Um des lieben Friedens willen
Gottesdienst am 21. Sonntag nach Trinitatis
Predigttext:
Abram war sehr reich an Vieh, Silber und Gold. Und er zog immer weiter vom Südland bis nach Bethel, an die Stätte, wo zuerst sein Zelt war, zwischen Bethel und Ai, eben an den Ort, wo er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief er den Namen des HERRN an. Lot aber, der mit Abram zog, hatte auch Schafe und Rinder und Zelte. Und das Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten; denn ihre Habe war groß und sie konnten nicht beieinander wohnen. Und es war immer Zank zwischen den Hirten von Abrams Vieh und den Hirten von Lots Vieh. Es wohnten auch zu der Zeit die Kanaaniter und Perisiter im Lande.
Da sprach Abram zu Lot: Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Brüder. Steht dir nicht alles Land offen? Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken. Da hob Lot seine Augen auf und sah die ganze Gegend am Jordan, dass sie wasserreich war. Denn bevor der HERR Sodom und Gomorra vernichtete, war sie bis nach Zoar hin wie der Garten des HERRN, gleichwie Ägyptenland. Da erwählte sich Lot die ganze Gegend am Jordan und zog nach Osten. Also trennte sich ein Bruder von dem andern, sodass Abram wohnte im Lande Kanaan und Lot in den Städten jener Gegend.
Als nun Lot sich von Abram getrennt hatte, sprach der HERR zu Abram: Hebe deine Augen auf und sieh von der Stätte aus, wo du bist, nach Norden, nach Süden, nach Osten und nach Westen. Denn all das Land, das du siehst, will ich dir geben und deinen Nachkommen ewiglich. Und ich will deine Nachkommen machen wie den Staub auf Erden.
Predigt:
Der 7. Oktober, als die Terrororganisation Hamas vom Gazastreifen aus ihren furchtbaren, traumatisierenden, re-traumatisierenden Überraschungsangriff auf Militär und Zivilbevölkerung von Israel startete, gilt als Zäsur. Eine neue schlimme Eskalationsstufe in diesem uralten Konflikt ist erreicht. Wie alt der Konflikt ist, macht unser Predigttext für heute klar. Natürlich lässt sich keine direkte Linie von Abraham und Lot zum Terror im Nahen Osten ziehen, aber Vieles hört sich unglaublich aktuell an:
„Das Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten. Und es war immer Zank. Es wohnten auch zu der Zeit die Kanaaniter und Perisiter im Lande.“ – so heißt es schon im 1. Buch der Bibel.
Die Gegenden, in die die Nomaden damals zogen, in die Juden und Jüdinnen viele Jahrhunderte später auswanderten und flohen, waren nicht leer. „Da sind zu viele Leute im Land“. Es gibt Streit. Streit um Ressourcen, Infrastruktur und Siedlungen. Damals um Wasserstellen und Weideplätze. Streit um das Überleben der Herden und damit auch der Familien. Zwischen den Hirten ist es nicht nur bei Worten geblieben, sondern auch handgreiflich geworden. Es scheint ein Drama zu sein, das sich in diesem Landstrich (und nicht nur dort) wiederholt. Es ist ein Drama, was sich nicht nur auf der Weltbühne abspielt, sondern im Prinzip im Kleinen in jedem Sandkasten.
Ich kann es von meinem Fenster aus im Innenhof beobachten: Auch da gibt es Tränen. Geschrei. Wut. „Der hat angefangen!“ – „Nein, der!“ – „Der lässt mir kein Platz zum Burgen Bauen “ – „Der hat mich weggeschubst!“ Die Erzieherinnen stehen dann neben den Streithähnen und versuchen, die aufkommende Prügelei abzuwenden. Wie nun wieder Frieden herstellen? Am besten so, dass beide damit leben und sich am Ende die Hand geben können? Schon Erzieherinnen müssen im Prinzip Konfliktmanagement beherrschen und mehr im Repertoire haben, als zu befehlen: „Vertragt euch!“
Erzieher, Pausenaufsichten, Amtsrichterinnen, Eheberater, Politikerinnen – alle können erzählen, wie aus kleinen Konflikten schnell große werden. Wie ein Missverständnis Wut erzeugt. Wie aus verletzter Liebe Hass wird. Wie man sich den Raum streitig macht. Wie widerstrebende Interessen in Handgreiflichkeiten, in Kriege münden.Konfliktmanagement ist eine echte Herausforderung für alle Beteiligten. Man muss neben den eigenen Interessen die der Gegenseite in den Blick nehmen können. Man muss das Gegenüber vor Gesichtsverlust bewahren. Lösungen anbieten, die nicht nur den eigenen Vorteil sichern. Je länger der Konflikt gewaltsam ausgetragen wird, desto schwieriger wird das oft. Am Ende geht es nur noch um Sieg oder Niederlage. Wie schafft man dann Frieden?
Hier kommt unsere biblische Vorlage ins Spiel. Wie versöhnen sich hier die Streithähne? Wie rauft man nicht nur, sondern rauft sich zusammen?
Gar nicht! sagt der biblische Text.
„Dann geh doch!“ heißt die Lösung. Das ist erstaunlich und manchmal trotzdem klug.
Abraham handelt klug. Bevor der Konflikt weiter eskaliert, macht er ihn zur Chefsache. Er geht nicht auf Konfrontation, er sucht das Gespräch mit seinem Neffen Lot. Als Älterer könnte er einfach eine Entscheidung treffen. Lot müsste sich fügen. Vermutlich ahnt Abraham, dass der Preis dafür eine anhaltendes Zerwürfnis wäre. Dass Lot ihm dauerhaft grollen und es ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit vergelten könnte. So schafft man keinen Frieden.
Abraham macht also diesen erstaunlichen Vorschlag, der sich erstmal auch gar nicht nach einem Friedensangebot anhört: Warum gehst du nicht einfach? Man stelle sich diesen Satz vor im Streit zwischen einem Ehepaar, zwischen Freund:innen, zwischen Chefin und Mitarbeitenden. Wenn dieser Satz fällt, dann scheint die Trennung unvermeidlich. Dann geht es nicht mehr darum, wie die gemeinsame Zukunft aussehen könnte, sondern ob es noch eine gemeinsame Zukunft gibt. Bei einem Ehepaar steht dann die Scheidung im Raum, bei langjährigen Freundschaften ein endgültiger Bruch, am Arbeitsplatz die Kündigung. Meist wird so ein Satz im Eifer des Gefechtes gesprochen, in einer emotional aufgeladenen Situation. „Dann geh doch!“
So stelle ich mir das Gespräch zwischen Abraham und Lot nicht vor. Ich glaube nicht, dass die Worte im Streit fallen oder aus einer beleidigten Haltung heraus gesprochen werden, sondern wohl überlegt. Abraham will nicht provozieren, sondern eine Lösung suchen.
Lösung heißt oft eben nicht, dass der Konflikt in Harmonie aufgelöst werden kann. Die beiden Männer liegen sich nicht in den Armen. Die Probleme werden nicht verniedlicht oder übertüncht. Sie sind gravierend, lebensbedrohlich. Trennung wird hier geschildert als eine heilsamere Antwort als ein mühsames und konfliktreiches Miteinander. Die Lösung heißt hier: Du links, ich rechts, damit aus Recht-haben-Wollen kein Unrecht wird.
Abrahams Lösungsvorschlag ist eigentlich ein Dreischritt:
1. Schritt: „Abraham sprach zu Lot“. Man redet also miteinander. Wie viele Friedensbemühungen schon daran scheitern wissen wir.
2. Schritt: Das Ziel wird definiert – „Es soll kein Zank sein“ – und begründet: „Denn wir sind Brüder“. Ich hätte ja erwartet, das Ziel sei: Alle sollen überleben, alle müssen genug Wasser abkriegen. Und dann plant man Wasserrationierungen oder was auch immer. Noch dringender zum Überleben als Wasser ist hier Friede.
3. Schritt: Abraham öffnet die Situation. „Das Land ist offen“ – sagt er. Ich stelle mir vor, wie Lot automatisch den Kopf hebt und sich umschaut, in die Weite schaut. Das würde manchem Konflikt guttun. Wenn man aufblicken, erkennen würde, dass es viele Möglichkeiten gibt. Und keine Angst hätte, ungewöhnliche Möglichkeiten zu benennen: z.B. Trenne dich doch von mir!
Abraham ist klug. Er öffnet die verfahrene Situation. Er lässt Luft rein und Weite. Größe und Großzügigkeit. Als Kind hat mich das an der Geschichte am meisten beeindruckt: Dass Abraham Lot wählen lässt und dass der natürlich das bessere, das fruchtbarere Land wählt. Die Jordaneben statt das karge Kanaan.
Für Abraham steht viel auf dem Spiel. Er hat von Gott die Verheißung auf Land und Nachkommen. Ich vermute, dass Lot, sein Neffe, für ihn eine Art Sohn-Ersatz war. Abraham hatte bekanntermaßen zunächst kein Kind, Lot repräsentiert die jüngere Generation, die Abrahams Sippe, wenn auch nicht in direkter Linie, weiterführen wird. Mit diesem „Dann trenn dich doch!“ wird die Verheißung also doppelt in Frage gestellt: Lot kriegt das bessere Land und Abraham verliert den Nachkommen.
Die Verheißung an Abraham ist der Zielpunkt auch dieser Erzählung. Gott hat Abraham Land, Wohlstand und Nachkommen versprochen. Reich ist er offensichtlich schon, das wird berichtet. Aber das Land, in das Gott ihn führen wollte, das hat noch keine klaren Konturen. Abraham ist schon viel herumgezogen, bevor es hier zum Zank und zur Trennung kommt. Und in diesem Moment, als die Verheißung in Frage steht, wird sie von Gott erneuert:
„Hebe deine Augen auf und sieh von der Stätte aus, wo du bist, nach Norden, nach Süden, nach Osten und nach Westen. Denn all das Land, das du siehst, will ich dir geben und deinen Nachkommen ewiglich.“
Wieder geht es also darum die Augen aufzumachen, sich umzuschauen, in die Weite zu blicken. Und was Abraham da sieht, was sein verheißenes Land sein soll, ist gar kein Neuland. Hier ist er schon häufiger mit seinen Herden durchgezogen, er hat hier schon mehrfach Altäre für Gott gebaut, wir können es in den alten Geschichten nachlesen. Bevor Gott Abraham sagt: „Genau hier ist das Land, das ich dir verheißen habe“, ist es schon „abgestecktes“ Land, ein Land, in dem Gott verehrt und angebetet wurde. Das verheißene Land ist also weniger durch seine Geografie bestimmt – oder durch besonders grüne Wiesen, wie Lot sie wählt – sondern dadurch, dass Abraham hier schon Spuren seines Glaubens hinterlassen hat. Hier an dieser Stelle, an der Abraham Lot um des lieben Friedens willen den Vortritt lässt, hier erschließt sich das verheißene Land, der Lebensraum für die Zukunft. Es ist der Ort, an dem Abraham trotz allem Gottes Zusage vertraut. Verheißenes Land ist Gottvertrauen. In diesem Land kann man gut, kann man in Frieden leben.
Bei der Streitschlichtung kommt Gott gar nicht vor. Er mischt sich nicht direkt ein. Aber Abrahams Gottvertrauen kann den Zank auf kluge Weise beenden. Wer keine Angst hat, zu kurz zu kommen, weil er Gottes Zusagen gegen allen Anschein vertraut, der kann Wege des Friedens wagen. Nochmal: Das ist kein Happy end, kein wohliges Auflösen in allseitig Harmonie. Es ist ein Weg, ein Anfang, ein Ende des direkt ausgetragenen Konfliktes. Die Hirten holen sich keine blutigen Nasen mehr. Das ist schon viel wert. Was wäre das für ein Fortschritt, wenn es eine Feuerpause – oder meinetwegen auch Feuerpausen – geben würde.
Natürlich ist die Versuchung groß, diese Erzählung im Moment allein auf die politische Situation hin zu reflektieren. Aber im Prinzip spiegeln diese alten Texte existentielle Erfahrungen – sowohl im Individuellen – hier stehen zwei Männer einander gegenüber, wie im Kollektiven – es geht auch um die Sippe, die dahintersteht, und die Völker, die dort siedeln. Zwei Menschen, zwei Gruppen, zwei Seiten, die miteinander verbunden sind – sei es emotional, familiär, beruflich, politisch – ringen um die Frage, wie es miteinander weitergehen kann. Häufig machen wir dabei die Erfahrung, dass das Ungelöste den Blick bindet. Man sieht eben keine Lösung mehr, man kann nicht mehr „out of the box“ denken. Dann gerät das weite Land aus dem Blickfeld, das weite Land dessen, was möglich sein könnte. Und manche verliert das Gottvertrauen.
Manchmal ist es das Versöhnlichste, was wir tun können, zu gehen. Anzuerkennen, dass auch lange Freundschaften enden, dass Ehen scheitern, dass ein Arbeitsplatzwechsel die beste Lösung ist. Hoffnung kommt vielleicht erst nach dem Schlussstrich in den Blick. Trenn dich – von Träumen, von Angewohnheiten, von Traditionen, von Lebensentscheidungen. Trau dich, andere Optionen in den Blick zu nehmen.
Das weite Land, diese anderen Optionen auch sie werden keine Zauberlösungen sein, so als ob man nur ein bisschen weiter gucken müsste und dann löst sich das Problem auf wundersame Weise auf. Konflikte zu klären bleibt immer eine Zumutung. Das Wort Jesu von der Feindesliebe macht es deutlich. Carl Friedrich von Weizäcker hat einmal gesagt: „Intelligente Feindesliebe geht davon aus, dass Frieden nur zusammen mit dem Gegner erhalten werden kann.“ Die Zumutung dieses Zitat wird deutlich, wenn man wagt, das durchzubuchstabieren für die Ukraine und Russland, für Israelis und Palästinenser. Oder auch für uns im Kleinen im Sandkasten, in Ehekrisen, im Konflikt am Arbeitsplatz, in Auseinandersetzungen mit unseren Mitmenschen.
Frieden schaffen ist eine Zumutung, ist harte Arbeit, scheint oft unmöglich. Es geht nur, wenn man miteinander spricht, wenn man nicht eigene Interessen, sondern den gemeinsamen Frieden zum Ziel erklärt. Dass es auch inmitten von Trauer und Schmerz Menschen gibt, die das können und wollen, zeigte mir eine Mail – überschrieben mit: Listen to Israeli survivors – they don‘t want revange. Hört auf Überlebende in Israel, sie wollen keine Rache. In dieser Mail wurden viele Israelis zitiert, die den Angriff am 7. Oktober hautnah miterlebt oder dabei engste Angehörige verloren haben, z.B. Noi Katsmann, die ihren Bruder betrauert: Sie schreibt:
„Missbraucht nicht unsere Toten und unseren Schmerz, um anderen Menschen Tod und Schmerz zu bereiten. Ich verlange, dass wird den Kreislauf der Schmerzen stoppen, und dass wir begreifen, dass der einzige Weg Freiheit und gleiche Rechte sind. Frieden, Geschwisterlichkeit und Sicherheit für alle Menschen.“
Mögen diese Stimmen gehört werden. Amen.