Was ist heilsam?
Gottesdienst am 19. Sonntag nach Trinitatis
Predigttext:
Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist. (Jakobus 5, 13–16)
Predigt:
„Beten Sie für mich!“ – sagt Madame du Bois zu mir an der Kirchentür meiner damaligen Gemeinde. Sie ist eine zurückhaltende Frau und ich bin etwas erstaunt über diese direkte Ansage, diese kurze dringende Bitte. Ich weiß, dass sie Brustkrebs hat, zum 2. Mal, irgendeine aggressive Variante. Und ich kann ihr an diesem Morgen die Schmerzen ansehen. „Beten Sie für mich!“ – das bricht richtig aus ihr heraus.
Die Krankheit hat ihr Leben komplett verändert. Sie ist nur 2,3 Jahre älter als ich, beruflich sehr erfolgreich, auch sehr eingespannt. D.h. das war sie. Dass der Krebs nach vielen Jahren zurückgekommen ist, hat erstmal alles zum Stillstand gebracht. Alle Termine, Pläne, Ideen erstmal hinfällt. Andere Termine und Pläne stehen jetzt an: der OP-Termin, die Pläne für Bestrahlung und Chemo. Was gestern noch Bedeutung für sie hatte, ist heute unwichtig. Zuerst – so hat sie mir erzählt – war sie wie erstarrt. Sie muss sich jetzt neu definieren, mit der Krankheit auseinandersetzen, ob sie will oder nicht. Die Frage nach dem Warum treibt sie um: Warum zum 2. Mal? Was ist der Sinn dahinter?
Zum Kirchenkaffee nach dem Gottesdienst bleibt sie nicht. Die Kraft reicht nicht. Andere, die sie schon lange kennen, sind betroffen, wie schlecht sie aussieht. „Kein Wunder, dass sie wieder krank geworden ist “ sagt Madeleine „sie frisst alles in sich hinein. Hat sie jemals mit dir darüber gesprochen, warum ihre Tochter mit den Eltern den Kontakt abgebrochen hat? Da liegt einiges im Argen in der Familie und sie schluckt alles immer nur runter. Da kann man ja nur krank werden.“ Auch die Menschen, die ihr nahestehen, fragen offensichtlich nach dem Warum. Manches klingt dann schon fast wie eine Schuldzuweisung.
Für die moderne Medizin sind Krankheiten oft einfach sinnfreie Phänomene, die beseitigt werden müssen. Aber Menschen, die von schwerer Krankheit betroffen sind, und ihr Umfeld, die fragen nach Ursachen, nach Sinn und Unsinn des Ganzen. Leider gibt es noch immer Deutungsmuster, die erkrankten Menschen letztendlich die Verantwortung für ihre Krankheit zusprechen. Manchmal scheint es auf der Hand zu liegen: eine starke Raucherin mit Lungenkrebs, ein Übergewichtiger mit Herzinfarkt – selbst schuld.
Solche Deutungsmuster gibt es auch in der Bibel. Wer krank wird, wer leidet, muss gesündigt haben und wird von Gott gestraft oder auf die Probe gestellt. Aber dieser Zusammenhang war schon den Menschen im Alten Testament fragwürdig geworden. Es deckt sich eben nicht mit unserer Erfahrung, dass man im Verhalten des Menschen die schlüssige Ursache findet. Es hat sich noch nie damit gedeckt, auch nicht zu biblischen Zeiten.
Und gleichzeitig gibt es Zusammenhänge zwischen Körper und Seele. Das würde hier vermutlich niemand bestreiten. Als Jesus den Gelähmten heilt, vergibt er ihm zunächst seine Sünden. Als Jakobus über Krankheit schreibt, schreibt er auch von Sündenvergebung. Es geht dabei nicht um einen kausalen Zusammenhang: Du bist schuld an deiner Misere, weil du irgendetwas getan hast. So eben nicht. Aber auch die moderne Medizin rechnet damit, dass Schuld, Angst, Einsamkeit oder Wut krank machen können. Und umgekehrt, dass gute Beziehungen, Freude, Hoffnung, Dankbarkeit die Resilienz eines Menschen, die Widerstandskraft seines Körpers stärken und Heilungsprozesse unterstützen. Auch Vergebung kann zur Gesundung beitragen. Sünde meint dann all das, was Beziehungen zwischen Menschen oder auch zwischen Gott und Mensch zerstört. Und Vergebung bedeutet, dass diese Beziehungen zu heilen beginnen können. Vergebung meint ein Wende, eine Zu-wendung zu Gott und anderen, bzw. von Gott und anderen.
Der Schreiber des Jakobusbriefes theologisiert aber gar nicht so abgehoben über das Sündenverständnis: Er fragt ganz lebensnah: Was kann jemand tun, wenn es ihm/wenn es ihr schlecht geht. „Leidet jemand unter euch“, für den oder die hat er konkrete Ratschläge. Das Verb, das er im Griechischen benutzt, meint dabei nicht nur körperliches Leiden, sondern auch seelischen Schmerz, also Verlust, Sorge, Scham, Einsamkeit. Und sein Ratschlag ist kurz und einprägsam:
Leidet jemand, der bete!
Das könnte man missverstehen. Da steht nicht: Leidet jemand, der bete und dann wird alles gut oder zumindest besser. Ich weiß, dass sich diese Erwartung – oft unbewusst – mit dem Gebet verbindet. Gerade bei Stoßgebeten. Und manchmal geschehen wohl auch Gebetswunder. Aber ich will Gottes Wirken nicht an den Rand der Realität drängen und nur dort verorten, wo Spektakuläres geschieht. Gott muss in Krankheitsfällen auch nicht über das Stöckchen der Naturgesetze springen, damit seine Zuwendung spürbar wird.
Beten kann trotzdem wie Medizin wirken. (Und ich meine wie nicht anstelle von). Also Beten kann heilsam sein, denn Beten befreit aus dieser Erstarrung, von der Frau DuBois erzählte. Beten heißt Schmerz in Worte fassen, es bedeutet, aus sich herauszugehen, nicht allein zu bleiben; es heißt, ein Ventil zu haben und ein Gegenüber zu spüren. Beim Beten kann ich Klarheit gewinnen, meine Gedanken sortieren, in die Tiefe gehen, auch wagen, in Abgründe zu schauen.
Not lehrt beten, heißt es. Ich glaube das. Ich glaube, dass mehr gebetet wird, als wir annehmen und ahnen. An Krankenbetten, in Kindergärten und in Seniorenheimen, in den Gebets- und Gästebüchern der großen Touristenkirchen, an unserem Kerzentisch hier, in Onlineforen, im Stau oder in Fahrstühlen. Das Gebet holt aus der Einsamkeit und aus der Sprachlosigkeit.
Ich bete seit einigen Tagen auch mehr als sonst. Ich bete, weil ich mich so hilflos fühle angesichts der aktuellen Lage im Nahen Osten, die uns so deutlich vor Augen führt, wie un-heil diese Welt ist. Wir schauen hier fassungslos zu, wie der Terror über Menschen in Israel hereingebrochen ist, wie Bomben und Gewalt die einzig mögliche Antwort zu sein scheint, wie sich der gegenseitige alte und immer wieder neu befeuerte und provozierte Hass entlädt. Bilder der Ent-menschlichung erreichen uns. Ich bin erschüttert und ohnmächtig. Dann bleibt mir nur, mein Entsetzen vor Gott zu bringen. Immer wieder. Ich klage, ich frage, ich hadere im Gebet. Ich erinnere Gott daran, dass diese Welt doch Frieden finden soll und will, dass sein Reich doch schon mitten unter uns ist. Und wenn ich dann zweifle, dass mein Gebet irgendetwas bewirken könnte, dann serviert mir Gott einen Predigttext, der endet mit den Worten:
Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.
Deswegen werde ich ihm weiter in den Ohren liegen mit meinen Gedanken und meiner Sehnsucht nach einer heileren Welt. Sie ist deswegen heute nicht heiler, die Bombardierungen gehen weiter. Aber die Sehnsucht nach Heil lässt sich nicht unterkriegen. Die Hoffnung darauf, dass das Böse sich vom Guten überwinden lassen könnte, die dürfen wir nicht aufgeben. Die will ich nicht aufgeben. Und die stärke ich mit jedem Gebet. Auch wenn das das Leid im Nahen Osten nicht lindert, so tröstet mich diese Hoffnung für einen Moment. Mich tröstet die Vorstellung, dass weltweit viele, viele Menschen um Frieden beten. Und dass ich nicht alleine bin mit meinen Worten in Gottes Ohr.
Wenn wir dann noch einmal von der Weltbühne zu Jakobus zurückkehren, dorthin, wo er das Gebet hier in seinem Schreiben verortet hat, nämlich am Krankenbett, dann können wir sicher ahnen, wie heilsam es ist, wenn es Worte gibt, mit denen Gesunde und Kranke, Ärztinnen und Pflegepersonal aus dem Sprachduktus der Diagnosen, der Dienst- und Therapiepläne herauskommen – und Angehörige aus dem stummen Tapferseinmüssen.
Leid wird ja oft als Gottesferne und auch als Isolation von anderen empfunden. „Da muss ich alleine durch“ sagen manche, sagte auch Frau DuBois auf meine erste Nachfrage. „Keiner weiß, wie es mir wirklich geht. Keiner empfindet, was ich empfinde.“ Ja das stimmt, und trotzdem verstärkt Alleinebleiben das Leid meistens. Genau hier setzt der Briefschreiber, der sich Jakobus nennt, an: „Betet und ruft andere zu euch!“ Geht in die Gemeinschaft mit Gott und mit anderen. Diese Öffnung führt aus dem Stillstand in die Bewegung, stellt die eigene Situation in ein neues Licht. Ein Licht, in dem man sich vorstellen kann, dass es Heil auch ohne Heilung geben könnte.
„Beten Sie für mich!“ – Ich habe damals für Madame DuBois gebetet. Nicht konkret für ihr Gesundwerden, sondern ganz offen für das, was sie braucht. Einige Monate nach dieser Szene an der Kirchentür bat sie mich um einen Besuch. Wir haben miteinander gesprochen. Es war ein langsames, auch mühsames Gespräch. Ich musste an Madeleine denken. Vermutlich hat Madame DuBois wirklich viel geschluckt in ihrem Leben. Sie tat sich sichtlich schwer mit dem „Ausspucken“. Sie war das nicht gewohnt, aber sie wollte. Wollte Dinge aussprechen, mir gegenüber, später hat sie es – so habe ich erfahren – auch ihrer Familie gegenüber getan. Ob das der „Sinn“ ihrer Krankheit war, ich weiß es nicht. Mit solchen Urteilen bin ich lieber vorsichtig. Aber es gab eine Wende in ihrem Leben, die auch eine Zu-Wendung zu anderen war. Bei meinem Besuch fragte sie mich auch, ob die evangelische Kirche sowas wie die letzte Ölung kennt. In Frankreich wachsen die meisten natürlich mit den katholischen Traditionen auf. „Wir nennen das nicht so“, habe ich ihr erklärt, „aber Salbung gibt es“. Steht ja schließlich schon so in der Bibel, z.B. in unserem Abschnitt des Jakobusbriefes. Auch die evangelische Kirche kennt Salbungsrituale. Und zwar nicht nur zum Schluss des Lebens. Es gibt Krankensalbungen. Man muss aber nicht mal krank sein, um eine Salbung – eine Berührung, ein gutriechendes Öl – als heilsame Zuwendung zu erleben.
Wieder ein paar Wochen später bat Frau DuBois mich um diese Salbung. Es war inzwischen klar, dass der Krebs nicht mehr heilbar sein, dass es zuende gehen würde. Aber ich traf sie recht lebendig an, obwohl sie schon länger nur noch im Bett liegen konnte. Ich war ehrlich gesagt erstaunt, dass sie mich zu diesem Zeitpunkt zur Salbung gerufen hatte. Wir sprachen, wir beteten, wir sangen ihr Lieblingsgesangbuchlied (das war übrigens ich singe dir mit Herz und Mund, was wir auch schon gesungen haben) und ich zeichnete ihr mit Salböl ein Kreuz auf die Hand. Der Duft breitete sich im Zimmer aus.
Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und Gott wird ihn aufrichten.
– so schreibt Jakobus. So habe ich es an diesem Nachmittag erlebt. Es war eine friedliche Stunde. Am nächsten Tag rief mich ihr Mann an, dass sie in der Nacht verstorben war. Ich muss zugeben, ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet. Sie offenbar schon. Geheilt wurde sie eindeutig nicht. Ich hoffe, dass trotzdem manches noch heil werden konnte.
Wer sich und andere ins Gebet nimmt, wer sich so einwebt in das Netz eigener und fremder Gebete, für den verschwimmen manchmal die klare Zuordnung von gesund und krank, von heil-sein und nicht-heil-sein, von Ursache und Wirkung, auch von Erhörung und Enttäuschung. Vielleicht gab es auch für Frau DuBois ein Loch im Dach – wie für den Gelähmten. Eine Einsicht über das, was trennend war, und eine Begegnung mit dem, was versöhnend und heilsam ist.
Aber ich bin noch nicht fertig mit Jakobus. Und das hat damit zu tun, dass hier heute sicher nicht nur Menschen sitzen wie Madame DuBois oder ihr Mann oder Madeleine. Vielleicht sind Sie gerade in einer schweren Situation und spüren den Schmerz, vielleicht beobachten Sie es mehr oder weniger hilflos bei anderen, vielleicht erinnern Sie solche Phasen im Leben. Vielleicht sind Sie aber auch einfach guten Mutes. Es sollen ja angeblich nicht nur Leute in den Gottesdienst kommen, denen es schlecht geht. Sondern auch Menschen, die gesund und glücklich und zufrieden – und dafür dankbar sind. Auch dann hat Jakobus einen Ratschlag:
Ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.
Es ist mir wichtig, das nicht unter den Tisch fallen zu lassen: Nicht nur im Leid ist es hilfreich und heilsam, aus sich herauszutreten, sich Gott und anderen mitzuteilen. Sondern auch im Glück. Wo in guten Zeiten Dankbarkeit im Gebet geübt wird, entsteht als – ich nenne es mal: Gewöhnungseffekt ein Bewusstsein oder eine Haltung, die nicht nur auf sich selbst bezogen bleibt. Diese tägliche Praxis wirkt sich, da bin ich sicher, auf Körper und Seele positiv aus. Wer Gott und die Gemeinschaft mit anderen als tragende Säulen in sein Leben einbaut, den halten sie auch, wenn Erschütterungen kommen.
Eigentlich kann man den Predigttext kurz zusammenfassen: Betet und singt.
Der Gottesdienst ist ein Raum, in dem wir das immer wieder üben: Wir üben, das Schwere vor Gott zu bringen – das tun wir in jedem Kyrieeleison, in den Gebeten, in der Stille. Wir üben, das Schöne miteinander zu teilen, im Gloria und Halleluja, in unseren Liedern, im Dankgebet. Wir leihen uns dafür Worte aus der Tradition, aus der Bibel, wir als Pastorinnen versuchen, Worte dafür zu finden, in denen Sie sich hoffentlich immer wieder auch wiederfinden. Und dieser Raum für Schweres und Schönes, für Austausch und Teilen wird fortgeführt in jedem Kirchenkaffee. Das ist nicht nur Plaudern. Es ist die Fortsetzung dessen, was hier geschieht: Wir stellen uns in die Gemeinschaft, wir freuen uns miteinander, wir klagen und meckern auch mal über das, was uns zusetzt. Und warum nicht auch da mal sagen: Bete für mich!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.