Guter Hoffnung
2. Sonntag nach Epiphanias, 19. Januar 2025
Predigttext: Römer 12, 9–16
Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. 10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. 11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. 12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. 13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. 14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und verflucht sie nicht. 15 Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. 16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. (Röm 12, 9-12)
Wann immer ich diesen Text aus dem Römerbrief mit anderen gelesen habe, gab es Widerstand.
„Seid fröhlich in Hoffnung!“ Darüber erregte sich zum Beispiel ein älterer Teilnehmer im Theologischen Gesprächskreis: Wie könnte man jemand befehlen, fröhlich zu sein! Das ginge doch gar nicht. „Seid beharrlich im Gebet!“ Das fand eine Frau auf der letzten Pilgerreise irritierend: Wer würde schon immerzu beten – sie jedenfalls nicht! „Segnet, die euch verfolgen!“ Das erscheint vielen nun wirklich überzogen und ein unmöglicher christlicher Anspruch.
Auch im Kirchengemeinderat, wo wir zu Beginn der Sitzung immer den Predigttext des kommenden Sonntags zusammen lesen, entstand zunächst der Eindruck, es mit einer Befehlsliste zu tun zu haben. Und dabei soll es doch eigentlich um Liebe gehen, um Herzlichkeit, Leidenschaft, Hoffnung, Gastfreundschaft und Freude. Lauter Dinge, die man doch gerne oder zumindest freiwillig tun sollte.
Wie kommt, wie kam der Apostel Paulus dazu, so einen Text zu schreiben? Warum schrieb er auf diese strenge, eindringliche Weise an die Gemeinde in Rom, die er noch nicht einmal persönlich kannte, die er – anders als die anderen Gemeinden, an die er Briefe schrieb – nicht selbst gegründet hatte, die er aber gerne besuchen wollte?
Darauf gibt es verschiedene Antworten: Zum Einen wollte Paulus im Römerbrief sich und sein Verständnis des neuen Glaubens ganz grundsätzlich, möglichst klar und deutlich darlegen – gerade weil er die Gemeinde dort noch nicht kannte. Er wollte sich vorstellen und empfehlen, sein Anliegen erklären und dafür werben – und er tut das eben nicht zaghaft oder einschmeichelnd, sondern selbstbewusst und überzeugt, vielleicht hartnäckig, stolz oder kämpferisch … Jedenfalls können wir durch den Text etwas von Paulus‘ Wesen und seinem Glauben spüren. Von seiner Geradlinigkeit und Klugheit, seiner Bereitschaft zur Auseinandersetzung, seiner Kraft und Leidenschaft, auch seiner Leidensbereitschaft.
Zum Anderen war für Paulus Rom wichtig, die Hauptstadt des Römischen Reiches. Die Gemeinde von Rom sah er als eine Art Vorposten für den westlichen Mittelmeerraum. Von Rom aus wollte er die Botschaft von Jesus Christus bis nach Spanien bringen.
Paulus will die Christinnen und Christen in der Hauptstadt motivieren und schulen, sie mit theologischer und ethischer Lehre ausrüsten, ihnen Mut machen, sie stark machen für die Auseinandersetzung mit ihrer nicht-christlichen Umwelt und für die Mission.
Dafür sind kürzere Sätze besser geeignet als lange. Dafür eignen sich gut Wiederholungen oder Variationen eines Gedankens. Dafür sind thematische Gliederungen in seinem Brief sinnvoll.
Und trotzdem befremdet der Text heute viele durch die Fülle seiner Aufforderungen, Ermahnungen und Anweisungen, die wie Befehle in unseren Ohren klingen können. So ein lauter Text! Je nach Übersetzung – zum Beispiel bei dem großen Theologen Karl Barth – stehen hier mehr als ein Dutzend Ausrufezeichen!
Erhellend, aufklärend für mich war – neben den inhaltlichen Gründen für Paulus‘ Schreibstil – ein Blick in den Duden. Wo man erfährt, dass es zur Zeit von Paulus noch gar keine Ausrufezeichen gab. Dass Paulus also, wie in der Antike üblich, ohne Punkt und Komma schrieb, ja sogar ohne Leerzeichen. Einfach ein Buchstabe neben dem anderen …
Gar nicht so leicht, einen Text ohne Punkt und Komma, ohne Leerzeichen oder irgendein Pausenzeichen zu lesen! Für die Mönche im frühen Mittelalter, die Bücher per Hand abschreiben sollten, eine Herausforderung! Zum Glück erfanden sie die verzierten Initialen, Kleinbuchstaben und das Leerzeichen. Und dann kamen im Laufe der Zeit auch Punkte, Kommata und andere Satzzeichen dazu. Das Ausrufezeichen als offizielles Satzzeichen erst am Ende des 18. Jahrhunderts.
Solche Buchstabenketten ohne Zwischenzeichen sparten Platz und Papier, aber sie machten das Vorlesen nicht gerade leicht.
Ich habe den Predigttext heute einmal so, als Buchstabenkette, mitgebracht, auf Deutsch natürlich, aber ohne Satzzeichen, wie zu Paulus‘ Zeit üblich. (Der Text wird verteilt.)
DIELIEBESEIOHNEFALSCHHASSTDASBOESEHAENGTDEMGUTENANDIEBRUEDERLICHELIEBEUNTEREINANDER … (Luther-Übersetzung 2017)
Ohne Satzzeichen, liebe Gemeinde, ohne all die Punkte und Ausrufezeichen liest sich der Text anders. Vor allem langsamer. Es macht Mühe zu erkennen, wo ein Wort aufhört und ein anderes anfängt. Fehlleistungen können passieren wie „Schhasst das Böse“ oder am Ende der ersten Zeile „dem guten Andie“ oder weiter unten „Heilige nanu“ … So ähnlich wie die Wortspiele, die manche vielleicht kennen, wo man Worte anders betont als üblich: die „Blumento-Pferde“, die „Tee-Nager“ oder der „Bär-Tiger“ …
Das Schriftbild erinnert auch ein bisschen an die quadratischen Rätsel, wo man in alle Richtungen die Buchstaben umkringelt, die irgendein Wort ergeben. Ein Rätsel- oder Puzzlespiel, das die eigene Kreativität anregt.
Auf jeden Fall liest sich der Predigttext so, als Buchstabenkette, viel langsamer: „Die Liebe sei ohne Falsch hasst das Böse …“ Die Zuordnung wird unklarer, wie mitunter auch im griechischen Text: Hasst die Liebe das Böse, hängt sie dem Guten an – oder wir?
Welche Worte passen zusammen, welche Buchstaben ergeben Sinn? Welche Worte fallen euch sofort ins Auge? An welchen Worten oder Satzteilen halten sich unsere Augen fest, wohin kehren sie immer wieder zurück? Zu „Geist“ oder „Gastfreundschaft“ oder „verflucht sie nicht“ …?
Vielleicht hilft die Verlangsamung, die Irritation, das Rätseln, uns auf den Text einzulassen. Vor den Ausrufezeichen nicht Augen und Ohren zu verschließen, sondern einzelne Worte herauszuheben, die für uns erkennbar und verständlich sind. Die wir in dem Wirrwarr der Buchstaben festhalten wollen.
Festhalten vielleicht im oder gegen das Wirrwarr der Stimmen in uns, die uns in den Stimmen unserer Mütter, unserer Chefs, unserer Ärzte oder Beraterinnen sagen, was wir tun und lassen sollen. Im Wirrwarr auch unserer eigenen Stimmen, Stimmungen und Wünsche, wenn wir mal auf das Eine, mal auf das Andere setzen, wenn wir viel wollen und wenig verändern, viel erwarten und wenig hoffen …
Einzelne Worte auch gegen das erschlagende Wirrwarr der Nachrichten festhalten: Gegen die öffentliche Angstmache Worte in uns zu buchstabieren wie „sei herzlich“ oder „freut euch“. Gegen die Hetze, gegen Fremden- und Queerfeindlichkeit Worte wie „Ehrerbietung“, „übt Gastfreundschaft“ oder „haltet euch zu den Niedrigen“ in uns zu buchstabieren.
Ich glaube, dieses Schriftbild des Predigttextes, die Buchstabenkette, kann ein anschauliches Beispiel dafür sein, wie es uns mit unserem Glauben oder der christlichen Botschaft, mit den Verheißungen und Werten unserer Tradition überhaupt gehen kann: Dass wir sie immer wieder neu zusammensetzen und zur Sprache bringen müssen.
Für uns selbst, für meine Situation die Frage: Geht es für mich jetzt um „Liebe“ – und wie sie als Paar, in der Familie oder im Freundeskreis zu leben ist? Oder geht es gerade um „Trübsal“ – wie ich sie aushalten und wie ich sie überwinden kann? Oder geht es um „die Weinenden“, also um andere – um meine Kinder oder meine Eltern, um Patientinnen, Klienten oder Nachbarn?
Und auch in unseren wechselnden gesellschaftlichen und politischen Zeiten bekommen die Worte einen je anderen Klang. Wirken sie mehr oder weniger selbstverständlich oder anstößig, irritierend oder ermutigend.
Vielleicht, denke ich, war der Apostel Paulus bei aller Gründlichkeit und Strenge auch ein guter Menschenkenner, Seelsorger und Hirte. Der uns mit Stoff zum Lesen, Hören und Denken versorgt, der uns Worte schenkt zum Buchstabieren, Festhalten und Orientieren. Der uns in ganz unterschiedlichen Situationen anspricht und abholt.
Der uns holen will in die Gemeinschaft von Christinnen und Christen damals im Mittelmeerraum und heute in der ganzen Welt. Dass wir erkennbar sein mögen an unseren Worten und Taten, an unserer Liebe, unserer Hoffnung und Demut. Dass wir bei aller sozialen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt erkennbar seien als eine geschwisterliche und gastfreundliche Gemeinschaft. Und dass wir in all dem bei Jesus Christus bleiben, unserem Bruder, unserem Herrn und Freund.
Dein Taufspruch, lieber Dennis, den du dir aus dem Hirtenpsalm 23 ausgesucht hast, beschreibt diese Gemeinschaft und diese Hoffnung so:
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar. (Ps 23, 6)
Dazu helfe uns Gott und verleihe uns Geduld und Neugier, seine Botschaften für uns zu entschlüsseln und zu leben! Amen.