Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Erwartung

Erwartung

Predigt am Heiligabend
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Heiligabend 2024

Predigt in der Christvesper

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

Liebe Weihnachtsgemeinde!

„Wir brauchen einen Messias – und Gott schickt uns einen Säugling! Kann er diesen Erwartungen gerecht werden?“

So fragt – ein bisschen streng – eine der Hirtinnen in dem Podcast, den die Konfirmanden dieses Jahr zu Weihnachten gemacht haben. Ihr könnt ihn auf der Homepage der Kirchengemeinde anhören.

„Wir brauchen einen Messias – und Gott schickt uns einen Säugling! Kann er diesen Erwartungen gerecht werden?“

Ich glaube, das ist eine ziemlich gute Einfühlung der Konfirmanden in die Hirten, denen damals von einem Engel Jesu Geburt verkündet wurde. Mitten in der Nacht, draußen auf dem Feld, wo sie die Schafe hüteten. Sie warteten wie die meisten im Volk Israel auf den Messias, auf den Retter oder Erlöser, den Gesalbten, wie er im Alten Testament verheißen wird.

Sollte nun der Retter etwa in Gestalt eines Neugeborenen erscheinen? Wie soll ein Baby die Hoffnung auf Erlösung erfüllen?

Es ist ein Paradox unseres christlichen Glaubens, dass wir an einen allmächtigen, allgegenwärtigen Gott glauben, der sich in einem Säugling im Stall offenbart. Dass wir unsere Hoffnung auf einen Gott setzen, der im Himmel thront und dessen Sohn auf Erden anderen Menschen die Füße gewaschen hat. Dass wir Gottes Kraft und Herrlichkeit erkennen in Liebe und Demut.

Die – oder jedenfalls eine – spannende Frage unserer Zeit ist bloß: Was erwarten wir? Worauf hoffen wir?

„Wir brauchen einen Messias“, sagt die Konfirmandin im Podcast in der Rolle einer Hirtin. „Kann ein Säugling unseren Erwartungen gerecht werden?“

Ein bisschen erinnerte mich dieser Satz an meine Tochter, die sich als Kind Jahr für Jahr ein ferngesteuertes Auto wünschte. Immer misstrauischer, mit skeptischem Blick, im Laufe der Zeit geradezu trotzig notierte sie auf ihrem Wunschzettel: „1 ferngesteuertes Auto“. Mit gerunzelter Stirn schien sie sich zu fragen: Kann der Weihnachtsmann oder das Christkind meine Erwartungen erfüllen?

Wenn es auch Spaß macht, Wunschzettel zu schreiben, so geht es doch Weihnachten für die meisten Älteren um mehr. Um mehr und anderes als materielle Geschenke, so sehr sie uns Freude machen.

Die Konfirmandinnen und Konfirmanden fragen sich im Podcast gegenseitig: „Worauf freust du dich zu Weihnachten?“ Und dann kommen Weihnachtslieder und der Weihnachtsbaum, freie Zeit, ein Kaminfeuer, Dunkelheit und Schnee … Idyllische Bilder, in die wir unsere Sehnsucht hineinlegen nach Geborgenheit, Wärme und Frieden.

Gegenbilder zu den erschreckenden, auch brutalen Bildern, die wir täglich sehen und die uns verfolgen können, sei es aus Magdeburg, aus Kiew oder dem Jemen.

Was könnte uns Weihnachten also bringen?

Als ich am 3. Advent in Berlin im Gottesdienst war, sagte der alte, pensionierte Vertretungspfarrer: „Wer sich nicht auch selbst bedürftig fühlt, kann von Weihnachten eigentlich nichts erwarten.“

Das klang in meinen Ohren zuerst hart. Aber der Satz begleitete mich, und je länger er mich begleitet, umso besser verstehe ich ihn. Wer selbst nichts benötigt, so höre ich ihn, wer sich nach nichts sehnt, auf nichts hofft – der kann auch nichts von Weihnachten erwarten.

Weihnachten kann es nur für diejenigen werden, die hoffen, warten, wünschen, sich sehnen … Denen auf irgendeine Weise bewusst ist, dass ihnen etwas fehlt und sie bedürftig sind.

Vielleicht, dass wir Zweifel und Angst kennen. Dass wir uns nicht für unangreifbar halten, nicht allzu zufrieden mit uns selbst sind, nicht fertig mit unseren Einstellungen und Meinungen. Sondern wissen, dass wir auch Unterstützung, Mitgefühl oder Korrekturen von anderen brauchen.

Vielleicht, dass uns bewusst ist, dass unsere Familien, unsere Beziehungen als Paar oder zu unseren Freundinnen und Freunden nicht perfekt sind. Sondern wir uns aneinander reiben, uns missverstehen, uns mitunter gleichgültig oder abwertend verhalten. Und darum spüren, dass wir eigentlich viel mehr Liebe brauchen: Nächstenliebe, manchmal Selbstliebe, auch Liebe zur Schöpfung, zu den Tieren und Pflanzen, zu den Elementen und zu Gott.

Vielleicht die Wahrnehmung, dass der Welt, in der wir leben, offenbar etwas oder vielmehr sehr viel fehlt, dass Gewalt, Hass und Hetze so stark sind und wir für so viele Fragen Lösungen brauchen! Und dabei ahnen, dass unsere menschlichen Erfindungen allein – sei es KI oder das Internet der Dinge, der 3D-Druck oder Quantencomputer – unsere Welt nicht erlösen können. Sondern es eine Friedfertigkeit, eine Verbundenheit der Menschen untereinander und mit der Schöpfung braucht, die unser Handeln fundamental anders ausrichten.

Weihnachten kann es werden für alle, die fühlen, dass wir Erlösung von den zerstörerischen Kräften in uns und um uns brauchen. Die auf Veränderung hoffen und warten, darum beten und sie herbeiwünschen – vielleicht trotzig und mit gerunzelter Stirn wie meine kleine Tochter über ihrem Wunschzettel. Vielleicht erwartungsfroh wie die Hirten damals, die sich nachts von einem Engel in einen Stall locken ließen – weil sie auf Erlösung hofften.

Mein vorgezogenes Weihnachtserlebnis ist dieses Jahr im Eimsbüttler Jazz-Club „Birdland“ passiert: Ich war bei einem Konzert, das als „Open Stage“ angekündigt war. Semi-professionelle Sängerinnen und Sänger konnten sich mit ein oder zwei Songs anmelden. Eine vierköpfige Band war da, um sie zu begleiten. Tolle Stücke wurden vorgetragen!

Gegen Ende des Abends, als ich gerade gehen wollte, wurde ein korpulenter, junger, blinder Mann durch das Publikum nach vorne geführt. Mit Hilfe einer anderen Sängerin erklomm er die zwei Stufen auf die Bühne. Sie half ihm, den Klavierhocker richtig einzustellen und das Mikro zu justieren.

Und dann begann er, erst zaghaft, dann immer ausgelassener mit einer schönen Stimme aus vollem Herzen zu singen: „I’ll Be There“. Das bekannte Lied, das auch Mariah Carey gesungen hat:

„You and I must make a pact,
we must bring salvation back …“

Auf Deutsch:
„Du und ich müssen einen Pakt schließen,
wir müssen Rettung bringen.“

Als er den Refrain schmetterte, stiegen mir Tränen in die Augen:

„I’ll be there to protect you …
Just call my name
and I’ll be there …“

Ein blinder junger Mann, der kaum alleine auf die Bühne kommt, der das Mikro nicht sieht, in das er singt – der aber voll da ist, präsent, bereit zu singen, zu feiern, zu lieben, andere zu beschützen und für sie da zu sein.

Worauf setzen wir unsere Hoffnung? Was oder wen erwarten wir? Was fehlt uns?

Vielleicht ein Retter, in Windeln gewickelt, der uns die Kleinen und Schwachen ans Herz legt. Vielleicht einer, der uns zeigt, wie wir uns vor anderen verneigen und ihnen die Füße waschen. Vielleicht ein blinder Beschützer, dem wir eher vertrauen können als manchen Sehern und Beratern unserer Zeit.

Hoffentlich, so mein Wunsch, entdecken wir den liebevollen menschgewordenen Gott, der uns an die Hand nimmt und unsere Füße auf Wege des Friedens richtet, auf dass wir ihm gerecht werden können. Amen.