfirmationssprüche das Thema Liebe stark, die auch über die Familien hinausgeht und viel mit Zuwendung, Mitgefühl, Respekt und Geduld zu tun hat.
An welchen Stellen sagen wir: Das Boot ist voll! Du gehörst nicht dazu, du kommst nicht rein. Woran orientieren wir uns: an Leistungsfähigkeit oder Hilfsbedürftigkeit, an Sprache, Aussehen oder Hintergrund? „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; Gott aber sieht das Herz an“, haben einige von euch als Konfirmationsspruch gewählt, sensibel für die harten Folgen, die es oft hat, wenn wir vor allem nach äußeren Merkmalen entscheiden, wen wir akzeptieren.
Petrus ist der Einzige aus der 12er-Gruppe, der in dieser Nacht aus dem Boot aussteigt. Einerseits ist klar, dass man real natürlich nicht so leicht aus einem Schiff auf See aussteigt, und sei es ein Schlauchboot auf der Außenalster. Andrerseits steht Petrus der Aussteiger ja dafür, etwas zu wagen und auszuprobieren. Kann er das, wie Jesus, ohne sichtbares Geländer auf dem Wasser gehen?
Petrus traut sich, er wagt etwas. Er will nicht länger bei den müden, ängstlichen Jüngern im Boot bleiben, die bloß klagen und schlottern, was in dieser stürmischen, finsteren Nacht wohl noch alles auf sie zukommt, wann und wie sie wohl untergehen werden… Schreckensbilder stehen ihnen vor Augen, wie uns täglich Katastrophenbilder erreichen: Hitze und Dürre, Überschwemmungen und Stürme aufgrund des Klimawandels. Krieg, große Fluchtbewegungen, eine immer ungerechtere Verteilung von Lebensmitteln, Wasser und Energie auf der Welt.
Wir hocken, denke ich, so ähnlich wie die Jünger oft noch viel zu jammerig oder auch schweigend und tatenlos in unserem Boot, anstatt auszusteigen und auf eine viel schnellere Umsetzung der Klimaziele zu drängen. Auszusteigen dann natürlich auch aus unserem gewohnten, liebgewonnenen Konsum-, Reise- und Freizeitverhalten. Wer ist so mutig wie Petrus und versucht, einen Weg zu gehen, bei dem nicht klar und sicher und tausendmal erprobt ist, ob und wie er zum Ziel einer besseren Zukunft oder zum Überleben unseres Planeten führt? Festkleben hilft nicht – aber Kleben am Gewohnten und an Privilegien bringt uns auch nicht voran.
Mehrere von euch Jugendlichen haben den Vers gewählt: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ Und als Mauern identifiziert ihr neben Leistungsdruck, Trauer oder Unsicherheit in persönlichen Beziehungen vor allem die große Angst vor der Zukunft, die viele von uns umtreibt. Einer von euch schreibt in seinem Text: „Die Zukunft hat für meine Generation so viele neue, verzweifelte, schwierige Aufgaben, die ohne Zuversicht gar nicht mehr zu schaffen sind.“
Glauben hat immer eine äußere und eine innere Seite. Herz, Verstand und Hand gehören dazu, Taten und Zuversicht. Menschen, die religiöse Texte und Zeichen lesen und übersetzen können, sind eindeutig im Vorteil, wenn es um die Stärkung von Handlungsfähigkeit, Resilienz und Hoffnung geht.
Denn wir glauben – ihr glaubt, so bekennt ihr es heute – dass ihr nicht allein seid, nur auf eure individuellen Fähigkeiten und euer unmittelbares Umfeld angewiesen. Es gibt Jesus, der einem in Dunkelheit und Sturm, in Angst oder Verzweiflung entgegenkommt. Die Hand ausstreckt, wie ein unsichtbares Geländer. Es gibt ein Schiff, in dem wir geborgen sind – nicht nur von unseren Familien und Freunden, sondern auch von Gott und von der christlichen Gemeinschaft, die sich auf Jesus Christus bezieht.
Und schließlich seid ihr in gewisser Weise selbst das Schiff, in dem Gottes Botschaft der Liebe auf die Erde oder zur Welt kommt. Ein Schiff, das jetzt Segel setzt und den eigenen Kurs absteckt, das Ziele ausmacht und Proviant lädt, das allein oder in einer Flotte segeln und andere mit an Bord nehmen wird…
Möge Gott guten Wind zu eurer Reise geben, einen haltbaren Anker, gut geschnittene Segel und ein stabiles Boot! Und euch den Glauben, dass ihr mit Gottes Hilfe ausfahrt. Amen.