Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Was für ein Theater!

Was für ein Theater!

Andacht auf dem Theaterfest am Grindel
Pastorin

Andrea Busse

Sonntag, 10. September

Ansprache

Normalerweise stehe ich für meine Ansprache auf der Kanzel. In einem abgeschirmten Raum – nämlich in der Johanniskirche nicht weit von hier am Turmweg. Ich bin mir sicher, viele von Ihnen kennen die Kirche, sie ist ja immer offen, man kann immer reingehen. Eine wunderschöne Kirche, sage ich jetzt mal so ganz unvoreingenommen. (Kleiner Werbeblock)

Aber heute stehe ich gerne hier – unter freiem Himmel, mitten­drin. Und wenn ich mich mal umgucke, wo genau ich hier eigent­lich stehe, dann habe ich das Theater im Rücken und vor Augen einen Buchladen. Mit beidem verbindet ich persönlich viel: Hier komme ich her, wenn ich mal abtauchen will, wenn ich Abstand zu meinem eigenen Leben gewinnen muss und in fremde Lebensgeschichten eintauchen möchte – sei es für einen Theaterabend oder für eine Buchlänge.

Ich glaube, so ein Perspektivwechsel ist für uns alle heilsam. Und als Pastorin beschäftige ich mich ja sozusagen berufs­mäßig mit dem, was für Menschen heilsam ist. Sich in andere einzufühlen, mit anderen mitzuleiden, mitzuleben, sich mit zu freuen, das gehört unbedingt dazu. Und es hilft, zu sich selbst zu finden.

Kinder haben dafür ein gutes Gefühl. Kinder lieben es ja, sich zu verkleiden. Nicht nur an Fasching. Oder sich zu schminken, wie es heute hier auf dem Fest möglich ist. Damit tauchen sie ein in ein anderes Leben, übernehmen eine Rolle, spielen Theater. Als meine Kinder klein waren, war unsere Ver­kleidungs­kiste für sie und ihre Freund:innen immer die große Attraktion. Dann hatten wir plötzlich eine Hexe, einen Fliegenpilz, einen Piraten oder eine Fee zu Gast. Die vorge­fertigten Kostüme verlieren dann meistens schnell an Reiz. Früher oder später verwandeln sich die Kinder in irgend­welche Fantasiegestalten, drehen sich vorm Spiegel und präsentieren sich stolz den Eltern. Je verrückter die Klamotten, desto mehr kichert die Person, die darin steckt.

Für mich steckte natürlich immer noch unser Kind darin, das ich ohne Schwierig­keiten wiedererkannt habe – aber die Ver­kleidung zeigte mir auch, wovon die Kinder träumen und wie sie gerne wären: hübsch oder mutig, stark oder weise.

Und ich denke, genau das macht die Faszination des Ver­kleidens, des Theaterspielens aus: Ich kann aus meiner eigenen Haut heraus, ich kann in eine andere Rolle schlüpfen, ich kann mal das sein, wonach ich mich sehne.

Bei Erwachsenen hat das Verkleiden leider oft seine spielerische Note verloren. Wir holen nicht die Kostümkiste hervor und packen sie wieder weg, sondern wir tragen oft auch im Alltag Masken. Meistens als Schutz. Die Fassade, die ich nach außen zeige, soll verstecken, wenn ich mich unsicher fühle oder verletzt. Dann tue ich besonders überlegen oder zeige Humor, obwohl mir eigentlich das Lachen gerade vergangen ist. Dann wäre ich gern unangreifbar, cooler, lässiger. Manchmal wird eine solche Fassade so sehr zur zweiten Haut, dass wir aus dieser gar nicht mehr richtig herauskönnen; und je mehr Schichten wir um uns hüllen, desto mehr fühlen wir uns eingeengt.

Um so wichtiger, sich immer wieder mal ernsthaft zu fragen:

Wer bin ich und wer will ich sein?

Für solche Fragen braucht man Zeit. Man muss Abstand zu sich selbst gewinnen können, sich selbst mal mit fremden Augen betrachten. Eigentlich muss man die Theaterszenerie umdrehen, sich ins Publikum setzen und sich selbst mal auf der Bühne beim Agieren zuschauen. Und dann fragen: Bin ich die, die ich sein will?

„Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme so selten dazu“

schreibt der österreichisch-ungarische Schriftsteller Ödön von Horvath und nimmt damit die Sehnsucht des Menschen auf, anders sein zu wollen und doch an der eigenen Begrenztheit zu scheitern. Nichts ist schwieriger, als sich zu ändern!

Und hier setzt die heilsame Botschaft des christlichen Glaubens an: Gott nimmt uns so an, wie wir sind, aber das heißt nicht, dass wir so bleiben müssen, wie wir sind. Im Gegenteil: Dass Gott uns annimmt, wie wir sind, ist die Voraussetzung dafür, so werden zu können, wie Gott uns gemeint hat. Gott traut uns zu, uns zu ändern. Und das beginnt verrückterweise damit, dass wir unseren Frieden damit machen, wie wir wirklich sind. Wie schafft man das?

Es gibt ein Grimm’sches Märchen, in dem ein junger Mann von seinem Vater verstoßen wird, weil er nichts gelernt hat außer der Sprache der Tiere. Wie er nun durch den Wald irrt, kommt er an eine Burg und bittet um Nachtlager. Der Burgherr kann ihm aber nur einen verfallenen Turm als Dach über dem Kopf bieten. Dort hausen wild bellende Hunde, die schon manchen verschlungen haben. Dem jungen Mann macht das keine Angst, versteht er doch die Hunde­sprache und erfährt, dass sie so wild und wütend sind, weil sie einen Schatz hüten müssen, bis er endlich gehoben wird. Mit ihrer Hilfe birgt er den Schatz, die Hunde verschwinden, und das Land lebt fortan in Frieden.

Das Märchen liefert das eindrückliche Bild einer Verwandlung: Dort, wo du am meisten unter dir leidest, wo deine wilden Hunde bellen und andere davon ab­halten wollen, dir zu nahe zu kommen und dein Problem zu entdecken, da liegt auch dein größter Schatz. Dort kannst du in Berührung kommen mit deinem wahren Selbst. Das Märchen zeigt, dass alles in uns einen Sinn hat, aber auch der Verwandlung bedarf.

Angst z.B. ist gut. Sie zeigt, ob die Grund­einstellung zum Leben stimmt. Vielleicht meint man, alles perfekt machen zu müssen. Die Angst vor Fehlern und Versagen zeigt, dass man sich mit so einer Lebenseinstellung selbst schadet, die Angst fordert uns auf, gnädiger, mensch­licher mit uns selbst umzugehen.
Oder Wut. Wer seiner Wut auf den Grund geht, merkt vielleicht, dass er sich bisher immer nach anderen gerichtet hat und end­lich selbst leben will. Dann kann Wut zur Lebensenergie werden.

Wenn man auf seine bellenden Hunde hört, seinen Schatz, sein wahres Selbst entdeckt, dann ver­wandeln sich solche Gefühle.

Wer will ich sein – wer bin ich?

Jeder und jede ist gut geschaffen, ausgestattet mit ganz besonderen Begabungen. Wer das entdeckt, der verändert sich, der kann Frieden mit sich machen, sich wohlfühlen in der eigenen Haut.

Dann verliert sich meistens auch das Gefühl, auf einer Bühne zu stehen und von anderen mit kritischen Blicken beobachtet und beurteilt zu werden. Wer unabhängiger von der Meinung anderer wird, hat offenere Augen und Herzen für die Gefühle anderer. Der kann sich fragen:

Wer bist du – und wer willst du sein?

Was sind deine Masken und Rollen, wovor schützen sie dich und darf ich dahinter schauen, ohne, dass du dich enttarnt oder ertappt fühlst. Auch das ist etwas, was wir im Theater, was beim Lesen lernen: Empathievermögen. Es ist das kindliche, das spielerische Verkleiden zusagen: Wie fühlt es sich an, in deiner Haut zu stecken, deine Erfahrungen zu machen.

Dieser Ort hier mitten im Viertel ist ein wunderbarer Ort – ein heilsamer: Hier können uns die Augen aufgehen. Hier können wir immer wieder üben, mit uns selbst in Verbindung zu treten und mit anderen. Das sind göttliche Momente. Davon wünsche ich uns allen viele. Amen.