Den Frieden kommen sehen
Gottesdienst am drittletzten Sonntag des Kirchenjahres
Predigttext:
In den letzten Tagen aber wird der Berg, darauf des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen, und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berge des HERRN gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Er wird unter vielen Völkern richten und mächtige Nationen zurechtweisen in fernen Landen. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des HERRN Zebaoth hat’s geredet. Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des HERRN, unseres Gottes, immer und ewiglich! (Micha 4, 1-5)
Predigt:
Gnade sei mit euch und Friede. Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und ein Wort für unser Herz. Er segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde,
vielleicht haben Sie heute morgen, bevor Sie zum Gottesdienst aufgebrochen sind, noch die Nachrichten gehört:
In Moskau sind zwei Flughäfen wegen ukrainischer Drohnenangriffe vorrübergehend geschlossen worden. In Odessa gab es dagegen Drohnenangriffe von russischer Seite. Das russische Militär rücke zudem im Osten der Urkaine weiter vor.
Israel hat erneut Ziele im Gazastreifen angegriffen und dabei nach eigener Darstellung zahlreiche Terroristen getötet und ein Waffenlager vernichtet. Palästinensische Stellen sprachen von 30 getöteten Zivilisten. Auch der Beschuss auf den Libanon sei fortgesetzt worden, Abschussrampen der Hisbollah seien dabei im Visier.
Katar so wurde schon gestern bekannt zieht sich als Vermittler um eine Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas zurück, weil die Verhandlungen seit Monaten stocken und beide Seiten kein ernsthaftes Interesse erkennen lassen, wirklich zu einer Regelung zu kommen.
Das ist das, was wir aus unserer Welt hören.
Und hier und jetzt haben Sie Micha gehört. Er erzählt vom Frieden. Er beschreibt ein festes Haus auf einem hohen Berg, das Sicherheit verspricht. Alle Menschen kommen dorthin, denn dort wird Friede sein. Aus allen Teilen der Erde strömen sie zusammen und lassen die Welt, wie sie einmal war hinter sich. Keiner kämpft mehr gegen den anderen, keiner reißt mehr die Macht an sich und geht dafür über Leichen. Die Zeit der blutigen Auseinandersetzungen ist vorbei. Gott selbst sorgt für Gerechtigkeit. Und die Menschen lernen nicht mehr Krieg zu führen, sondern in Frieden zu leben. Jeder sitzt in Ruhe unter seinem Weinstock und Feigenbaum. Jede hat genug. Keiner muss Angst haben zu kurz zu kommen, keine muss der anderen etwas wegnehmen. Alle schmecken die Fülle und den Reichtum eines friedlichen Lebens.
Da hat ein kleiner Prophet eine große Vision. Was für ein Kontrast zu dem, was wir erleben. Völlig realitätsfern! Oder besser: Micha scheint eine Realität jenseits unserer Welt zu beschreiben. „Die letzten Tagen“ eben. Das ist noch lange hin. Wie lange eigentlich? Das haben schon die Jünger Jesus gefragt und keine wirklich greifbare Antwort bekommen.
Vielleicht denken manche von Ihnen, wenn Sie diese Micha-Worte hören: Das ist nicht sonderlich hilfreich für unsere Gegenwart, in dieser Welt, wie sie nun mal ist. Wie sollen wir daraus lernen, mit der Ungerechtigkeit, dem Hass, dem Kriegstreiben umzugehen? Das geht völlig an dem vorbei, was unsere Wirklichkeit und unser Alltag ist!
Vielleicht denken andere: Wie schön diese Bilder vom Frieden. Darin kann man sich einen kleinen Moment ausruhen. Davon träumen. Wirklich ein Wort für unser Herz. Hoffnungslicht am Ende des Tunnels.
Wunderschön oder total daneben? Es ist genau die Ambivalenz, in der auch Micha steckt. Der Prophet lebt ja auch in der Realität, in seiner damaligen Realität. Und die beschreibt er so: „Haben die Leute etwas zu beißen, dann rufen sie: Friede! Wer ihnen aber nichts in den Mund steckt, dem sagen sie den Heiligen Krieg an. Darum kommt die Nacht über euch, in der ihr keine Visionen mehr habt.“ – so seine Botschaft an die Landsleute.
Und doch entwickelt Micha dann diese Vision vom Leben in Frieden. Seine Bilder sind ausdrucksstark: das feste Haus, der hohe Berg, ein ruhiges Plätzchen unterm Feigenbaum und „Schwerter zu Pflugscharen“. Dieses letzte Bild ist – heutzutage würde man sagen – viral gegangen. Der Prophet aus dem 8. Jh vor Christus hat es mit diesem Ausdruck bis in Wikipedia gebracht, wo es einen eigenen Artikel „Schwerter zu Pflugscharen“ gibt. Dieses Zitat ist ein „geflügeltes Wort“ geworden. Ein Wort, das Flügel bekommen hat und durch die Jahrhunderte geflogen ist, über Mauern und durch eiserne Vorhänge hinweg. Die Ambivalenz ist dabei mitgeflogen.
Am 4. Dezember 1959 schenkte die Sowjetunion den Vereinten Nationen eine Bronzeskulptur, sie sehen Sie auf ihrem Zettel, den Sie am Eingang bekommen haben. Der Künstler Jewgeni Wiktorowitsch Wuuuutschetitsch hat im Stil des sozialistischen Realismus einen muskulösen Helden dargestellt, der ein Schwert zu einem Pflug umschmiedet. Die Statue steht noch heute im Garten des Hauptquartiers der UNO in New York. Einerseits war dieses Geschenk eine Referenz an den Friedensauftrag der UN-Charta. Die sowjetische Partei- und Staatsführung erklärt damit offiziell ihre Bereitschaft zu einer friedlichen Koexistenz mit dem „Klassenfeind“. Andererseits wollte sie sich damit als Friedensmacht repräsentieren und ihre Hochrüstung für ausschließlich defensive Zwecke behaupten. Auch da schwingt die Ambivalenz mit.
Viele Jahre später, 1979, findet sich das Motiv dieser Skulptur auf der Einladung zur ersten Friedensdekade der DDR wieder, die unter dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ steht. Nicht ohne Ironie haben der Jugendpfarrer Harald Bretschneider und die Graphikerin Ingeborg Geißler, die das Logo entworfen haben, da mit der staatlichen Propaganda gespielt. Die Zeichnung der Skulptur mit den Micha-Worten drumherum ist zum Symbol der Friedensbewegung geworden, erst in Ost- später zum Teil auch in Westdeutschland.
„Schwerter zu Pflugscharen“ oder „Frieden schaffen ohne Waffen“ – was lange in christlichen Kreisen gefordert wurde, ist für viele Gläubige spätestens mit der Frage, ob Deutschland Waffen an die Ukraine liefern soll, schwierig geworden. Wie gesagt: Die Ambivalenz schwingt immer mit. „Pflugscharen und Schwerter“ – heißt ein 2019 erschienenes Buch des langjährigen Militärdekan Hartwig von Schubert, das er selbst als ein Plädoyer für eine realistische Friedensethik beschreibt. Ein Versuch, der Ambivalenz gerecht zu werden. Auflösen, so glaube ich, wird man sie nie können.
Ich denke, Micha platziert sich mit seiner Vision ganz bewusst mitten in diesem Spannungsfeld von gewaltsamer Gegenwart und Sehnsucht nach Frieden. Beides scheint ja in uns Menschen tief verwurzelt: der Impuls, unserer Gegenüber als Feind zu betrachten und zu behandeln, wenn wir in die Enge getrieben werden, Angst haben, zu kurz zu kommen, verletzt und gekränkt sind. Oder auch einfach, wenn die Gier nach Macht groß wird. Und andererseits die Sehnsucht danach, in Geborgenheit und Frieden miteinander leben zu können. Lässt sich diese Spannung wirklich erst „in den letzten Tagen“ auflösen?
In der Bibel finden wir Zeugnisse davon, wie zu unterschiedlichen Zeiten immer mal wieder über die „letzten Tage“ nachgedacht wird. Besonders ausführlich geschieht das im letzten Buch der Bibel, in der Apokalypse des Johannes. Dort spricht der auf dem Thron: „Siehe ich mache alles neu“. Und ein neues Jerusalem kommt aus dem Himmel. Vieles, was dort beschrieben wird, ist fremd und neu, auch schwer verständlich und geheimnisvoll.
Micha macht das ganz anders. Er lässt kein neues Jerusalem herabschweben, er beschreibt das alte Jerusalem, wo Wein angepflanzt und Böden umgegraben werden. Seine Vision ist in Verbindung mit dem Hier und Jetzt und knüpft an die Orte und Szenen an, die den Zuhörer:innen bekannt sind. Pflugscharen und Sicheln, Feigenbaum und Weinstock – das haben alle vor Augen. Der Prophet malt keinen neuen Himmel und keine neue Erde, sondern er verrückt die bekannten Orte und Szenen. Er knüpft an die Realität an, aber verändert sie: Zion – eigentlich ein eher unscheinbarer Hügel – überragt in seiner Vision alles andere. Die Völker, die bisher gegen Jerusalem angerannt sind, um die Stadt und das Land zu erobern und zu plündern, kommen nun in friedlicher Absicht. Sie wollen nicht mehr das Kriegshandwerk lernen, sondern die Thora, die Weisungen Gottes. Konflikte werden vor Gericht gelöst und nicht mit Schwert im Kampf.
Das, was da erwartet wird, ist nicht überirdisch, es ist schon von dieser Welt. Der Pflug gräbt sich in diese Erde, die wir mit unseren Händen greifen können. Die Zukunft, die er Prophet ausmalt, ist auch kein Schlaraffenland. Micha spannt nicht die Hängematte unter Weinstock und Feigenbaum aus, sondern er drückt den Leuten Pflug und Winzermesser in die Hand. Es bleibt Arbeit zu tun. Es wird auch Konflikte geben, aber sie werden eben anders gelöst. Gott wird richten, denn Friede geht nicht ohne Gerechtigkeit oder wie der Psalm, den wir heute gesprochen haben, es so schön poetisch formuliert: Gerechtigkeit und Friede küssen sich.
„Stellt euch vor“ – sagt Micha – „so könnte es sein“. Die Kraft einer Verheißung liegt nicht erst in ihrer Erfüllung, sondern in der Anziehungskraft, die sie entwickelt, in dem Glauben, den sie nährt, in der Hoffnung, die sie freisetzt, in der Sehnsucht, die sie wachruft. Wir kennen das alle: Ein anderer Blick auf die Realität hat das Potential sie zu verändern. Michas Vision kündigt eine Zukunft an, die zwar noch nicht da ist, aber er weckt damit die Fantasie, die Gegenwart anders zu sehen, und die Energie, sie anders zu gestalten. Und damit ist es eben doch keine völlig weltfremde Vision, sondern eine, die schon in diese unsere Welt hereinragt – wenn wir sie hereinragen lassen.
Damit erinnern Michas Worte mich an die Reich-Gottes-Botschaft Jesu: Auch er schildert immer Szenen, die den Menschen vertraut sind. Ein Festmahl, eine Hochzeit, ein Schatz im Acker, Senfkorn oder Sauerteig. Jesus erzählt von einer besseren Welt, die einmal sein wird, die aber schon jetzt begonnen hat, mitten unter uns oder auch innwendig in uns. Die Spannung zwischen dem schon jetzt und dem noch nicht, ist spürbar. „In den letzten Tagen“ heißt nicht, dass wir in diesen unseren Tagen, die Hände in den Schoß legen sollen.
„Selig sind, die Frieden stiften“ sagt der Wochenspruch und nicht: „Selig sind, die mit Gottvertrauen geduldig auf Frieden warten.“ Friede ist nicht, zumindest nicht nur, ein politisches Projekt. Dann könnten wir uns schnell für nicht zuständig erklären. Frieden ist eine Lebenseinstellung. Er beginnt nicht auf der Straße oder im politischen Rampenlicht, sondern in den Kinderzimmern oder auch bei der Art, wie wir uns ausdrücken oder über andere reden. In unserer Fantasie, in unserer Sprache, in unserer Sehnsucht können wir schon heute abrüsten. Das ist nicht naiv, das dringend notwendig. Und es ist schwierig. Es ist echte Arbeit. Im Talmud heißt es: „Du bist nicht verpflichtet, deine Arbeit zu vollenden. Aber es ist dir nicht freigestellt, sie aufzugeben.“ In diesem Sinne, lassen Sie uns arbeiten an einer friedvolleren Welt, damit Gerechtigkeit und Frieden sich küssen können. Amen.
* mit Anregungen von Kirsten Weingart, Predigtstudien; Perikopenreihe VI, Zweiter Halbband, 2023/202, S. 231