Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Fürchtet euch nicht

Fürchtet euch nicht

Predigt im Kantaten-Gottesdienst am 1. Weihnachtstag
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

1. Weihnachtstag 2024

Predigt zu Lukas 2 und zur Kantate "Fürchtet euch nicht" (BuxWV 30)

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Fürchtet euch nicht!“ Wieder und wieder singen es der Sopran und der Bass in der gleichnamigen Kantate von Dietrich Buxtehude, wechseln sich ab mit ihrem Zuruf: „Fürchtet euch nicht!“ Der Kern, die Mitte der Weihnachtsbotschaft.

Nie werde ich vergessen, wie ich vor einigen Jahren bei der Generalprobe ihres Weihnachtskonzerts die Drittklässler der Grundschule Turmweg fragte: „Was sagt der Engel?“ Und 80 Kinder mir entgegenriefen: „Fürchtet euch nicht!“

Unvergessen auch die Kirchenübernachtung mit den Konfirmanden dieses Jahr Ende September, als wir uns mit Engeln beschäftigten. Und eine Gruppe auf einem großen Flip-Chart-Bogen Sätze aufschreiben sollte, die Engel ihrer Auffassung nach sagen:

„Fürchte dich nicht!“, schrieben sie.
„Du schaffst das!“
„Ich bin bei dir!“

Empowerment-Sätze, wie sie heute in der Sozialpädagogik und der Psychologie verwandt werden, um Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu mehr Selbstbewusstsein und Selbstbestimmtheit zu verhelfen.

„Hab keine Angst!“
„Du schaffst das!“
„Du bist nicht allein!“

Lebenswichtige Sätze zum Beispiel für Kinder, die mit psychisch kranken Eltern aufwachsen und oft wenig Gespür und Ausdrucksmöglichkeiten für ihre eigenen Gefühle haben. Für Jugendliche, die isoliert sind, ohne Zutrauen zu sich selbst und ihren Fähigkeiten. Für Frauen, denen zu lange gesagt wurde, was sie alles nicht können und dürfen. Vielleicht auch für Männer, die nach Wegen aus ihrem Hochleistungsdruck im Beruf suchen. Lebenswichtige Sätze für viele benachteiligte, arme oder kranke Menschen.

„Fürchte dich nicht!“ In der größeren Weihnachtsgeschichte wird dieser Empowerment-Satz zuerst dem hochbetagten Zacharias gesagt, einem Priester im Jerusalemer Tempel, der mit seiner Frau Elisabeth kinderlos geblieben war und dessen Leben nun auf das Ende zugeht.

„Fürchte dich nicht!“, sagt der Engel Gabriel dann zu Maria, als er ihr – der jugendlichen oder jungen Frau – ihre ungewollte Schwangerschaft ankündigt.

„Fürchte dich nicht!“, hört Josef, der sich fragt, ob er die Verantwortung für seine kleine Familie übernehmen kann, ob er das leisten kann.

„Fürchtet euch nicht!“, so hören es die Hirten, nachts draußen im Dunkeln, auf dem freien Feld.

Für sie alle war es wichtig, diesen Satz zu hören. Ansprache, Zuspruch und Stärkung. Sie alle wollte Gott durch seine Engel ansprechen. Jede und jeden Einzelnen in seiner Situation. In Momenten, an Orten oder zu Zeiten, da man wahrlich Angst haben kann! Wo man nicht sicher ist, was das eigene Leben wert ist oder was aus einem werden soll oder wie man das von einem Geforderte bewältigen kann …

In allen Jahrhunderten, in denen Menschen vor uns Weihnachten gefeiert haben, hörten sie diesen Satz: „Fürchtet euch nicht!“, der Zacharias, Maria, Josef und den Hirten ebenso galt wie ihnen. Und sie werden ihn je für sich und ihre Zeit gehört haben. Im Krieg anders als im Frieden, in Hungersnöten und Seuchen anders als an gedeckten Tischen. 1918 anders als 1945. Und auch wir: 2020 im ersten Corona-Jahr anders als heute.

Welche Botschaft wir wohl in diesem Jahr in dem Satz hören: „Fürchte dich nicht!“ Was Gott uns wohl damit ausrichten lässt?

Ob er damit unsere Angst vor den Bedrohungen durch Russland oder unsere Sorgen um die US-amerikanischen Politik ansprechen will? Oder unsere Angst vor dem Klimawandel, dem steigenden Meeresspiegel, den Dürren und Überschwemmungen? Oder unsere Sorge um Freiheit und Demokratie, unsere Angst vor Terror wie in Magdeburg? Oder unsere persönlichen Ängste vor Krankheit, vor dem Alter, vor Verarmung?

„Fürchtet euch nicht!“ – in allen realen Bedrohungen ist uns dieser Satz gesagt. Der Kern oder die Mitte der Weihnachtsbotschaft.

Nur, wie geht das, sich nicht zu fürchten? Was hilft, wie werden wir die Angst los?

Die Weihnachtsgeschichte erzählt eher nebenbei, wie Zacharias, Josef und die Hirten mit ihrer Angst umgegangen sind. Nur von Maria ist uns eine direkte Antwort auf Gottes Empowerment überliefert: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“ (Lk 1, 38) Ihre mutige Einwilligung in Gottes unerhörten Plan, durch sie als Mensch zur Welt zu kommen, der ihr Angst machte.

Von Josef heißt es, wie er innerlich von seinen Fluchtgedanken abrückt und den Auftrag annimmt, für den Gott ihn ausersehen hat. Zacharias verschlägt es zunächst die Sprache, doch auch er wird im hohen Alter Vater. Beide Männer übernehmen Verantwortung für eine Frau und ein Kind, obwohl sie dies nicht so geplant hatten. Beide Männer werden gebraucht und lassen sich von Gott für ihre Nächsten brauchen.

Von den Hirten wird erzählt, wie sie loslaufen und in Bewegung kommen. Wie sie ihre Furcht anscheinend abschütteln, indem sie etwas tun: zum Stall laufen, hineingehen, gucken, mit den anderen reden, staunen und beten, vielleicht helfen … Und wie sie dann umkehren und die gute Botschaft weitersagen, wie sie ihrerseits andere trösten und stärken.

„Fürchtet euch nicht!“ Das meint weder Leichtsinn noch Realitätsferne. Es heißt weder die Furcht zu leugnen noch sie zu überspringen, weder gefühllos zu erstarren noch nur die eigene Haut zu retten.

„Fürchtet euch nicht!“ In der Weihnachtsgeschichte heißt dies, die realen Verunsicherungen und Bedrohungen anzuerkennen, ohne ihnen auszuweichen. Mich wie Josef auf meine Lebensaufgaben zu besinnen und meinen Nächsten zur Seite zu stehen. Mich wie Maria meinem eigenen Lebensweg zu stellen, auch in seinen Tiefen. Mich wie Zacharias von Unvorhergesehenem verunsichern zu lassen und mitunter nicht zu verstehen, was Gott mit mir vorhat. Mich wie die Hirten in Bewegung und ins Handeln bringen zu lassen.

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2. Tim 1, 7),
heißt es in einem der neutestamentlichen Briefe.

Und so gebe Gott uns Kraft für die Aufgaben, vor die wir gestellt sind. In unseren Familien, unserem Umfeld und Beruf mit den Begabungen und Möglichkeiten, die wir haben. Auch innere Kraft, um nicht an den Bedrohungen unserer Zeit zu verzagen und aufzugeben, um nicht hysterisch oder gleichgültig und zynisch zu werden. Kraft für diese Zeit mit ihren globalen Krisen und für unser Leben darin.

Gott gebe uns Liebe, die wohl die Furcht am ehesten vertreiben kann. Liebe, die das Herz weit und leicht macht, die uns mit anderen Menschen verbindet, uns mitfreuen und mitleiden lässt, unabhängig von Herkunft und Hautfarbe. Liebe, die und mit Gottes Macht der Liebe verbindet und unser Leben umfängt.

Und Gott gebe uns Besonnenheit. Die Gelassenheit und Zuversicht, dass Gott bei uns ist, wie er bei Josef und Maria, Zacharias und den Hirten war. Auf der Suche nach Herberge, bei der Geburt im Stall, auf der Flucht nach Ägypten …

Kraft, Liebe und Besonnenheit, die es braucht, um uns unserer Verantwortung im Leben und für die Zukunft dieser Welt zu stellen. Darum fürchten wir uns nicht und nehmen beim Wort, was uns die Musik und die Engel an diesem Weihnachtsmorgen verkünden:

„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude.“ (Lk 1, 10) Amen.