Predigttext: Apostelgeschichte 16, 23–34
Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Kerkermeister, sie gut zu bewachen. 24 Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. 25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen. 26 Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab. 27 Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. 28 Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! 29 Der aber forderte ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. 30 Und er führte sie heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde? 31 Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! 32 Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren. 33 Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen 34 und führte sie in sein Haus und bereitete ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war. 35 Als es aber Tag geworden war, sandten die Stadtrichter die Gerichtsdiener und ließen sagen: Lass diese Männer frei! 36 Und der Kerkermeister überbrachte Paulus diese Botschaft: Die Stadtrichter haben hergesandt, dass ihr frei sein sollt. Nun kommt heraus und geht hin in Frieden! 37 Paulus aber sprach zu ihnen: Sie haben uns ohne Recht und Urteil öffentlich geschlagen, die wir doch römische Bürger sind, und in das Gefängnis geworfen, und sollten uns nun heimlich fortschicken? Nein! Sie sollen selbst kommen und uns hinausführen! 38 Die Gerichtsdiener berichteten diese Worte den Stadtrichtern. Da fürchteten sie sich, als sie hörten, dass sie römische Bürger wären, 39 und kamen und redeten ihnen zu, führten sie heraus und baten sie, die Stadt zu verlassen. 40 Da gingen sie aus dem Gefängnis und gingen zu der Lydia. Und als sie die Brüder und Schwestern gesehen und sie getröstet hatten, zogen sie fort.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
„Des Knaben Wunderhorn“, „Der Club der singenden Metzger“, „Wer die Goldkehlchen stört“, „Lenis Lied“ … Wenn ich real oder in Gedanken an meinem Bücherregal entlanggehe, kommen mir die verschiedensten Geschichten in den Sinn, die etwas mit Singen zu tun haben. Die von Menschen erzählen, für die das Singen – allein oder in Gemeinschaft – zentral ist, ihnen Halt, Hoffnung oder Heimat gibt.
Zu solchen Geschichten zählt auch die biblische Erzählung von Paulus und Silas im Gefängnis, die dem heutigen Sonntag Kantate zugeordnet ist. Zwei Männer, die aufgrund ihres christlichen Glaubens in Philippi im Gefängnis sitzen. Im „innersten Gefängnis“, wie die Apostelgeschichte präzisiert, ihre „Füße im Block“ (Apg 16, 24). Bewegungsunfähig, gefesselt, im Dunkeln.
„Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott“ (Apg 16, 25), heißt es. Als die Nacht am Dunkelsten, die Enge am bedrohlichsten ist, fangen sie an zu beten.
Man könnte meinen, hier bewahrheite sich das Sprichwort: „Not lehrt beten.“ Die verbreitete Annahme: Wenn dir das Wasser bis zum Hals steht, dann wirst du Gott schon anrufen und beten! Als würde man spätestens in Notsituationen Beten lernen.
Ich glaube nur, dass das eigentlich nicht stimmt! Denn erstens können oder wollen nach meiner Erfahrung nicht alle Menschen beten, die in Not sind. Schmerz, Erschrecken oder Trauer kann einem auch die Sprache verschlagen. Menschen in Not können auch stumm werden. Und sich wie abgeschnitten von Gott und den Menschen fühlen. In Enge, Isolation oder Finsternis, geradezu wie Paulus und Silas im Gefängnis, bloß eben ohne deren Möglichkeiten, den Mund aufzutun und zu singen, zu beten, zu klagen und zu loben.
Schwer fällt es vielen von uns, den Mund aufzumachen, vielleicht auch gerade in unserer Kultur, wo es heißt: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Als stark gilt, wer mit seinen oder ihren Nöten selbst fertig wird und andere nicht damit belästigt. Wo wir selten laut oder in Gemeinschaft beten und singen, abgesehen vom Chor oder dem Gottesdienst.
Silas und Paulus haben offensichtlich einen anderen Background und eine andere Haltung. „Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott, und die anderen Gefangenen hörten sie.“ (Apg 16, 25) Sie beten anscheinend nicht bloß in Zimmer- oder Zellenlautstärke – was für uns, wenn wir an eine Situation im Krankenzimmer, im Gefängnis oder im Hospiz denken, schon eine Herausforderung wäre! Sie beten und singen so laut, dass die Mitgefangenen sie hören können.
Die Szene erinnert mich an Filme, die die befreiende Kraft von so einem lauten gemeinsamen Singen schildern: eher individuell der bekannte schwedische Chor-Film „Wie im Himmel“, wo eine Frau sich durch die Gemeinschaft und das Singen im Kirchenchor aus einer toxischen Beziehung löst. Oder eher gesellschaftspolitisch der neuere Film „Sing Sing“, der von einem Theaterprojekt in dem berüchtigten gleichnamigen New Yorker Gefängnis erzählt. Manche kennen vielleicht auch den Film über Johnny Cash „Walk The Line“ und darin die Szene zu seinem Song „Folsom Prison Blues“.
In allen drei Filmen, wie auch bei Paulus und Silas im Gefängnis, wird laut gesungen und gebetet, aber es werden – und das ist wohl noch bemerkenswerter! – keine Klagelieder angestimmt. Sondern Hoffnungs- und Loblieder: „Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lobten Gott.“ (Apg 16, 25)
Sie rufen den Gott herbei, den sie lieben und ehren, dem sie jetzt in der Not danken möchten, vor oder mit dem sie sich freuen wollen!
Was könnte das gewesen sein, wofür Silas und Paulus Gott damals lobten? Woran mögen sie sich dankbar und fröhlich erinnert haben?
Was, meinen Sie, meint ihr, könntet ihr erinnern? Welche Bilder, Gefühle, welche Erfahrungen mit Gott könnten wir in uns hervorholen, wenn wir in Not oder Bedrängnis gerieten?
Die Bibel, insbesondere die Psalmen, bieten eine Fülle von Beispielen, wo Menschen gerade in der Not Gott danken und loben für das, was sie individuell oder als Gemeinschaft bisher, vorher schon an Gutem mit ihm erlebt haben: der Dank für die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, das Lob für Gottes einzigartige, wunderbare Schöpfung, der Dank für Bewahrung, Versöhnung oder Neuanfänge, für den Regenbogen nach der Sintflut oder das langersehnte Kind.
Wer erst in der Not anfängt zu beten oder zu singen, kann es schwer haben. Denn ihr oder ihm werden diese guten, stärkenden Bilder, Geschichten und Erinnerungen an Gott nicht unbedingt leicht zur Verfügung stehen. Not kann eben niederdrücken, stumm und einfallslos machen. Und beten, loben, singen fällt leichter, wenn wir sicherer um Gottes Kraft wissen und Gottes Wohltaten lebendiger in uns tragen.
„Count your blessings“, sagte eine ältere Dame und großzügige Unterstützerin unserer Gemeinde immer wieder. Mit dieser allabendlichen Aufforderung ihrer englisch-sprachigen Mutter war sie aufgewachsen. Der Satz wurde ihr Lebensmotto: „Count your blessings!“
Damit wir sie in der Not parat haben – die Erinnerungen oder den Glauben an Gottes Kraft und Segen, seine Liebe und Hilfe.
Als Paulus und Silas im Gefängnis laut beten und Gott loben – da spannen sie an diesem schrecklichen, gewaltvollen, dunklen Ort einen anderen Raum auf. Einen unsichtbaren Raum, der bis zum Himmel reicht und alle Gefängnismauern sprengt. Sie stellen eine Beziehung zu Gott her, die erdet, aufrichtet und Halt gibt.
Das hat Konsequenzen nicht nur für sie selbst, sondern auch für andere. Als durch ein Erdbeben die Gefängnismauern fallen, flieht keiner der Gefangenen. Alle bleiben. Ohne Angst vor Verfolgung oder weiterer Bestrafung. Vielleicht überrascht, vielleicht abwartend. In diesem Raum der Gegenwart Gottes, den Paulus und Silas durch ihren Gesang und ihr Gebet aufgespannt haben, froh und bereit, neu anzufangen.
Der Kerkermeister hingegen, so erzählt es die Apostelgeschichte, will sich das Leben nehmen. Er hat seinen Auftrag verfehlt. Jetzt hat der Peiniger selbst die größte Angst, gepeinigt und bestraft zu werden. So sehr sitzt ihm diese Logik der Gewalt in den Knochen! Und auch er erfährt, was im Raum der Gegenwart Gottes möglich ist: Vergebung, Trost und ein Neuanfang. Er nimmt Paulus und Silas in sein Haus auf, er pflegt ihre Striemen und bewirtet sie. Die Taufe wird für ihn zum Zeichen seiner Lebenswende. Sie bildet am Ende unseres Predigttextes sozusagen das „Happy End“.
Aber die Befreiungsgeschichte von Paulus und Silas, geht eigentlich noch weiter: Denn am nächsten Tag, als die Amtsdiener im Auftrag der Stadtrichter kommen, um sie freizulassen, beharrt Paulus auf der Unrechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung und einer Entschuldigung der Richter. Als römische Bürger, wenn auch christlichen Bekenntnisses, hätten sie gar nicht ohne ein ordentliches Urteil geschlagen und inhaftiert werden dürfen!
Auch dies gehört zum Singen, Beten und Loben; auch dies gehört dazu, den Raum der Liebe und Güte Gottes zu eröffnen: dass daraus Mut erwachsen kann, gegen Willkür, Gewalt und Menschenverachtung aufzustehen, für Recht und Gerechtigkeit im öffentlichen, politischen Leben einzutreten.
„Count your blessings!“ Das ist wichtig – nicht erst, wenn es eng wird und wir unter Druck geraten! Damit wir, wenn es darauf ankommt, singen und beten, Gott loben und ihm danken können. Gewiss, dass wir aus Gottes Raum der Liebe niemals und nirgendwo hinausfallen können. Amen.