Predigttext:
HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen.
Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen;
aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich,
und jedermann verlacht mich.
Denn sooft ich rede, muss ich schreien;
»Frevel und Gewalt!« muss ich rufen.
Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich.
Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken
und nicht mehr in seinem Namen predigen.
Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer,
verschlossen in meinen Gebeinen.
Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht.
Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!«
»Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!«
Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle:
»Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.«
Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, wie ein mächtiger Beschützer,
darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. (Jeremia 20, 7–11a)
Predigt:
Liebe Gemeinde,
Frau Schubert ist erschöpft. Wie eigentlich immer. Sie läuft die Stufen des Seniorenheims hinunter, wo sie gerade ihre Mutter besucht hat. In ihrem Kopf eine To-do-Liste: Sie muss den Arzt kontaktieren und ein neues Rezept besorgen, außerdem braucht ihre Mutter frische T-Shirts und mit der Heimleitung müssen die nächsten Physiotermine abgesprochen werden. Eigentlich wäre diese Woche ihre Schwester dran mit den Besorgungen für ihre Mutter. Aber sie ist gerade in einer heißen beruflichen Phase und schafft es nicht. Frau Schubert hat nicht Nein sagen können. Wie immer. „Ich kann diese Woche eigentlich nicht“ hat sie zu ihrer Schwester gesagt und an die eigenen Termine und die der Kinder gedacht. Aber mit „eigentlich“ hat man schon verloren. Sie weiß, ihre Schwester wäre einfach nicht gekommen. Und ihre Mutter braucht das Rezept und die Physio – und vor allem das Gespräch und dass jemand ihre Hand hält.
Wir alle landen in Situationen, in denen es uns schwerfällt, uns abzugrenzen. Oder wo wir auch einfach nicht Nein sagen können, weil es schlicht keine Wahl gibt. Das gehört zum Leben dazu. Das müssen schon kleine Kinder lernen. Z.B. wenn sie eine Jacke anziehen sollen, weil es draußen kalt ist. Sie können sich mit Händen und Füßen wehren und „Nein“ schreien, so laut sie wollen: Jacke im Winter muss sein. Oder Jugendliche, die umziehen müssen und ihre Peer-Group verlieren, weil es die Berufstätigkeit der Eltern erfordert. Hilft nichts, da muss man durch. Als Erwachsene ereilt uns das sprichwörtliche Hamsterrad, aus dem das Aussteigen nicht möglich scheint – und manchmal auch nicht ist.
Auch Jeremia wollte „eigentlich“ nicht, so haben wir es gerade in der Lesung gehört. Er wollte nicht das, was Gott von ihm wollte, und hat nicht Nein sagen können.
HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen.
Im Hebräischen steht da noch schärfer: „Du hast mich verführt“ oder sogar „mit Gewalt gepackt“. Das sind sehr harte Vorwürfe gegen Gott. Gegen Gott, der Jeremia dazu verdonnert hat, als Prophet den Menschen Gottes Meinung zu sagen. Jeremia leidet unter dieser Berufung. Er hat sich ein anderes Leben gewünscht. Er ist in der Nähe von Jerusalem aufgewachsen und stammt aus einer angesehen Priesterfamilie. Hätte er wählen können – vielleicht hätte er als Priester ein ruhiges und beschauliches Leben geführt. Aber er kam überhaupt nicht dazu, einen Beruf zu ergreifen. Er ist ergriffen worden. Von Gott. Und zwar mit aller Gewalt. Und nun musst er tun, was er nicht will: den Leuten Unheil ankündigen, sie damit vor den Kopf stoßen und sich die besten Freunde zu Feinden machen.
Noch dazu in so einer heiklen Situation. In Jerusalem tobten innenpolitische Machtkämpfe und außenpolitisch ist der kleine Staat Juda vom mächtigen babylonischen Reich bedroht. In dieser schweren Zeit wollen die Leute nicht auch noch von Jeremia die Leviten gelesen bekommen. Wenn Religion, dann bitte positive. Wenn schon einen Propheten, dann einen netten. Und wenn eine Predigt, dann eine optimistische und keine Moralpredigt. Das Volk fühlt sich von Jeremia angegriffen. Sie stecken da in der Katastrophe und kriegen auch noch den Vorwurf: „Ihr seid selbst dran schuld! Ihr missachtet Gottes Gebote! Verbrechen! Unterdrückung!“ Es wird noch schlimmer kommen. Der größte Feind des jüdischen Volkes, der babylonische Herrscher Nebukadnezar, ist – so behauptet Jeremia – Gottes Werkzeug und er wird Jerusalem zerstören.
Spätestens an diesem Punkt ist die Geduld der Bürger von Jerusalem mit diesem frommen Spinner Jeremia am Ende. Er wird gefangen genommen, der Tempelvorsteher lässt ihn schlagen und in den Block legen. Es nützt ihm nichts, dass er mit seinen Warnungen im Endeffekt recht behält. Nebukadnezzar erobert und zerstört ja tatsächlich Jerusalem. Aber niemand ist verhasster als der, der seinen Finger auf die Wunde legt. Davon weiß Jeremia ein Lied zu singen. Ein Klagelied. Und nicht bloß eins. Wir können seine Klagelieder heute noch in der Bibel nachlesen. Heute haben wir nur einen kleinen Ausschnitt davon gehört.
Selbst schuld, könnten wir sagen. Jeremia hätte ja bloß seinen Mund halten müssen. Nun, er hat es versucht:
Also dachte ich: „Ich will nicht mehr an Gott denken und nicht mehr in seinem Auftrag reden!“ Aber dann brennt dein Wort in meinem Inneren wie ein Feuer. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, um es zurückzuhalten – ich kann es nicht.
Jeremia brennt für Gott, für sein Wort, ob er will oder nicht. Als er wieder frei gelassen wird, macht er weiter. Sein ganz persönliches Hamsterrad. Und eine handfeste Krise in seinem Gottesverhältnis. In der Bibel gibt es viele Beispiele dafür, dass die Beziehung zu Gott in die Krise geraten kann. Und nicht nur in der Bibel. Auch heute. Vielleicht sieht diese Krise ähnlich aus wie damals. Dann wenn Menschen dafür angegriffen werden, dass sie sich in der Gemeinde engagieren: „Die Kirche ist doch total unglaubwürdig, spätestens seit den Missbrauchsfällen.“ heißt es dann. Oder wenn Menschen angefeindet werden für ihren Glauben: „Religion bringt doch nur Unfriede in die Welt, ohne wäre alles besser.“
Vielleicht sieht die Krise mit Gott heute aber auch ganz anders aus, als das, womit Jeremia sich abkämpfte. Nicht, dass Gott sich zu sehr in unser Leben einmischt, sondern dass wir ihn zu wenig spüren. Gibt es ihn überhaupt? Was bleibt noch übrig von Gott in unserem Alltag? Nicht zu viel Gottesnähe wie damals in Jerusalem, sondern zu viel Gottesferne heute hier bei uns?
Was machen, wenn wir mit Gott in der Krise stecken? Was macht Jeremia? Er sagt:
Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, wie ein mächtiger Beschützer.
Das kommt ein bisschen überraschend – eben noch so harsche Vorwürfe gegen Gott und jetzt plötzlich soviel Vertrauen? Das ist eine ziemliche Kehrtwendung vom Klagenden zum Lobenden. So schnell wie hier in den wenigen Sätzen geht das im echten Leben natürlich nicht. Aber es geht. Wie – dafür gibt der Name des Sonntags einen Hinweis: „Okuli“ – Augen heißt dieser Tag. Und im Evangelium geht es um die richtige Perspektive, darum, wo man hingucken soll und wo besser nicht. In Jeremias Fall: Besser nicht auf die, die über ihn lästern. Die schreien: »Wir wollen ihn verklagen!«, »Wir wollen uns an ihm rächen.“ Sondern: auf Gott. Auf den starken Helden, den mächtigen Beschützer. Und auf die, die Gott als solchen loben.
Denn das, was Jeremia da so vertrauensvoll von sich gibt, sind nicht seine eigenen Worte. Es sind Verse aus der Tradition – aus den Psalmen, vorgeformte Gebetssprache. Jeremia wusste sich also zu helfen, als er sich von Gott und der Welt so im Stich gelassen fühlte. Er hat sozusagen zum Gesangbuch gegriffen und darin gelesen. Er hat sich ermutigen lassen von dem, wie andere Gott erlebt haben. Als starken Helden, als mächtigen Beschützer. Das trägt ihn mit.
Dass das funktioniert, erlebe ich immer wieder: an mir und an anderen. In Zeiten, in denen ich mit Gott meine Krisen hatte, bin ich trotzdem in den Gottesdienst gegangen. Und auch wenn ich nicht vertrauensvoll selbst zu Gott beten konnte, so hat mich das Vater Unser der Gemeinde mitgetragen. Der Glaube von anderen nimmt mich mit hinein in die Beziehung zu Gott. Dann kann mein eigenes Vertrauen langsam wieder wachsen. „Gott ist ein starker Held, ein mächtiger Beschützer.“ Das haben Menschen vor Jeremia und lange vor uns am eigenen Leib erfahren. Sie haben Gott dafür gelobt und das aufgeschrieben. Jeremia machen diese Worte Mut, dass Gott ihn auch weiter beschützen wird, auch wenn seine Aufgabe als Propheten anstrengend und gefährlich ist.
Auch wir können uns gegenseitig Mut machen. Wir können uns Worte geben, wenn sie fehlen, uns gegenseitig beistehen, wenn wir uns von Gott und der Welt verlassen fühlen. Und wir können einfach das tun, was wir gerade tun: miteinander Gottes Wort hören, beten, singen und Abendmahl feiern.
Und was ist jetzt mit Frau Schubert? Und dem Nein- oder Eigentlich-sagen?
Auch das ist eine Frage, der Perrspektive, eine Frage, wie man draufguckt:
Eine Möglichkeit wäre, das Nein-Sagen zu üben. Der Schwester die Verantwortung zurückgeben auf die Gefahr hin, dass die Mutter eine Woche später das Rezept bekommt und die Physio und eine Woche lang niemand ihre Hand hält oder – wenn sie Glück hat – eine Pflegerin. Vielleicht wäre Frau Schubert sehr erleichtert, wenn sie das Nein schafft. Vielleicht würde sie sich aber auch große Sorgen machen.
Eine andere Möglichkeit für sie wäre, ins „Eigentlich“ zu hineinzugucken. In einem Eigentlich steckt immer ein kleines Ja. Woher kommt das? Und könnte man dieses Ja stärker und fröhlicher machen? Frau Schubert sagt nicht Nein, weil sie sich verpflichtet fühlt. Ihrer Mutter. Sie will, dass es ihr gut geht, dass sie hat, was sie braucht. Vielleicht blickt sie auf ihr „Eigentlich“ und sieht in die Vergangenheit, als ihre Mutter an ihrem Bett saß und die Hand hielt, weil sie abends Angst hatte, alleine einzuschlafen als Kind. Und die Mutter saß und hielt die Hand, obwohl sie „eigentlich“ noch so viel anders zu tun hatte. Vielleicht ist Frau Schubert genervt von dieser alten Verpflichtung. Vielleicht brennt in ihr die Liebe zwischen Mutter-und-Kind und sie kann die Verpflichtung besser bejaen.Es gibt immer mehr als nur eine Möglichkeit, auf eine Situation zu gucken.
Und so ist es auch mit unserer Gottesbeziehung: Wenn Gott uns ruft, dann fordert uns das, dann ist das nicht immer nur schön und angenehm. Dann kriegen wir auch mal die Krise. Dann spüren wir aber auch das Brennen in uns, dann brennen wir für Gott, dann erleben wir ihn als starken Beschützer. Das alles hat schon immer dazugehört zu einer Beziehung mit Gott. Ich hoffe, wir lassen uns „eigentlich“ gerne dazu überreden. Amen.