Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Transformationen

Transformationen

Predigt zur Ausstellungseröffnung am 8. Oktober
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

18. Sonntag nach Trin., 8. Oktober 2023

Predigt zu Markus 10, 17–27

Predigttext: Markus 10, 17–27

Und als er hinausging auf den Weg, lief einer herbei, kniete vor ihm nieder und fragte ihn: Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? 18 Aber Jesus sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als der eine Gott. 19 Du kennst die Gebote: »Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.« 20 Er aber sprach zu ihm: Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf. 21 Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach! 22 Er aber wurde betrübt über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter. 23 Und Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern: Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! 24 Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte. Aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen: Liebe Kinder, wie schwer ist’s, ins Reich Gottes zu kommen! 25 Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme. 26 Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: Wer kann dann selig werden? 27 Jesus sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Transformationen“ haben Sie, liebe Gisela Floto, die Ausstellung Ihrer Bilder genannt, die bis Mitte November in unserer Kirche zu sehen ist.

„Transformationen“ – weil es eben nicht einfach Fotos sind, die wir sehen, sondern Bilder, die transformierende Prozesse durchlaufen haben. Durch Faktoren wie hinzugefügte Pflanzen, wie Wärme, Licht, Wasser oder den Faktor Zeit. Sie haben je für sich auf das ursprüngliche Foto eingewirkt und auch in ihren Verbindungen Prozesse, Reaktionen und Veränderungen bewirkt. An dem Ende, das Sie diesem Prozess als Künstlerin gesetzt haben, ist ein vollkommen neues Bild entstanden, das mit dem ursprünglichen Foto oft nur noch wenig zu tun hat.

Den Prozess der Transformation sehen wir nicht. Wir sehen Ergebnisse: Farben, Formen, Risse, Leerstellen, die entstanden ist. Und die in uns neue Bilder in Gang setzen können: Assoziationen, Gefühle, Einfälle… Wie eine nächste Stufe kreativer Entwicklung und Verarbeitung der Kunstwerke in uns.

„Transformation“ – das ist ein zentrales Wort unserer Zeit, das es bei vielen von uns klingeln lässt. Transformationen in gesellschaftlicher, in technologischer, in ökologischer Hinsicht… Wir stecken mittendrin in diversen Transformationsprozessen, ob wir wollen oder nicht, und können oft nur schwer erkennen, welche Faktoren da auf uns einwirken, wie sie zusammenwirken, ob und was sie blockieren oder beschleunigen, welche Resultate sie erzeugen…

Ich denke zum Beispiel an die Digitalisierung, die auf fast alle unsere Lebensbereiche einwirkt: die durch Digitalisierung geprägten Arbeitsplätze und neuen Berufsbilder, das mobile Arbeiten – und die dadurch veränderten sozialen Beziehungen zu Kolleginnen oder Teams, die neuen Anforderungen an den privaten Wohnraum, an Büros und Arbeitsplätze, die gesundheitlichen Konsequenzen, die Fragen von Medienerziehung und -konsum… Aber auch die durch digitale Transformation veränderte Kulturszene oder das Einkaufsverhalten… So viele umfassende, tiefgreifende Veränderungen!

Und für uns ist nicht immer – oder sogar eher selten! – auszumachen, wo wir eigentlich selbst in diesem Prozess stehen. Empfinden wir, bildlich gesprochen, Hitze und Druck oder Abwechslung und kreativen Freiraum? Sehen wir uns selbst eher als das ursprüngliche Foto, dem etwas unbekanntes Neues hinzugefügt wird, oder als eine lebendige Pflanze, ein Farbtropfen, der der alten, trägen Masse injiziert wird? Sind wir eher das Fotopapier oder der Lichtstrahl?

Und welche Möglichkeiten haben wir, den unabsehbaren Prozess der Digitalisierung selbst mitzugestalten – oder uns zumindest als Einzelne, als Familien, als Gruppen einigermaßen bewusst darin zu verhalten?

Ganz anders wird „Transformation“ zur Zeit in psychologischer, spiritueller oder philosophischer Hinsicht verstanden. Der Begriff taucht auf vielen Internetseiten, in Artikeln, Büchern und Vorträgen auf, wenn es darum geht, sich selbst zu verändern: Blockaden zu lösen, Entwicklungsschritte zu gehen, gesünder, liebevoller, gelassener, erlöster zu werden.

Für mich als Pastorin, spirituell, pädagogisch, psychologisch geschult, ist es manchmal erstaunlich, welches Zutrauen dabei in Übungen, Regeln und schematische Stufen gesetzt wird. Welches Selbstvertrauen es anscheinend im Blick darauf gibt, dass ich mich, mein Äußeres, mein Befinden, meine Gefühle, meine Partnerschaft wie auch mein Seelenleben selbst bewusst auf ein bestimmtes Ziel hin transformieren kann.

Sicher gibt es sinnvolle ethische Regeln, gesundheitsförderliche Lebensweisen, heilsame Rituale, therapeutische Möglichkeiten – aber ob das alles in unserer eigenen Hand liegt? Ob wir uns selbst innerlich dahin entwickeln können, wo wir hinmöchten, uns selbst erlösen können?

Mit Überraschung habe ich bei der Vorbereitung des heutigen Gottesdienstes, für den die Ausstellungseröffnung geplant war, gesehen, welche biblischen Texte diesem Sonntag zugeordnet sind: unter anderem aus dem Alten Testament die Zehn Gebote und aus den Evangelien die Geschichte vom reichen jungen Mann.

Der sich ja, so könnte man sagen, eine „Transformation“ seines eigenen Lebens wünscht. Er läuft zu Jesus, kniet sich vor ihm hin und fragt: „Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben bekomme?“ (Mk 10, 17)

Was mag er wohl mit dem Ausdruck „ewiges Leben“ gemeint haben? Was verstehen wir darunter?

„Ewiges Leben“ – das heißt vielleicht, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist. Dass etwas von mir und meinem Leben bleiben wird, obwohl ich einmal sterben muss. Dass ich bei Gott sein werde, „im Himmel“, wie wir sagen, und nicht ins Nichts falle und verloren gehe.

Vielleicht ist „ewiges Leben“ auch auf das Diesseits, auf mein Leben jetzt zu beziehen: dass ich schon in diesem Leben, in dieser begrenzten, irdischen Zeit in Kontakt mit Gottes ewiger, jenseitiger Zeit komme. Dass es Momente gibt, in denen ich schon jetzt Gottes Ewigkeit und Allgegenwart glauben oder spüren kann.

In dem Gespräch mit dem reichen Mann will Jesus sich eigentlich nicht auf diese Frage einlassen, wie der denn das „ewige Leben“ bekommen könne. Er lenkt ab, weist zunächst den Ehrentitel „guter Meister“ ab, mit dem er angesprochen wurde. Führt aus, dass allein Gott vollkommen „gut“ sei. So, als wolle Jesus sich nicht festlegen lassen, wie man denn „ewiges Leben“ oder Gottesnähe selbst herstellen oder haben kann.

Aber der Mann lässt nicht locker: „Alle guten Gebote habe ich von Jugend an gehalten.“ (Mk 10, 20) Erst da sieht Jesus ihn an und „gewinnt ihn lieb“, so wird es erzählt. Er spürt, dass es dem anderen ernst ist, dass der wirklich etwas für sich und seinen Lebensweg wissen will.

Jesus antwortet, wie so oft, überraschend: „Eins fehlt dir“, sagt er zu ihm. „Geh hin, verkauf alles, was du hast, und gib‘s den Armen. Dann wirst du einen Schatz im Himmel haben. Komm mit mir!“ (Mk 10, 21)

„Verkaufe, was du hast, verschenke es, gib es den Armen…“ – das ist die Aufforderung zum radikalen Besitzverzicht. Für Jesus neben dem Gewaltverzicht eine wesentliche Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu seiner Gruppe.

Wir, die wir heute hier zusammen sind, die wir uns auch als Teil dieser Gemeinschaft verstehen, wissen sofort, wie schwer das ist: auf unseren Besitz, unser Geld, unsere Konten und Kreditkarten zu verzichten. Immerhin, die meisten von uns geben etwas von ihrem Besitz ab, teilen mit anderen, schenken etwas an Ärmere – so wie zum Beispiel letzten Sonntag beim Erntedankfest.

Aber dieser radikale Aufruf, alles zu verkaufen oder zu verschenken, was wir haben – der fällt nur ganz selten in offene Ohren, wird nur von ganz wenigen Menschen so radikal umgesetzt. Es ist schwer loszulassen, was wir brauchen, was uns Sicherheit und Zufriedenheit schenkt, woran wir gewöhnt sind, was wir als einen Teil unserer eigenen Identität begreifen…

„Wo dein Schatz ist, da ist dein Herz“ (Matth 6, 21), sagt Jesus in einem anderen Zusammenhang. Und Luther hat zugespitzt formuliert: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ Diese Sätze legen – so empfinde ich es – den Finger in die Wunde, auf die empfindliche Stelle in uns, wo sich unsere Sehnsucht nach Gottes Nähe und unser Verhaftetsein in diesem, unserem Leben kreuzen. Wo Vertrauen, Liebe, Gelassenheit, Glück, vielleicht so etwas wie „das ewige Leben“, uns locken – und wir zugleich in unseren Ängsten, unserm Zögern, unserer Gier oder Bequemlichkeit wie in einem Sumpf stecken.

Innere Transformation gelingt schwer. Davon erzählt die Bibel ziemlich realistisch. Davon, wie wir uns selbst im Weg stehen in unserer Beziehung zu Gott, zu unseren Mitmenschen und uns selbst. Was es erschwert oder verhindert, dass wir aus uns selbst heraus, von ganz allein erlöst und „selig“ werden.

„Bei den Menschen ist‘s unmöglich, aber nicht bei Gott“, sagt Jesus am Schluss der Geschichte. „Denn alle Dinge sind möglich bei Gott.“ (Mk 10, 27) Und deutet damit eine Transformation an, in der Gott und Mensch zusammenspielen oder zusammenwirken. Prozesse, in denen Gottes Heiliger Geist oder Kraft oder Wärme oder Wahrheit mit uns reagieren, mit unserer Sehnsucht und Liebe, mit unserer Härte oder Enge. Und Gott in uns – als seinen Kunstwerken und Geschöpfen – Entwicklungen und Veränderungen, Farben und Formen bewirken kann, die wir selbst nicht vorhersehen, geschweige denn allein steuern können.

„Offene Kunstwerke“ sind in diesem Sinn nicht nur die Bilder, die jetzt in unserer Kirche ausgestellt sind, sondern auch wir selbst. In äußeren gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, aber auch – wenn wir uns darauf einlassen – in inneren Transformationsprozessen begriffen, in denen Gott als kreativer Künstler und wir als seine Kunstwerke „art in progress“ sind.

So berühre uns Gott auf die vielen Weisen, in denen er schaffen, sprechen, anstoßen, verändern und wirken kann. Und wir mögen uns berühren lassen und offen sein für die vielen Veränderungen, in denen wir stehen und in denen wir – so Gott will – immer wieder auch Gottes Zeit und Gegenwart erfahren. Amen.