Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Seele in Not

Seele in Not

Psychische Erkrankungen und der Umgang damit
Pastorin

Andrea Busse

Gottesdienst in der Reihe Denken & Beten am 7. Mai

Predigt zu 1. Samuel 16, 14-23

Predigttext:

Der Geist des HERRN aber wich von Saul, und ein böser Geist vom HERRN verstörte ihn. Da sprachen die Knechte Sauls zu ihm: Siehe, ein böser Geist von Gott verstört dich. Unser Herr befehle nun seinen Knechten, die vor ihm stehen, dass sie einen Mann suchen, der auf der Harfe gut spielen kann, damit, wenn der böse Geist Gottes über dich kommt, er mit seiner Hand darauf spiele, und es besser mit dir werde. Da sprach Saul zu seinen Knechten: Seht nach einem Mann, der des Saitenspiels kundig ist, und bringt ihn zu mir. Da antwortete einer der jungen Männer und sprach: Ich habe gesehen einen Sohn Isais, des Bethlehemiters, der ist des Saitenspiels kundig, ein tapferer Mann und tüchtig zum Kampf, verständig in seinen Reden und schön, und der HERR ist mit ihm. Da sandte Saul Boten zu Isai und ließ ihm sagen: Sende deinen Sohn David zu mir, der bei den Schafen ist. Da nahm Isai einen Esel und Brot und einen Schlauch Wein und ein Ziegenböcklein und sandte es Saul durch seinen Sohn David. So kam David zu Saul und diente ihm. Und Saul gewann ihn sehr lieb, und er wurde sein Waffenträger. Und Saul sandte zu Isai und ließ ihm sagen: Lass David mir dienen, denn er hat Gnade gefunden vor meinen Augen. Wenn nun der Geist Gottes über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So erquickte sich Saul, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.

Predigt

Psychische Erkrankungen sind keine Erfindung der Neuzeit. Schon in der Bibel finden wir viele Berichte davon:
Der Prophet Elia z.B., der mit einem überzeugenden, macht­vollen Auftritt die falschen Propheten des Königs entlarvt, hat hinterher einen klassischen Burnout: Er zieht sich zurück in die sprichwörtliche Wüste und will nur noch sterben: „Es ist genug“, sagt er, „ich kann nicht mehr“.
Jesus heilt Menschen, von denen man sagt, dass sie von Dämonen oder unreinen Geistern besessen sind.
Und auch König Saul hat es erwischt, wie wir eben in der Lesung gehört haben. Er ist verändert, verstört. Krank. In den weiteren Berichten über ihn können wir nachlesen, was die Symptome dieser Verstörung sind: Schwermut, Reizbarkeit, Neid, fehlende Impulskontrolle, extremes Misstrauen bis zum Verfolgungs­wahn.

Schon immer war es schwierig, Worte für das zu finden, was ein Mensch erlebt, wenn er psychisch krank ist. Wenn die Realität und die eigene Wahr­nehmung davon immer mehr auseinander­fallen, wenn alles gefühlt immer enger wird, nichts mehr durchdringt, man sich selbst nicht mehr spüren kann. Wir haben heute Diagnosen, vermutlich würden wir sagen: Saul war depressiv. Vielleicht hatte auch er einen Burnout – sicher waren seine Regierungsgeschäfte ziemlich anstrengend. Damals sagte man: ein böser Geist. Man versuchte Erklä­rungen zu finden. Und wie man alles, was einem widerfuhr, auf Gott zurückführte, so auch hier: Ein böser Geist vom Herrn, von Gott.

Das stößt uns heute seltsam auf. Gott dafür verantwortlich machen, wenn ein Gemüt krankt? Ich tue mich schwer damit. Ich weiß, dass es auch gläubigen Menschen gerade in einer Depression schwerfallen kann, sich an Gott zu wenden, Gott überhaupt noch etwas zuzutrauen. Ich weiß, dass es anderen hilft, genau das zu tun, dass eine gute Gottesbeziehung im Gemüt Widerhall finden kann, sich Verstörungen lösen können. Manchmal, vielleicht. Aber die Ursache einer Krankheit allein in einer gestörten Gottesbeziehung zu suchen, das widerspricht meinem Gottesbild. Und zu erwarten, dass die Heilung irgend­wie auf wunder­same Weise vom Himmel fällt, auch.

Das tut auch König Saul nicht. Und nicht sein Gefolge. Im Gegenteil, in der Geschichte von König Saul geschieht etwas Erstaunliches. Nämlich die Knechte machen den Mund auf. Das entspricht sicher nicht den höfischen Gepflogenheiten, dass Diener ungefragt und ungebeten den König ansprechen und ihm dann auch noch spiegeln: „Du bist verstört, ein böser Geist beherrscht dich“. Sie gehen sogar noch weiter: Sie nehmen ihrem König, der nicht mehr entscheiden und regieren kann, das Heft des Handelns aus der Hand, indem sie ihm sagen, was er tun soll, bzw. was er ihnen zu tun befehlen soll. „Befehle nun deinen Knechten, dass …. – sagen sie. Und empfehlen das, was man heute vielleicht Musiktherapie nennen würde.

Ich finde wir können sehr viel von diesen Knechten lernen, was den Umgang mit psychischen Krankheiten, mit psychisch Erkrankten angeht: Nicht wegschauen, nicht so tun, als ob das alles normal wäre. Wahrnehmen, dass der andere leidet und es spiegeln. Sich nicht scheuen, das auch auszusprechen, zu benennen: Ich sehe, da ist etwas nicht in Ordnung mit dir, du leidest, du bist verstört. Und: eine Behandlung suchen. Andere Menschen, qualifizierte, kompetente, die helfen können.

Und genau da sehe ich Gott im Spiel. Nicht der willkürliche Herrscher, der gute Geister entzieht und böse schickt, sondern Gott, der uns Menschen an die Seite stellt und durch sie handelt. Und der uns offene Augen und Kraft gibt, anderen zu solchen Menschen zu werden. Dass es so viele Heilungsgeschichten von Jesus gibt, ist bezeichnend: Gott will, dass Menschen heil sind und heil werden. Wobei heil und gesund zwei unterschiedliche Dinge sind. Ich kenne viele Menschen – und Sie sicher auch – die chronisch krank sind. Ich denke da z. B. einen Bekannten, der im Rollstuhl sitzt, und eine schwer herzkranke Frau aus meinem Freundeskreis. Beide erlebe ich als viel „heiler“ – also zufrieden mit sich und ihrem Leben – als manche andere Person, die vor Gesundheit strotzt. Ich kenne auch psychisch kranke Men­schen, die mit Hilfe von Medikamenten und Therapeutinnen ein Leben führen, mit dem sie wunderbar klarkommen, ohne dass sie sagen würden: „Ich bin gesund“.

Wenn wir also fragen: Was ist unser Umgang als Christen und Christinnen mit psychischen Erkrankungen, dann ist das eigentlich – wie immer – ein seelsorgerlicher. Sich sorgen um einen anderen Menschen aus dem Glauben heraus, dass dieses Leben einen Wert und eine Würde von Gott her hat, die nicht vom Gesundheitszustand abhängen. Sich sorgen um eine Seele, die in Not ist. Diese Not sehen. Sie nicht wegreden, klein machen. Sie aushalten. Den Kontakt nicht meiden, sondern suchen, gerade mit Menschen, denen in dieser Situation Kontakt schwerfällt. Und ja: mit psychisch kranken Menschen in akuten Situationen in Kontakt zu bleiben, das ist manchmal eine echte Herausforderung. Ich fühle mich hilflos, ratlos, machtlos – gegenüber diesen bösen Geistern, gegen­über einer Niedergeschlagenheit, gegen die nichts ankommt. Oder gegen­über Verhaltensmustern, die nicht freundlich mit sich oder den Mitmenschen umgehen.

Da fühlen wir uns nicht nur hilflos, wir sind es oft auch. Da braucht es andere Menschen. Wir können und müssen nicht eben mal schnell lernen, Harfe zu spielen, um diese Menschen zu behandeln. Aber – glück­licherweise – hat Gott uns unter­schiedliche Begabungen gegeben. Und ich bin dankbar, dass unsere medizinische Forschung Menschen mit psychischen Erkrankungen inzwischen so viel besser helfen kann. Ich bin dankbar für ein medizinisches System hier, das bei aller berechtigter Kritik, doch ein gutes Auffangbecken für die „bösen Geister“ bietet und es schaffen kann, diese, wenn vielleicht nicht auszutreiben, so doch an die Leine zu legen.

Unsere Aufgabe ist es hinzuschauen, den Mund aufzumachen, Menschen zu begleiten und jemanden zu suchen, der Harfe spielen kann. Das werden dann keine Schunkellieder sein, mit denen man die belastete Stimmung „wegmacht“, sondern vermutlich eher Lieder, die es erlauben, der melancholischen oder auch aggressiven Stimmung eine Stimme, einen Ausdruck zu geben. Auch Psalmen sind solche Lieder. Es ist ja kein Wunder, dass viele von ihnen auf David zurückgeführt werden, eben auf den Harfenspieler, den Saul damals an seinen Hof holte. Die Melodien der Psalmen sind verloren, aber sie bieten uns Bilder, um das zum Ausdruck zu bringen, wofür es oft so schwer ist, Worte zu finden. Unserer biblischen Tradition sind mensch­liche Abgründe nicht fremd. Sie gibt uns eine Sprache an die Hand, um diese zu beschreiben. Um die Angst und die Hoffnungs­losigkeit in Worte zu kleiden, damit es nicht einfach nur eine namenlose Verzweiflung bleibt.

Es wird immer mal wieder gefragt, ob der Glaube hilft gegen psychische Erkrankungen, also ob einen Zusammenhang zwischen Religiosität und mentaler Stabilität besteht. Ich habe gelesen, dass es mehr als 180 Studien dazu gibt. Und ohne diese Studien studiert zu haben, würde ich sagen: Ein „gesunder“ Glaube kann helfen, Lebenskrisen konstruktiv zu bewältigen. Wenn man sich z.B. bewusst mit Verlusten auseinandersetzt. Oder wenn es möglich ist, die eigenen Anteile beim Entstehen einer Krise anschauen kann, weil man dann nicht gleich von der Schuldfrage erdrückt wird, sondern aus der Vergebung leben kann. Das Vertrauen, dass mein Wert nicht von meiner Gesundheit und meiner Leistung abhängt, kann helfen. Ebenso die Zuversicht und die Hoffnung darauf, dass Gott will, dass ich heil bin oder werde. Ein „gesunder“ Glaube kann dabei helfen, so habe ich eben gesagt und meine damit, dass man nicht verschweigen darf, dass es schon immer auch Frömmigkeitsformen gab, die Menschen eher unter Druck setzen, einengen und psychische Probleme damit eher fördern.

Und trotzdem bin ich überzeugt davon, dass wir in unserer biblischen Tradition einen Schatz und in unserem Glauben einen Halt haben, der uns helfen kann, mit eigenen psy­chischen Problemen und mit denen anderer umzugehen. Dass uns die Bibel „Coping-Srategien“ für die Belastungen des Lebens an die Hand gibt. Dass der Glaube daran, Gottes geliebtes Kind zu sein, unseren Selbstwert stärken kann, dass die Gemeinschaft unserer Kirchengemeinden Menschen auffangen und Halt geben kann. Ich sage das in dem Wissen, dass wir Christen und Christinnen auch immer wieder daran scheitern. Und in der festen Überzeugung, dass all das kein Ersatz für eine notwendige ärztliche Behandlung ist. Aber unsere Aufgabe in dieser Gesellschaft ist es, die Hoffnung auf Heil wachzuhalten. Die Zuversicht, dass das Leben, auch mit einer Diagnose, gut gelingen kann. Amen.