Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Es mag sein, dass alles fällt …

Es mag sein, dass alles fällt …

Predigt im Gottesdienst zur Einweihung der Gefallenentafeln des Ersten Weltkrieges am Volkstrauertag, 17. November
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr, 17. November 2024

Predigt zu Römer 14, 7–13 und EG 378

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Es mag sein, dass alles fällt …“ Als ich im Sommer diesen Liedtitel für die Ankündigung des heutigen Gottesdienstes im Gemeindebrief wählte, ahnte ich nicht, wie er in der Woche nach der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA, der Ernennung seiner Berater, nach der Regierungskrise in Deutschland und dem Beschluss von Neuwahlen klingen würde … Wie die Formulierung „Es mag sein, dass alles fällt“ unseren Befürchtungen Ausdruck geben könnte, dass eine der wichtigsten Demokratien „fällt“ oder dass Bündnisse fallen, die der Verteidigung auch unserer Freiheit und Demokratie dienen.

Im Sommer bezog ich den Liedtitel innerlich eindeutiger auf die Fragen von Krieg, Tod und Leid, die am Volkstrauertag und bei der Wiedereinweihung der Gefallenentafeln aus dem Ersten Weltkrieg im Raum stehen.

Ich dachte und stelle mir vor, dass sowohl die Kämpfenden und Sterbenden als auch ihre Familien und Freunde damals nach der ersten Euphorie zu Beginn des Krieges im August 1914, nach den zermürbenden Gefechten, bei denen so viele Menschen starben, physisch und psychisch verletzt wurden, irgendwann den Eindruck bekamen: „Es mag sein, dass alles fällt.“ Weil die Linien und Stellungen nicht mehr zu halten waren. Weil so viele – insg. fast 10 Mio. Soldaten – auf allen Seiten fielen. Weil der Traum vom Deutschen Reich zerfiel, der Traum, die größte, stärkste Macht in Europa zu werden.

Und wie ernst und bedrohlich wird der Titel „Es mag sein, dass alles fällt“ erst in der Zeit gewirkt haben, als Rudolf Alexander Schröder dieses Lied dichtete! 1936, als Deutschland noch im Rausch der Olympiade in Berlin schwelgte, schrieb er – wir haben es eben gesungen:

Es mag sein, dass alles fällt,
dass die Burgen dieser Welt
um Dich her in Trümmer brechen.

Das war mutig. Und drei Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine geradezu prophetische Ansage!

Rudolf Alexander Schröder kannte die Erfahrung, wie zerbrechlich die Welt ist. 1878 im Kaiserreich geboren, war er in Bremen in einer kinderreichen, pietistisch geprägten Kaufmannsfamilie aufgewachsen. Er hatte in München, Paris und Berlin gelebt, war mit Literaten und Künstlern bestens vernetzt, wurde beruflich erfolgreich als Architekt, Dichter und Maler.

Wie die meisten seiner Zeitgenossen hatte er Deutschlands Eintritt in den Ersten Weltkrieg begeistert begrüßt. Zu Kriegsbeginn hatte er als 36-jähriger Marine-Artillerist auf der Insel Wangerooge den berüchtigten „Deutschen Schwur“ verfasst, der weit über den Ersten Weltkrieg hinaus seine Wirkung entfaltete und es bis in die Liederbücher von SA und Hitlerjugend schaffte.

Schröder erlebte, wie das Kaiserreich unterging, wie die Kriegseuphorie von 1914 kippte, wie die Demokratie der Weimarer Republik in Trümmer fiel. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete für ihn, auch als homosexuellen Mann, einen gravierenden Einschnitt in sein bisheriges Leben. Jedes Auftreten in der Öffentlichkeit wurde ihm untersagt. Er verließ Bremen und zog in das abgeschiedene Bergen in Oberbayern.

Doch wenn Schröder den Umzug zu Beginn des Dritten Reichs nach Bayern zwar als distanzierenden Schritt in die innere Emigration bezeichnete, so arrangierte er sich auch mit den Nationalsozialisten.

Er wirkte einerseits als Schriftsteller und Kirchenlieddichter – und hat übrigens auch das Glaubenslied gedichtet, das wir heute gesungen haben. Er stand dem gemäßigten Flügel der Bekennenden Kirche nahe. Er setzte sich für einzelne Jüdinnen und Juden aus seinem Freundeskreis ein und lehnte die Rassenideologie des Nationalsozialismus ab.

Und andererseits schrieb er für Zeitschriften, die strikt der Führung durch Adolf Hitler verpflichtet waren. Seine Lieder erschienen in Liedsammlungen der SA und der SS. Er hegte Ressentiments gegen die jüdischen Exilierten der NS-Zeit.

Möglicherweise ist Schröder in diesem Sowohl-Als-Auch typisch für viele Menschen seiner Zeit.

Nach den grausamen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und den turbulenten Jahren der Weimarer Republik mag er sich wie viele Intellektuelle seiner Zeit gefragt haben, welche Zeit, welches Reich nun wohl mit den Nationalsozialisten aufziehen würde. Ob Gewalt, Diktatur und Menschenverachtung sich durchsetzen, ob das Böse siegen würde?

So schreibt er in der zweiten Strophe unseres Liedes:

Es mag sein, dass Trug und List
eine Weile Meister ist;
wie Gott will, sind Gottes Gaben.

Schröder wirkt hoffnungsvoll: „Es mag sein“, das heißt ja: Die Geschichte ist offen. Sie kann so oder so ausgehen. Gottvertrauen und leise Zuversicht klingen daraus.

Es mag sein, dass Frevel siegt,
wo der Fromme niederliegt;
doch nach jedem Unterliegen
wirst du den Gerechten sehn
lebend aus dem Feuer gehen,
neue Kräfte kriegen.

Man kann den Grundton, die Grundaussage seines Liedes als eine Ermutigung zu grenzenlosem Vertrauen in Gottes Macht und Lenkung hören: Nach jedem „Unterliegen“, nach jeder Niederlage, selbst aus dem Tod werden Menschen wieder auferstehen und „neue Kräfte kriegen“. Das wird nach dem Weltkrieg und den gesellschaftlichen Umstürzen, die er erlebt hatte, seine Hoffnung, sein Glaube gewesen sein.

So ähnlich wie Schröders Hoffnung kann man den markanten Bibelvers aus unserem heutigen Predigttext im Römerbrief im 14. Kapitel verstehen:

Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. (Röm 14, 8)

Eine große Gewissheit, dass wir im Leben wie im Sterben nicht aus der Verbindung mit Jesus Christus, nicht aus Gottes Macht der Liebe herausfallen können. Dass Krankheit, Verletzung und Trauer, nicht einmal der Tod uns trennen kann von Gottes Lebendigkeit, seinem Ja zum Leben und zu seinen Geschöpfen.

Aus dem Glauben, dass Jesus Christus durch seine Auferstehung den Tod besiegt hat, kommt die Gewissheit, dass uns der Tod im Letzten – in unserer Beziehung zu Gott – nichts anhaben kann.

Dies ist, so empfinde ich es, ein ungeheuer tröstlicher Gedanke. Ein Glaube, der uns tragen kann in persönlichen Katastrophen ebenso wie im Blick auf äußere politische und gesellschaftliche Bedrohungen. Der Kraft, Klarheit und Gelassenheit schenken kann.

Neben diesem Grundton eines eher geduldigen, stillen Gottvertrauens werden in Schröders Lied aber auch andere Gedanken laut: Er spricht nicht allgemein von „dem Menschen“, der „lebend aus dem Feuer geht“ und „neue Kräfte kriegt“, sondern von „dem Gerechten“. Und er fordert in der letzten 5. Strophe zum „Streit“ auf:

Es mag sein, so soll es sein!
Fass ein Herz und gib dich drein;
Angst und Sorge wird’s nicht wenden.
Streite, du gewinnst den Streit!

Auch hier gibt es Parallelen zu unserem Bibeltext: Der zwar nicht direkt von Streit, von Engagement oder Widerstand gegen das Böse spricht, aber von der „Rechenschaft“, die wir Gott gegenüber abzulegen haben:

So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. (Röm 14, 12)

Es ist ein unbeliebtes theologisches Bild geworden, vielleicht weil es überstrapaziert wurde und oft zur Unterdrückung und Einschüchterung von Menschen eingesetzt wurde. Das Bild von Gott als Richter, der auf dem „Richterstuhl“ Rechenschaft und Gerechtigkeit von uns fordert und selbst Recht spricht.

Schröder redet im Sprachgebrauch des Alten Testaments von den „Gerechten“, die Gott lieb hat, weil sie sich für Barmherzigkeit einsetzen und für Gerechtigkeit streiten.

Als Glaubende sind wir von Gott gefragt, wo wir uns für Gerechtigkeit und Frieden, für das Leben aller Menschen und auch für unsere Mitschöpfung einsetzen. Wo wir, um Schröder zu zitieren, uns „ein Herz fassen“, aufstehen und „streiten“.

Ich frage mich, wie Christinnen und Christen vor 100 Jahren, wie die damaligen Gemeindemitglieder und die Familien, deren Namen wir auf den Gefallenentafeln lesen, diese Fragen für sich beantwortet hätten. Wofür wollten sie „streiten“? Wie verbanden sie ihren Glauben mit den Kriegserlebnissen, mit dem Verlust von Söhnen, Ehemännern und Freunden? Wie standen sie zu den darauffolgenden Bemühungen um Frieden und Demokratie? Welche Lehren zogen sie aus dem Krieg?

Wir können in unseren Familien bis heute danach fragen, wie sie solche Fragen im Zweiten Weltkrieg und im Nationalsozialismus beantwortet haben: Wer hat die Anpassung oder das Sowohl-Als-Auch gewählt, wer ist innerlich emigriert, wer hat Widerstand und Streit gewagt? Für welche Ziele, für welche Glaubens-sätze sind unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern eingetreten? Waren sie bereit, Gott oder anderen Menschen gegenüber Rechenschaft abzulegen über ihr Handeln, ihre Entscheidungen, ihr Leben?

Und natürlich gilt das auch für uns heute, die wir in unserer Zeit gefragt sind, wie wir uns zu manchen unmenschlichen Mechanismen verhalten. Wo stehen wir auf gegen Rechtspopulismus? Wenn die Würde von Menschen verletzt oder missachtet zu werden droht? Wo haben wir Möglichkeiten, wo trauen wir uns, uns „ein Herz zu fassen“ und zu „streiten“ für Barmherzigkeit und Gerechtigkeit?

Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi (2. Kor 5, 10a),

heißt der heutige Wochenspruch. Und zugleich gilt:

Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. (Röm 14, 8a)

In diesem Glauben gehören wir jetzt schon zu Gottes Reich, das Lebende und Tote umfasst, aus dem wir nicht herausfallen können. Und zugleich wächst Gottes Reich, wird lebendig und auch für uns selbst erfahrbar, wo wir uns von Gottes Liebe zum Leben anstecken lassen, uns „ein Herz fassen“ und laut und vernehmbar, klar und sichtbar für Frieden und Gerechtigkeit einstehen.

In diesem Sinne mögen die Gefallenentafeln des Ersten Weltkriegs uns trösten, uns erinnern und uns mahnen, dass wir der leuchtenden Spur der Barmherzigkeit und des Friedens Gottes folgen, auf die wir gerufen sind. Amen.