Schmerz und Trost
Gottesdienst zur Ausstellungseröffnung "Lichtgelb und Schhatenblau" - Regine von Bredow
Lichtgelb und Schattenblau – so hängen seit Freitag Bilder der Künstlerin Regine von Bredow an unseren Kirchenwänden. Zum Teil biblische Motive – mal mehr, mal weniger eindeutig. Passionsbilder – nicht nur, aber auch. Dornenkrone, Kreuzigung. Lichtgelb und Schattenblau – wollen sie uns durch die Passionszeit begleiten.
Vor uns liegen Wochen, in denen wir an das Leiden und Sterben Jesu denken. Schwierige biblische Erzählungen von Verleugnung und Verrat, vom menschlichen Scheitern, von Hass und Gewalt, Angst und Trauer. Erzählungen, die uns an unser eigenes Scheitern erinnern, unsere Angst, unser Versagen. Die uns unsere eigene Traurigkeit und unseren Schmerz näher rücken: Kränkungen, Verletzungen, die wir mit uns herumschleppen, Trauer, die unser Leben geprägt hat und prägt. All diese Gefühle werden hier in unserer Kirche in den nächsten Wochen eingetaucht in Lichtgelb und Schattenblau. Die beiden Farben stehen für das Schwere und das Schöne, für den Schmerz und den Trost. Und ich bin froh, dass die Künstlerin nicht schwarz weiß gewählt hat, denn Schwarz-weiß-Malerei bringt selten weiter, wenn man den Schmerz zulässt und nach Trost fragt.
Eines dieser gelb-blauen Bilder habe ich für heute ausgesucht, um es mit Ihnen näher zu betrachten. Sie haben es hoffentlich alle in Händen. Eine Mutter mit ihrem Kind. Sie dunkel, das Kind ganz goldgelb. Sehr friedlich beide, die Körper eng beieinander. Beide haben die Augen geschlossen, sie sehen sich nicht, spüren sich nur. Das Kind könnte auch schlafen. Mutter und Kind sind in einem Raum – auch der in warmen Farben ausgemalt, gelb, ocker, organge. Die Tür steht offen und draußen ist alles dunkelblau.
Eine Mutter hält ihr Kind im Arm. Das ist vielleicht der Inbegriff von Trost. Frühkindliche Erfahrung von fast allen Menschen. Für mich zumindest ist es eine meiner frühestens Erinnerungen: Ich habe keine Ahnung mehr, wie alt ich war, aber der Tag hat sich mir eingeprägt, denn ich hatte mein Lieblingskuscheltier verloren, einen kleinen goldgelben Bären. Nach einem Ausflug auf den Spielplatz war er weg, nicht mehr aufzufinden, weder im Sandkasten, noch unter der Schaukel, noch sonst irgendwo. Alles Suchen half nichts. Und ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Meine Mutter setze mich auf ihre Knie, nahm mich in den Arm, schaukelte mich leicht hin und her. Ich spüre noch, wie ihre Hand sanft meinen Rücken streicht, während ich schluchze und schluchze. Sie versucht nicht, mein Weinen zu unterbrechen, es zu beenden, die ganze Sache zu beschleunigen. Sie lässt mir Zeit, bis ich wirklich nicht mehr kann, bis die letzte Träne geweint ist und ich nur noch wohlig warm in ihrem Arm liege. Und obwohl das Kuscheltier definitiv weg ist, ist die Welt zwar anders als vorher, aber irgendwie wieder in Ordnung. Ich bin ich geborgen und sicher. In diesen Armen weiß ich: Keiner kann mir was und irgendwie wird alles gut.
Natürlich habe ich später gelernt, dass nicht immer alles gut wird. Und trotzdem hat der Trost seine Kraft nicht verloren. Dieses Bild – Kind auf dem Arm der Mutter – drückt es gut für mich aus: Wenn sich das Schwere selbst nicht verändern lässt, dann vielleicht die Kraft, mit der es getragen wird. Je mehr mittragen, desto leichter das Gewicht für den Einzelnen. Und hier trägt die Mutter ihr Kind und damit auch all das, was das Kind belastet. Das ist ja das Erste, was wir als Menschen spüren: Die Mutter, die uns trägt. Zunächst im eigenen Bauch, später dann, solange uns die eigenen Beine noch nicht tragen, vielleicht in einem Tuch am Körper, und noch später hoffentlich durch den Trost, mit dem sie uns in die Arme schließt. Davon wird die Situation nicht besser: Das Knie ist immer noch aufgeschlagen, die fünf in Deutsch steht immer noch im Heft, aber für einen Moment ist die schwere, schattenblaue Welt da draußen und ich kann mich in den warmen, den lichtgelben Dunstkreis der Umarmung flüchten. Und ich weiß im besten Falle: Selbst wenn alles schief geht, selbst wenn ich versage, da sind offene Arme, die mich aufnehmen, die mich annehmen.
Dieses Bild wählt Gott von sich selbst, wenn er sagt:
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Das Wort aus den Jesajabuch hat die Künstlerin inspiriert für ihr Gemälde von Mutter und Kind. Ziemlich ungewohnt, so ein weibliches Bild von Gott. Gott als Mutter. Und der Prophet malt es ja noch weiter aus: Gott wie eine stillende Mutter, er stillt – nein, jetzt muss man wohl definitiv sagen: sie stillt die Sehnsucht ihres Volkes. Das Volk Israel hat viele schwere Jahre hinter sich und steckt noch mitten in der Krise: Die Hauptstadt Jerusalem wurde erobert, der Tempel Gottes zerstört, die Bewohner:innen ins Exil verschleppt. Viele Jahre saßen sie in Babylon und weinten, bis sie endlich wieder zurückkehren durften in die Heimat. Aber die ersehnte Rückkehr endet in einer bitteren Enttäuschung: Sie kommen in ein Nachkriegsland. Die Stadt ist zerstört, die Menschen verarmt. Nichts erinnert mehr an das strahlende Jerusalem auf dem Berg, einst Machtzentrum der Region und Religion. Alles ist in Frage gestellt – auch Gott. Ist er überhaupt noch da? Kümmert er sich noch um sein Volk? Die Bewohner:innen Jerusalems sind am Ende ihrer Kraft und ihrer Hoffnung. Sie brauchen Trost.
Und dann schickt Gott seinen Propheten und lässt ihn sagen:
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Damit sind die Häuser und Straßen Jerusalems noch nicht wieder aufgebaut, der Alltag bleibt weiterhin hart. Es wird Jahrzehnte dauern, bis der Tempel wieder steht. Das Problem ist nicht gelöst, das Leid nicht verschwunden. Aber es liegt nicht mehr nur auf den eigenen Schultern. Da ist jemand und schleppt das Schwere mit.
Vielleicht ist das die beste Beschreibung von Trost: Getragen werden. Unser deutsches Wort „Trost“ hängt ja mit dem Begriff „Treue“ zusammen oder auch mit dem englischen Wort „trust“ – Vertrauen. Darum geht es wohl: Um ein Grundvertrauen in das Leben. Und in die, die das Leben schenkt. Die Mutter. Oder den, der das Leben schenkt: Gott. Und zu dessen Trost wir vielleicht mehr Zugang und Zutrauen hätten, wenn unser Gottesbild nicht so männlich geprägt wäre. Das Bild der Künstlerin – die Mutter mit ihrem Kind – ist für mich ein wunderschönes Gottesbild, das uns die weibliche Seite Gottes näherbringen könnte.
Der Titel, den Regine von Bredow diesem Bild gegen hat, führt allerdings noch auf eine andere Fährte als das Bibelwort, das es begleitet. Der Titel lautet: Maria mit dem Kind. Damit schlägt die Künstlerin einen Bogen hinein in die Passionszeit. Das Kind, das Maria auf dem Arm hält, sieht eher noch weihnachtlich aus: Holder Knabe mit lockigem Haar. Ein kleiner Junge eben. Dieses Kind wird als Mann leiden – und Maria seine Mutter leidet mit. Sie wird ihn nicht schützen können vor dem, was auf ihn zukommt an Schmerzen. Aber sie bleibt dabei. „Es stand die Mutter schmerzerfüllt“ – Stabat mater dolorosa – so beginnt ein mittelalterliches Gedicht, das vielfach vertont und künstlerisch umgesetzt wurde. Auch hier in unserer Kirche steht Maria unter dem Kreuz ihres sterbenden Sohnes. Und er tröstet sie! Tröstet sie, indem er sie an Johannes verweist, den Jünger, der soll wie ihr Sohn sein, sie soll nicht allein bleiben. Da ist jemand, der mitträgt.
Trost – das heißt nicht allein gelassen werden und andere nicht allein lassen im Schmerz. Das heißt mittragen und aushalten, was an Schrecklichem passiert. Ich erlebe das immer mal wieder bei Einsätzen in der Notfallseelsorge. Wir Pastor:innen werden meist gerufen bei plötzlichen Todesfällen, im schlimmsten Fall ist ein Kind gestorben. Da ist jemand total im Schock und un-tröstlich. Man kann dann eigentlich gar nichts tun, man kann auch nicht viel sagen. Man kann einfach nur dableiben und die Situation mit-tragen. Aushalten. Manchmal ist die Versuchung groß zu sagen. „Ich kann jetzt ja nichts mehr für Sie tun, ich geh dann mal.“ Aber man kann viel tun: Wenn man eben die Hilflosigkeit aushält, da bleibt, mitträgt.
Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Dieses Wort möge uns eine gute Begleitung sein in diesen Passionswochen. Vor allem aber in den Leidenszeiten unseres Lebens und unserer Welt. Wie damals in Jerusalem sehen wir ja zerstörte Häuser, Straßen, Städte – in der Ukraine durch den Krieg, in der Türkei durch das Erdbeben, in Syrien durch beides. Und obwohl wir selbst nicht betroffen sind, rühren mich die Bilder an, sie schmerzen mich, sie führen mir meine Hilfslosigkeit vor Augen und stellen die Hoffnung in Frage. Aber wir müssen nicht untröstlich bleiben. In jedem Leid gibt es diesen kleinen lichtgelben Raum, in den wir uns flüchten können. Einen Moment gehalten und getragen werden von den göttlich-mütterlichen Armen. Das Dunkle draußen ist dann nicht weg, die Tür fällt nicht ins Schloss. Unser Glaube schneidet uns nicht ab von der Realität, aber er bietet einen Zufluchtsort bei dem, der von sich sagt:
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Amen.