Das Herz öffnen
Sonntag Sexagesimae, 23. Februar 2025
Predigt zu Apostelgeschichte 16, 9–14
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
Liebe Gemeinde!
Am Freitagnachmittag waren Maxi – der Konfirmand, der eben das Evangelium vorgelesen hat – und ich hier in der Kirche, um einmal den Text in Ruhe anzusehen und das Lesen mit Mikro am Lesepult zu üben. Da gab es eine Überraschung: In der 1. Reihe saß ein junger Mann, der zum Meditieren gekommen war und jetzt sehr genau zuhörte, was Maxi las. Und plötzlich ging es viel weniger darum, was Maxi vorlas, wie er betonte oder auftrat, als darum, was Cansin hörte. Wie er auf das Gleichnis von der Saat, die auf vier verschiedene Böden fallen kann, reagierte: „So tolle Texte in der Bibel!“, sagte Cansin. „Davon hab ich die ganze Woche was.“
Diese Szene, wie Cansin hörte, hat mir geholfen, die Geschichte von Lydia und Paulus besser oder neu zu verstehen.
Der Predigttext heute erzählt davon, wie Paulus und sein Freund Silas in Kleinasien, der heutigen Türkei, das Christentum bekannt machen und erste christliche Gemeinden gründen. Von Jerusalem kommend, versuchen sie, an die westliche Mittelmeerküste vorzudringen. Aber sie bleiben im Hinterland stecken. Es gelingt ihnen auch nicht, nach Norden an die Schwarzmeerküste zu kommen. In der Apostelgeschichte heißt es, dies sei „ihnen vom Heiligen Geist verwehrt“ worden (Apg 16, 7), aber wahrscheinlich steckte auch schlicht Abneigung gegen das Christentum dahinter.
Jedenfalls blieb dieses Stück Erde, das die damals wichtigen Handels- und Hafenstädte, die Kulturmetropolen und Informationszentren in Kleinasien umfasste, für Paulus bzw. die christliche Botschaft verschlossen. – Das kann uns zu denken geben, wenn wir heute den Rückgang des Christentums in Nord-Westeuropa und seine Ausbreitung in anderen, vermeintlich weniger wichtigen Teilen der Erde beobachten.
In dieser für ihn frustrierenden Lage hat Paulus einen Traum: Ein Mann aus Makedonien tritt auf und bittet Paulus, nach Makedonien zu kommen und ihnen dort zu helfen. (Apg 16, 9)
So weit nach Westen, so weit nach Norden ist Paulus noch nie gereist! Noch nie hat er den östlichen Mittelmeerraum, noch nie Vorderasien verlassen. Jetzt reist er auf einen Traum hin nach Europa!
Über die Insel Samothraki und die Hafenstadt Neapolis – heute Kavala – gelangen die Freunde nach Philippi, eine römische Stadt und militärische Festung. Sie landen und bleiben – ich stelle mir vor, einerseits froh, angekommen zu sein, wohin man sie gerufen hat, und andrerseits unsicher, wozu man sie denn gerufen hat.
So wie man manchmal beim Ankommen in einer fremden Stadt, auf einer neuen Stelle, auf einer neuen Schule gar nicht so genau weiß, was man dort eigentlich tun soll oder will …
Paulus orientiert sich an den religiösen Orten und Zeiten. Am Sabbat geht er mit Silas hinaus aus der Stadt an den Fluss, wo sie annehmen, dass die Juden beten würden. Doch wieder eine Fehlannahme von ihm, denn hier treffen sie erstens ausschließlich Frauen, und zweitens versammeln sich die Frauen nicht zum Beten, sondern zum Reden.
Ich finde bemerkenswert, wie Paulus sich auf seiner Reise ins Ungewisse immer wieder anrühren und ansprechen lässt, wie er offen für Änderungen bleibt. Er folgt nicht stur oder blind oder taub seinen eigenen Plänen, sondern er nimmt wahr, er hört oder versteht, wo seine eigenen Wege zwar durchkreuzt werden, sich für ihn aber andere Wege auftun.
Er kann nicht zu den Orten an der Mittelmeer- oder Schwarzmeerküste gelangen, aber er lässt sich nach Makedonien rufen. Er weiß nicht, was ihn in Makedonien erwartet, aber er fährt hin. Er ist unsicher, wie und zu wem er in Philippi Kontakt aufnehmen soll, aber er geht los, am Sabbat aus der Stadt hinaus an den Fluss. Er erwartet Männer, er trifft Frauen. Er will mitbeten und dann lässt er sich ins Gespräch ziehen …
Diese Erzählung ist in den meisten Bibeln überschrieben mit: „Die Bekehrung der Lydia“. Sie ist die Hauptperson, die erste Christin auf europäischem Boden. Sie soll auch gleich die Hauptperson sein!
Aber damit sie zur Hauptperson werden kann, braucht es Paulus, der sich zu ihr führen lässt auf verschlungenen Wegen, die nicht seinen eigenen Reiseplänen entsprachen. Der offen bleibt und sich leiten lässt von den Worten, Träumen und Möglichkeiten, die Gott ihm schickt.
Nicht nur Lydia, auch Paulus illustriert das Gleichnis von der vierfachen Saat, die mal mitten auf den Weg, mal auf felsigen Boden, mal in Dornen und mal auch auf fruchtbaren Boden fällt. Paulus illustriert wie auch Cansin am Freitagnachmittag hier in der Kirche, wie Gottes Wort ins Ohr fallen kann und uns so den Kopf oder das Herz öffnet, dass wir den Moment und seine Möglichkeiten begreifen. Den kairos, wie es im Griechischen heißt: ein von Gott erfüllter Augenblick, eine besondere gottgegebene Gelegenheit, um mich selbst, meine Nächsten und meine Aufgaben zu erkennen.
Jetzt aber Lydia! Als eine „gottesfürchtige Frau“ wird sie vorgestellt (Apg 16, 14). Das heißt, sie war nicht Jüdin, sondern römisch oder griechisch, aber sie fühlte sich von der jüdischen Religion angezogen. Sie nahm vielleicht am Gottesdienst in der Synagoge oder an Gebeten teil und befolgte die ethischen Weisungen des Judentums.
Lydia wird mit der Bezeichnung „gottesfürchtig“ geoutet als eine spirituell interessierte, suchende Frau. Sie wird sodann vorgestellt als „Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira“.
Purpur meint das Rot der Purpurschnecke, das mit Honig vermischt als kostbarer Farbstoff verwandt wurde. In der Mitte des 1. Jahrhunderts stand der Purpurhandel in voller Blüte. Selbst stark verdünnte schwache Rosatöne waren begehrte Modefarben, während das reine Purpur allein dem Kaiser und seiner Familie vorbehalten war.
Lydia war also klug und geschäftstüchtig, als sie ihr Handelsunternehmen aus der Provinz an den römischen Militärstandort Philippi verlegte. Eine Unternehmerin, weltläufig, alleinstehend, mutig und aufgeschlossen …
Sie legt die Spur der ersten Christusanhängerinnen Maria Magdalena, Salome, Susanna, Maria und Martha in Europa weiter.
Von Lydia heißt es: Ihr „tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf Acht hatte, was von Paulus geredet wurde.“ (Apg 16, 14) Gottes Wort fällt nicht als eindeutiges, gesprochenes Wort in ihr Herz. Sondern Gott schließt ihr das Herz so auf, dass sie aufmerksam zuhört, was Paulus sagt. Dass also auch sie – wie zuvor Paulus – nicht nur ihre eigenen, vielleicht unternehmerischen Pläne und Wünsche hört, sondern beginnt zuzuhören, hinzuhören …
Diese Erfahrung führt Lydia dazu, dass sie sich und das „Haus“, dem sie vorsteht, also ihre Angehörigen und Angestellten, taufen lässt. Unmissverständlich bekennt sie sich zu dem „neuen Weg“, wie die Christusbewegung am Anfang hieß. Will nicht mehr bloß „gottesfürchtig“, also spirituell interessiert sein, sondern sich bekennen und dazugehören.
Sie entscheidet sich für eine Gemeinschaft, in der es bis heute ums Zuhören geht, um Zuwendung und Zuspruch, ums Hinhören und um Hingabe. Eine Gemeinschaft, die nach Gott und den Nächsten fragt, danach, wie die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen zusammenhängen.
Manche von Ihnen, von euch mögen die neue Veröffentlichung des Medienwissenschaftlers und Tübinger Hochschullehrers Bernhard Pörksen wahrgenommen haben. Sein neues Buch heißt „Zuhören“. Es lohnt sich! Pörksen unterscheidet darin zwischen dem Ich-Ohr und dem Du-Ohr. Während das Ich-Ohr nur das hört, was ich selbst fühle, weiß oder kenne, versucht das Du-Ohr sich in die fremde Welt des Anderen hineinzuhören.
Ich glaube, dass es in der Geschichte von Lydia und Paulus darum geht, wie ihnen das Du-Ohr geöffnet wird. Wie Gott ihnen hilft, sich für neue Wege zu öffnen, für Planänderungen und überraschende Begegnungen. Wie sie beginnen, ihr Ich-Ohr mit dem Du-Ohr abzugleichen, wie sie sich verwirren, irritieren und zu anderen hin umorientieren lassen und dabei offen bleiben für die gottgegebenen Gelegenheiten in ihrem Leben.
Die Begegnung von Lydia und Paulus – sie endet damit, dass Lydia Paulus und seine Freunde einlädt, eine Weile bei ihr im Haus mitzuwohnen. Sie werden ihre Gäste, es entstehen Freundschaften und die erste christliche Gemeinde in Europa, deren Leiterin sehr wahrscheinlich die Purpurhändlerin Lydia war (vgl. Phil 1, 3-6). Der Beginn des Christentums in Europa …
Ich denke, wir alle hier im Gottesdienst werden heute mehr oder weniger mit der Bundestagswahl beschäftigt sein. Mit unserer Stimme, mit den Wahlergebnissen, die wir heute Abend erfahren, und den Veränderungen, die möglicherweise in unserem Land eintreten.
Dem guten Beispiel von Lydia und Paulus folgend, mögen wir in allem, was uns umtreibt, uns empört oder ängstigt, weiterhin dranbleiben mit dem Du-Ohr, einander zuhören und uns hinwenden. Weiterhin unser Herz offenhalten für Gottes Wort. Für die Menschen, die schwächer sind als wir und unsere Gastfreundschaft und Nächstenliebe brauchen. Für die Themen, die verlorenzugehen drohen, wie Gerechtigkeit zwischen den Generationen und Kontinenten und auch Gerechtigkeit für Gottes Schöpfung, die unser Handeln braucht.
Das Du-Ohr nicht verschließen, das uns hilft, Wege zueinander und zu Gott zu finden. Und uns von Gottes Liebe leiten lassen, die höher ist als unsere Vernunft. Amen.