Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Literaturgottesdienst: Kinderbücher
Pastorin

Andrea Busse

Predigt am 17. September 2023

1. Petrus 4, 10f

Lesungen aus Rico, Oskar und die Tieferschatten

„Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass ich Rico heiße und ein tiefbegabtes Kind bin. Das bedeutet, ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten. An meinem Gehirn liegt es nicht, das ist ganz normal groß. Aber manchmal fallen ein paar Sachen raus, und leider weiß ich vorher nie, an welcher Stelle. Außerdem kann ich mich nicht immer gut konzentrieren, wenn ich etwas erzähle. Meistens verliere ich dann den roten Faden, jedenfalls glaube ich, dass er rot ist, er könnte auch grün oder blau sein, und genau das ist das Problem. In meinem Kopf geht es manchmal so durcheinander wie in einer Bingotrommel.“

Der elfjährige Rico, der eigentlich Frederiko Doretti heißt und von seiner Mutter allein erzogen wird, wohnt in Berlin in der Dieffenbachstraße, der Dieffe 93. Dort trifft er eines Tages auf einen anderen Jungen:

„Ich hob den Kopf. Der Junge, der da vor mir stand, reichte mir gerade so an die Brust. Das heißt, sein dunkelblauer Sturzhelm reichte mir bis an die Brust. Es war ein Sturzhelm, wie ihn Motorradfahrer tragen. (…) Es sah total beknackt aus.“

Kaum haben die beiden ein paar Sätze miteinander gesprochen, sagt dieser Junge:

„Kann es sein, dass du ein bisschen doof bist?“
Also echt!
„Ich bin ein tiefbegabtes Kind.“
„Tatsache?“ Jetzt sah er wirklich interessiert aus. „Ich bin hochbegabt.“
Nun war auch ich interessiert. Obwohl der Junge viel kleiner war als ich, kam er mir plötzlich viel größer vor. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Wir guckten uns so lange an, dass ich dachte, wir stehen hier noch, wenn die Sonne untergeht.
Ich hatte noch nie ein hochbegabtes Kind gesehen, außer mal im Fernsehn bei Wetten, dass Da war mal ein Mädchen gewesen, das spielte wie eine Bekloppte irgendetwas total Schwieriges auf einer Geige.“ (….)
„Ich muss jetzt weiter, sagte ich endlich zu dem Jungen. „Bevor es dunkel wird. Sonst verlaufe ich mich womöglich.“ (…)
„Du bist wirklich doof, oder? Wenn man etwas direkt vor Augen hat und nur geradeausgehen muss, kann man sich unmöglich verlaufen.“ (…)
„Ach ja, ICH kann das. Und wenn du wirklich so schlau wärst wie du behauptest, wüsstest du, dass es Leute gibt, die das können.“
„Ich…“
„und ich sag dir noch was: Es ist kein bisschen witzig!“
Alle Bingokugeln waren auf einmal rot und klackerten durcheinander.
„Ich hab mir nicht ausgesucht, dass aus meinem Gehirn manchmal was rausfällt! Ich bin nicht freiwillig dumm oder weil ich nicht lerne!“
„He, ich …“
„Aber du bist ja wohl eins von den Superhirnen, die alles wissen und dauernd mit irgendwas angeben müssen, weil sich nämlich sonst keiner für sie interessiert, außer wenn sie im Fernsehn Geige spielen.“
Es ist total peinlich, aber wenn ich mich heftig über etwas aufrege, zum Beispiel Ungerechtigkeit, fang ich an zu heulen. Ich kann überhaupt nichts dagegen machen. (…)
Jetzt sagte der Junge gar nichts mehr. Er guckte runter auf seine Sandalen. Dann guckte er wieder hoch. Seine Lippen waren ganz schmal geworden. Er streckte eine Hand aus. Sie war so klein, dass die doppelt in meine passte.
„Ich heißte Oskar und ich möchte mich aufrichtig bei dir entschuldigen. Ich hätte mich nicht über dich lustig machen dürfen. Das war arrogant.“
Ich hatte keine Ahnung, was er mit dem letzten Wort meinte, aber die Entschuldigung hatte ich verstanden.

Rico wird von anderen Kindern – und auch Erwachsenen – gemobbt, weil er tiefbegabt ist, Oskar, weil er diesen Helm trägt. Auch Ricos Mutter starrt ihn an, als sie ihn das erste Mal sieht.

„Sie mag dich“ sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. „Sie weiß noch nicht, ob sie mich mag. Sie findet mich komisch wegen des Helms.“ Er klappte das Visier runter. Seine Stimme klang jetzt wieder ganz dröhnig. „Jedes Jahr verunglücken fast vierzigtausend Kinder in Deutschland. (…) Die meisten erwischt es auf dem Schulweg oder nachmittags beim Spielen.“ murmelte Oskar düster weiter. (…) „Von den Fußgängern meistens, weil sie ohne zu gucken über die Straße gehen. Ich gucke immer. Immer!“
Mit fiel der Unterschied zwischen uns auf: Ich habe fast dauernd gute Laune. Weiß aber nicht so viel. Oskar wusste jede Menge merkwürdiger Dinge, aber seine Laune war dafür im Keller. Bestimmt war das so, wenn man sehr schlau ist – es fallen einem zum allen schönen Sachen auch gleich noch ein paar schreckliche ein.

Predigt:

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Er segne unser Reden und Hören. Amen.

Amen – dieses Wort würde sicher auch ein Kästchen in Ricos Privatwörterbuch bekommen. Vielleicht würde er schreiben:

Amen
Das sagt man zum Schluss. Aber manchmal (wie jetzt) geht auch eine Rede damit los, was schon mal total unlogisch ist.
Amen ist so, wie wenn in den Indianergeschichten – die man nicht mehr so nennen soll – der Häuptling – den man nicht mehr so nennen soll – sagt: Howgh ich habe gesprochen.

Sie merken, wie kompliziert das alles ist und wie schwierig zu be-sprechen. Vielleicht klackern da auch bei Ihnen im Hirn ein bisschen die Bingokugeln und Sie können sich etwas in Rico einfühlen. Überhaupt ist „Rico, Oskar und die Tiefer­schatten“ eine Einfühl-Geschichte mit unglaublich vielen Schattierungen.

Der Autor Andreas Steinhöfel nimmt uns mit in ein ganz spezielles Berliner „Miljöh“, das er unglaublich einfühlsam be­schreibt. Als Leserin laufe ich durch dieses Mietshaus in der Dieffenbachstraße, rieche den Mief aus Bohner­wachs­gestank und Bratendüften im Treppenhaus und höre die Geräusche hinter den Türen: überlaute Fernsehapparate, das Kreischen von Kindern, das Schlurfen von alten Männern. Und ich lerne die Bewohner:innen des Hauses kennen:

Den alten Fitzke aus dem vierten Stock, den Sicherheits­manager Marrak mit seinem fetten Schlüsselbund aus dem fünften, die Nachbarin, deren Gefühle im Rollstuhl sitzen, seit ihr Mann ihr abhandengekommen ist, und die gerne den tiefbe­gabten Rico verwöhnt – und zwar pädagogisch völlig un-wert­voll. Und natürlich Ricos alleinerziehende Mutter – Geschäfts­führerin in einem Nacht­club, die gerne Marienkäfer auf den Finger­nägeln trägt und so enge Jeans, dass man sie beinahe heraus­schneiden muss.

Vordergründig ist das Buch erstmal einfach ein Kinderkrimi, eine Hauptstadt-Detektivgeschichte. Denn Mister 2000 treibt als Kinderentführer sein Unwesen. Die Besonderheit an ihm ist, dass er einen Sonderpreis macht, weshalb er auch der ALDI-Entführer genannt wird. Er ver­schleppt nicht den Nachwuchs der Reichen oder Prominenten, sondern einfach beliebige Kinder von der Straße und verlangt „nur“ 2000 €. Denn bei dieser „lächerlichen“ Summe schalten die Eltern die Polizei gar nicht erst ein, sondern zahlen einfach. Rico hat schon ange­fangen zu sparen, damit seine Mutter, die ständig knapp bei Kasse ist, das Geld auch hat, falls es ihn erwischt.

Insofern ist es nicht erstaunlich, dass man in dem Buch eine späte Nachfolge von Kästners „Emil und die Detektive“ gesehen hat. Und es ist sicher kein Zufall, dass Steinhöfel dem schlauen Emil seinen tiefbegabten Rico gegenübergestellt hat und damit in Frage stellt, wie wir Begabungen bewerten. Die alleiner­ziehen­de Mutter ist so auch ziemlich die einzige Gemein­samkeit, die Emil und Rico haben. Wobei Ricos Mutter nicht als züchtige Friseurin, sondern eben nachts in einer Bar arbeitet und ihren Busen als ihr Betriebskapitel bezeichnet. Und – sie ist eine tolle Mutter, auch wenn sie Rico kein Biogemüse, sondern Fischstäbchen kocht – und schon wieder werden unsere Bewertungen in Frage gestellt, diesmal unsere Vorstellungen von „richtiger Erziehung“.

Erziehungsfragen waren für den Autor nach eigener Aussage ein entscheidender Antrieb, diese Geschichte zu erzählen, nämlich – Zitat – „aus Wut über Eltern, die ihren Kindern eine Höllenangst vor der Welt einimpfen. (….) Die Kinder werden überallhin gefahren, man sieht sie nicht mehr alleine im Wald spielen, ihr Bewegungsradius ist extrem eingeschränkt. (…) Sie lernen nicht hinfallen und wieder aufstehen. Das ist traurig.“ So Steinhöfel.

Symbol für diese „Höllenangst“ ist der Sturzhelm, den Oskar trägt, um sich vor den Gefahren der Welt zu schützen. Und der ihn doch nicht davor rettet, in die Hände von Mister X zu fallen.

Ja, es ist nicht nur ein Buch über vorhandene oder fehlende Begabungen, sondern auch über Angst und Ängste. Hinter dem Mietshaus, in dem Rico – von seiner Mutter oft sich selbst überlassen – vertrauensselig herumwandert, hinter diesem Mietshaus liegt das Hinterhaus. Nach einer Gasexplosion ist es einsturzgefährdet und deswegen unbewohnt. Nachts, wenn Ricos Mutter zur Arbeit geht und er alleine in der Wohnung ist, wird es zur Projektionsfläche für seine Ängste:

„Ich muss da einfach immer rübergucken. Ich hab schon oft überlegt, Mama darum zu bitten, Gardinen aufzuhängen oder ein Rollo. (…) Manchmal glaube ich, hinter den Schatten in der (…) Wohnung noch tiefere Schatten zu sehen, die durch die leeren Zimmer huschen. Ich weiß zwar, dass ich mir diese Tieferschatten nur einbilde, aber das macht die Sache nicht leichter. (…) Deshalb ziehe ich mir vor dem Einschlafen meistens die Decke über den Kopf.“

Spätestens hier kann ich mich wirklich gut in Rico einfühlen. Wer kennt das nicht, dass man vor manchen Dingen, die uns Angst machen, gerne die sprichwörtliche Decke über dem Kopf ziehen würde. Wer kennt nicht diese huschenden, schwer zu greifenden Tieferschatten im Hinterhaus unseres Lebens, von denen wir genau wissen, dass weder Rollo, noch Gardine, noch Bettdecke uns davor schützen und auch nicht das Wissen, dass sie eingebildet sind. Ich glaube jeder Mensch hat seine Tiefer­schatten – was für eine wundervolle Wortschöpfung! – jeder Mensch hat seine Tieferschatten in den einsturzgefährdeten Bereichen des Lebens.

Es ist das Schöne, das Heilsame eines Kinderbuches, dass wir an die Hand genommen werden – in diesem Fall von einem angeblich tiefbegabten Kind, das uns vormacht, wie man sich diesen Schatten stellt. Rico muss dafür natürlich unter seiner Bettdecke vorkriechen. Er tut das, er kann das – weil er seinen Freund retten will. Und um die Schatten endgültig ins Licht zu zerren, braucht er wiederum seinen schlauen Freund, der ihm erklärt, wie man den komplizierten Mechanismus des Lichtschalters anknipst.

Jeder und jede von uns muss sich den je eigenen Schatten selbst stellen, muss alleine losgehen und ist doch angewiesen auf andere. Wir brauchen Menschen, die uns ergänzen, und wir brauchen die Zuwendung zu anderen, um den Mut aufzu­bringen, in die dunklen Ecken zu gucken.

In Bibel wird genau das immer wieder beschrieben: In den alten Geschichten von Menschen, die sich in Freundschaft ver­bunden sind und die einander brauchen, wie z.B. David und Jonathan. Oder in den Briefen des Neuen Testaments, die uns klar machen, dass wir mit unseren unterschiedlichen Bega­bungen aneinander verwiesen sind. Oder einfach in dem kurzen Satz: Fürchte dich nicht!, der in der Bibel angeblich genau 365 Mal vorkommen soll, also sozusagen für jeden tag des Jahres einmal. Ich habe es ehrlich gesagt nicht nach­gezählt.

Es sind die Kernbotschaften unseres Glaubens: Die Angst soll nicht unser Leben bestimmen. Und wir sind nicht allein: Gott stellt uns Menschen an die Seite, die auf uns, und auf die wir ange­wiesen sind. Genau diese Geschichte erzählt auch Andreas Steinhöfel – und zwar so liebevoll, dass man richtig Lust bekommt, unter der eigenen Bettdecke vorzulinsen.

Das Buch macht Mut. Und gleichzeitig weist es uns auch zu­recht. Immer mal wieder habe ich das Gefühl, wie Oskar den Kopf senken und mich entschuldigen zu müssen, bei denen, deren (ja meist nur sehr begrenzte) Tiefbegabung ich ungnädig beobachtet habe. Wenn ich ungeduldig war, weil andere zu langsam kapieren, reden, handeln. Weil ich glaubte, Dinge besser zu wissen oder besser machen zu können. Und dabei meine Maßstäbe absolut gesetzt habe.

Dadurch, dass wir alles aus Ricos Perspektive wahrnehmen geschieht zweierlei: Wir werden ein bisschen beschämt für die Urteile, die wir so schnell über andere fällen: über Leute mit Bingokugeln im Kopf oder Sturzhelmen auf dem Kopf. Und wir werden sehr behutsam auf die je eigenen Tief­bega­bung aufmerksam gemacht. Natürlich will ich mir das nicht angucken, wovon ich weiß, dass ich es nicht gut kann, natürlich lauern genau da meine Ängste, meine Schatten – die eingebil­deten und die echten. Und ich glaube jeder von uns hat Be­reiche im Leben, wo unser Radius deswegen sehr be­schränkt ist, wo wir nur geradeauslaufen können, so wie Rico, weil wir unglaubliche Angst haben, dass wir verloren gehen könnten, wenn wir rechts oder links vom Weg abweichen. Aber im Grunde genommen wissen wir auch, wie un­flexibel wir des­wegen sind.

Rico leidet unter seiner Tiefbegabung – keine Frage, kein Grund, das schön zu reden. Aber seine pädagogisch fragwürdig agierende Mutter hat ihm beingebracht, dazu zu stehen. Es nicht zu kaschieren. Das wäre doch echt mal was: Wenn wir zu unseren Tiefbegabungen stehen könnten, im Vertrauen darauf, dass es um uns herum andere begabte Menschen gibt oder anders begabte Menschen, die für uns im Notfall das Licht an­schalten können.

Und insofern ist für mich diese Geschichte wirklich eine „Ein­fühl­geschichte“, eine Anregung für ein gutes Miteinander in Beziehungen, Familien, Freundeskreisen und in der Gemeinde. Sie ist eine wunderbare Veranschaulichung von den biblischen Versen aus dem 1. Petrusbrief, mit denen ich den Gottesdienst begonnen habe:

Dient einander mit den Fähigkeiten, die Gott euch geschenkt hat – jeder und jede mit der eigenen, besonderen Gabe! Dann seid ihr gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes.

Amen.