Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Weniger arbeiten, besser leben?

Weniger arbeiten, besser leben?

Predigt im Gottesdienst DENKEN & BETEN am 12. November
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Gottesdienst DENKEN & BETEN, 12. November 2023

Predigt zu Prediger 3, 1–11

Text: Prediger 3, 1–11

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2 Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. 9 Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. 10 Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. 11 Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Alles hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“ (Pred 3, 1) In diesem Satz fasst der weise Prediger Salomo im Alten Testament seine ganze Erkenntnis zusammen, das Fazit aus seinem Nachdenken über das Leben.

Er fragt sich: „Was hat der Mensch von all seiner Mühe, welchen Gewinn zieht er daraus?“ (1, 3) Er sinniert über seine eigenen Anstrengungen: „Ich tat große Dinge: Ich baute Häuser, ich pflanzte Weinberge, ich legte Gärten und Lustgärten an und pflanzte Bäume hinein; ich machte Teiche, um den Wald zu bewässern…“ (2, 4–6) Und stellt dann fest: „Als ich aber alles ansah, was ich getan hatte, und die Mühe, die ich gehabt hatte, da schien es mir eitel, umsonst, wie ein Haschen nach Wind.“ (2, 11)

Ein älterer, erfolgreicher Mann blickt auf sein Leben zurück. Er sinniert über das, wofür er gearbeitet, seine Gedanken, seine Kraft und Lebenszeit eingesetzt hat. Und es erscheint ihm im Rückblick als unwichtig, „eitel“, im Sinne von vergeblich oder belanglos. So weit geht dieses Gefühl in ihm, dass er sagt: „Es verdross mich zu leben.“ (2, 17) Er hat genug; er ist der Arbeit, der Anstrengungen, Pläne und Erfolge überdrüssig. Alles erscheint ihm leer und sinnlos – auf Englisch „in vain“.

So kann es Männern und Frauen auch heute gehen. Sowohl denen, die erfolgreich sind, die im Beruf, in ihrer Familie, in ihrer Freizeit anscheinend alles erreichen, was wichtig ist oder in unserer Gesellschaft als begehrenswert gilt, wie ein interessanter Job, eine glückliche Partnerschaft und Kinder, Reisen, Abwechslung und Genuss… Trotz alledem fühlen sich manche Menschen irgendwie leer, unberührt und unbefriedigt.

Und ähnlich kann es auch Menschen gehen, die weniger Erfolg haben, die sich anstrengen, die viel arbeiten für wenig Geld oder Anerkennung, die es schwer haben. Auch sie können sich und ihr Leben als nutzlos empfinden. Das Gefühl haben: Es bringt und zählt alles nichts.

Meistens ist dieses Lebensgefühl dann noch von einer anderen Bitterkeit, von mehr Ärger oder Enttäuschung geprägt, als bei denen, die satt sind. Aber gemeinsam kann Menschen, die die Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit ihres Tuns empfinden, das Gefühl sein: Was bringt es denn – all mein Rappeln, Schaffen, Machen?

Ein Zweifeln am Sinn des Lebens, der Anstrengungen und Entscheidungen, die wir auf uns nehmen. Ein indifferentes, wie taubes Gefühl – manchmal niedergeschlagen, erschöpft oder pessimistisch, bis hin zur Lebensmüdigkeit.

Über zwei Kapitel in seinem Buch hinweg denkt der Gelehrte Salomo so über sein Leben nach und fragt sich nach dem Sinn: Warum gibt Gott uns dieses Leben, das uns so unnötig und irrelevant, so „eitel“ erscheinen kann? (vgl. 2, 24–26)

Und dann antwortet er sich auf seine Gedanken und Fragen mit einem der ältesten Gedichte, die in der hebräischen Bibel aufgehoben sind, dem berühmten Text „Alles hat seine Zeit“. Mit diesem großen Gedicht, das Menschen in ganz unterschiedlichen Zeiten und Situationen ihres Lebens anspricht bis heute.

„Geboren werden und sterben; pflanzen und ausreißen;
weinen und lachen; suchen und verlieren;
zerreißen und zunähen… Alles hat seine Zeit.“

Man kann dieses Stück weisheitlicher Literatur ganz verschieden verstehen und auslegen. Heute hören wir ihn im Zusammenhang der Frage nach Arbeit und Arbeitszeit. So, wie der Prediger sich fragt: „Was habe ich eigentlich von meiner ganzen Mühe? Was ist der Gewinn?“

Man kann den Text nun fatalistisch hören, im Sinne von: Egal, was du machst, wie du dir deine Zeit einteilst, was du zu regeln versuchst… Du hast im Grunde keinen Einfluss auf dein Leben. Die Dinge geschehen dir. Das Schicksal schlägt zu.

Man kann den Text aber auch – und so verstehe ich ihn – anthropologisch hören, im Sinne von: Das alles gehört zu einem Menschenleben dazu. Das alles, sowohl das Anstrengende als auch das Beglückende, die vita activa und die vita passiva, äußeres und inneres Wachstum – es gehört zu einem erfüllten Leben dazu, prägt unser Menschsein.

Das Glück, die Fülle des Lebens, die Gott uns schenkt – die „Ewigkeit“, wie es im Text heißt – besteht nicht nur im Leichten und Schönen. Glück ist nicht nur das Glück von Marienkäfern, Sonnenstrahlen und dampfenden Kaffeetassen, wie uns manche Postkarten glauben machen möchten. Sondern Glück als Fülle oder Tiefe des Lebens entsteht im ständigen Wechselspiel von Erfahrungen, Tätigkeiten und Beziehungen, die unser Leben prägen.

Wir wissen von uns, dass wir im Moment, in der Situation selbst durchaus nicht alles als positiv empfinden, dass wir am Boden zerstört, völlig ausgelaugt, hoffnungslos oder überfordert sein können. Es ist auch nicht jede Erfahrung „gut“; manche Erlebnisse sollten Menschen auf jeden Fall erspart bleiben. Aber wenn wir auf uns selbst sehen, erkennen wir mitunter mit Abstand oder im Rückblick, wie wir uns durch schöne und eben auch durch schwierige Erfahrungen, durch Höhen und Tiefen zu mitfühlenden, lebensklugen und gottvertrauenden Menschen entwickeln können. Dass uns eine Freude am Leben wie auch eine heilsame Gelassenheit zuwachsen können, wenn wir den Wechsel der Zeiten und Kräfte anzunehmen verstehen als etwas, das zu unserem Leben gehört.

Damit uns dieser Weg gelingen kann, damit wir unterschiedlichste bereichernde und herausfordernde Erfahrungen machen können, braucht es Zeit. Es braucht Raum für verschiedene Zeiten und Haltungen im Leben:

„Abbrechen und bauen; klagen und tanzen;
behalten und wegwerfen; schweigen und reden…
Alles braucht seine Zeit.“

In diesem Sinne verstehe ich von unserer jüdisch-christlichen Tradition her die Frage nach der Arbeitszeit: Was soll, was darf, was muss in meinem Leben Zeit finden, damit ich in Kontakt mit mir, mit meinen Nächsten und mit Gott sein kann? Damit wir in unserem Leben entdecken können, was der Prediger schreibt: „Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit.“ (3, 11)

Dazu gehört auch die „Ewigkeit“, die Momente der Fülle und des Glücks, der innigen Verbundenheit mit Gott, unserem Schöpfer. Den wir nicht ergründen können, den wir aber glauben, dem wir vertrauen mögen in diesem Leben und in dieser Zeit.

Amen.