Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Herr, nun lässtest du deinen Diener in Frieden fahren

Herr, nun lässtest du deinen Diener in Frieden fahren

Predigt im Kantaten-Gottesdienst am Sonntag nach dem Christfest
Pastorin

Andrea Busse

Gottesdienst am 29. dezember

Predigt zu Lukas 2, 25–40

Bibeltext:

Und siehe, ein Mensch war in Jerusalem mit Namen Simeon; und dieser Mensch war gerecht und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war auf ihm. Und ihm war vom Heiligen Geist geweissagt worden, er sollte den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. Und er kam vom Geist geführt in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel. Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich über das, was von ihm gesagt wurde. Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, dieser ist dazu bestimmt, dass viele in Israel fallen und viele aufstehen, und ist bestimmt zu einem Zeichen, dem widersprochen wird – und auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen –, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden.

Und es war eine Prophetin, Hanna, eine Tochter Phanuëls, aus dem Stamm Asser. Sie war hochbetagt. Nach ihrer Jungfrauschaft hatte sie sieben Jahre mit ihrem Mann gelebt und war nun eine Witwe von vierundachtzig Jahren; die wich nicht vom Tempel und diente Gott mit Fasten und Beten Tag und Nacht. Die trat auch hinzu zu derselben Stunde und pries Gott und redete von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten. Und als sie alles vollendet hatten nach dem Gesetz des Herrn, kehrten sie wieder zurück nach Galiläa in ihre Stadt Nazareth. Das Kind aber wuchs und wurde stark, voller Weisheit, und Gottes Gnade lag auf ihm. ( Lukas 2,25–40)

 

Predigt:

Gnade sei mit euch und Friede. Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und ein Wort für unser Herz. Er segne unser Reden uns hören. Amen.

„Ich hatte ein 3-tägiges Seniorentreffen bei mir zu Hause“ – so erzählt mir meine Bekannte Sabine augenzwinkernd, als ich sie nach ihren Weih­nachtstagen frage. Sie hatte ihre Eltern zu Besuch, beide über 80, auch die Schwiegereltern, diese nur geringfügig jünger. Die hatten noch die fast 90-jährige Tante mitge­bracht, weil sie sonst hätte alleine feiern müssen und den betagten Nachbarn hatte man zumindest für den 1. Weih­nachts­tag zum Mittag­essen ebenfalls eingeladen. So also die Besetzung bei ihr und ihrem Mann während der Weihnachts­tage.

„Und wie war’s?“ frage ich. „Sehr spannend!“ sagt Sabine nach­drücklich. Sie erzählt, wie ihre Mutter unter der eigenen Ver­gess­lichkeit leidet und ihr Schwiegervater darunter, dass er nicht mehr auf die Leiter steigen und den lockeren Lampen­schirm befestigten kann. Wie die Tante gar nicht merkt, dass sie jede Geschichte 5x erzählt, ihre Schwie­ger­mutter darüber ungehal­ten wird, während der Nachbar das ganz gelassen und geduldig nimmt. Sie berichtet davon, wie unterschiedlich alle damit um­gehen, dass sie bei der ein oder anderen Sache hilfs­be­dürftiger werden. Besonders spannend aber fand meine Be­kannte, als ihr „Seniorenkreis“ anfing ihre jeweiligen „Bucket­list“ zu dis­kutieren. Natürlich haben sie das nicht so genannt. Das Wort kommt von der englischen Redewendung „to kick the bucket“, was man wohl im Deutschen am besten mit „den Löffel ab­geben“ übersetzen kann. Die Buckektlist oder Löffelliste ist also das, was man noch tun will, bevor man stirbt. Ich kannte das bisher nur aus Gesprächen mit relativ jungen Menschen, die eine schwere Diagnose erhalten hatten und deswegen darüber nachdachten, was sie im Leben noch tun wollen.

Was will man im Leben erreichen? Ganz klassisch: „Ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, ein Kind zeugen“? Oder „einen Fallschirmsprung machen, auf einem Elephanten reiten, einmal die Pyra­miden in Mexiko sehen?“ Was brauche ich, um in Frieden sterben zu können? Sabine hat berichtet, wie persönlich das Gespräch bei ihren „Alten“ wurde: Die eine gab zu, dass sie so gerne einmal ganz alleine verreisen würde, nur für sich selbst dasein dürfen. (Ihr Mann guckte an der Stelle etwas irritiert). Für die andere steht ein ungelöster Konflikt im Raum, sie möchte sich noch mit jeman­dem versöhnen. Der Schwieger­vater, ein sehr zurück­haltender Mensch, würde gerne lernen, anderen deutlich seine Meinung ins Gesicht zu sagen. Er findet, er hat zu viel herunter­ge­schluckt in seinem Leben. Der Nachbar sehnt sich danach seine Enkelin zu sehen, die Tante noch einmal das Weihnachts­oratorium live zu erleben.

Als Sabine so von ihrem „Seniorentreffen“ erzählt, habe ich daran gedacht, dass wir hier heute morgen auch zwei Alten begegnen. Vielleicht haben Simeon und Hannah auch Hilfe gebraucht, um in den Tempel zu kommen. Rollatoren gab es damals noch nicht. Vielleicht musste die Nachbarin Hannah jeden Tag zum Gotteshaus bringen und war genervt davon: „Kann die Alte nicht zuhause bleiben, wenn die Beine nicht mehr wollen?“ Vielleicht haben Simeons Enkel schon die Augen ver­dreht, wenn der Alte zum 100. Mal davon anfing, dass seine Augen noch den Heiland sehen werden, bevor er stirbt. „Nicht schon wieder Opa! Such dir etwas Realistischeres für deine Bucketliste aus!“

Im neuen Testamten gib es wenige Geschichten, in denen explizit alte Menschen vorkommen, und diese Erzählung von Simeon und Hannah, die im Tempel das Jesuskind finden, ist eine der berührendsten, wie ich finde.

Ich sehe Simeon vor meinem inneren Auge, so wie er auf zahl­reichen Gemälden abgebildet ist: mit dem Baby Jesus auf dem Arm und einem seligen Lächeln auf dem Gesicht. Er scheint mehr zu sehen als ich, die Betrachterin. Er wirft einen Blick in die Zukunft, die nicht mehr seine sein wird – aber immerhin Zukunft. Und Simeon erkennt Gottes Zukunft. Gottes Zukunft für sich und für die Welt.
Da ist ein alter Mann, der wartet. Auf den Tod wartet, denkt man natürlich, aber er wartet auf das Leben. Ein alter Mann wartet darauf, dass das Entscheidende noch passiert. Er findet sich nicht damit ab, dass das Entscheidende hinter ihm liegt: seine Kindheit und Jugend, die Entfaltung seiner Kräfte, Familie und Beruf, schwer tragen und leicht lernen können. All das liegt hinter ihm. Er findet sich nicht ab – da kommt noch was. Er wartet auf das Beste, auf Gottes Überraschung – und wird erhört. Und dann verwandelt sich das Warten und seine Sehnsucht in tiefen Frieden, der selbst dem Tod den Schrecken nimmt.

„Nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren.“

Nun kann all das Unerfüllte in seinem Leben heil werden. Er ist sich sicher: Die Fragen werden beantwortet und Zweifel in Ver­trauen gewandelt. Jetzt kann er im Frieden sterben. Das ist es, was dieser Jesus bewirkt: Frieden mit sich, mit Gott, mit der Welt.
Nur einfach ist das nicht: Simeon weiß das auch. Was er den verwunderten Eltern sagt – vom Fallen und Aufstehen, vom Widerspruch und vom Schwert – das wirft einen Blick voraus auf das Leben des Kindes, auf sein Leiden, auch auf das Leiden der Mutter am Leiden der Sohnes. Mater dolorosa.

Und dann tritt Hanna auf. In kurzen Sätzen wird ihr Leben erzählt: Jung verheiratet, jung verwitwet, inzwischen alt geworden. Sie fastet, sie betet. Der Tempel ist ihr Zuhause. Prophetin wird sie genannt – übrigens als einzige Frau im Neuen Testament.
Wörtliche Rede ist nicht von ihr überliefert, aber dass sie spricht: zu allen, öffentlich. Von der Erlösung, der Rettung, die in diesem Jesus liegt. Was bei Simeon eine intime Situation ist – alter Mann mit Kind auf dem Arm, der seinen Frieden findet – hat hier einen öffentlichen Rahmen. Die Prophetin verkündet, was dieses Kind für alle bedeutet. Eine erstaunliche Umkehrung der üblichen Geschlechterrollen übrigens: Der Mann, der für das Private, Persönliche steht, die Frau für den öffentlichen Auftritt. Das Kind stellt schon hier die übliche Welt auf den Kopf.

Und es braucht beide – Simeon und Hanna, denn wenn der Heiland kommt, dann ist das nicht nur eine private, persönliche Angelegenheit, sondern auch eine öffentliche, das wirkt in diese Welt hinein.

Und besonders gut wirkt ja bekanntlich Gesang, wir haben es gerade erleben dürfen. „Die beiden singenden Alten“ hat jemand mal Simeon und Hanna genannt. Dabei singen sie gar nicht, zumindest steht davon nichts in der Bibel, aber Simeons Worte sind so oft gesungen worden, dass ich sie in meinem Kopf auch als Melodie höre: „Nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren“ – das klingt durch die Jahrhunderte. Weiter­getragen von den Orden als Teil des täglichen Nachgebetes „Nunc dimittis“. Von Martin Luther übersetzt in seinen Choral „Mit Fried und Freud fahr ich dahin“, vertont von Schütz, Bach, Mendelssohn-Bartoldy und eben auch Buxtehude. Dieser Gesang erzählt von der Kraft des Alters, vom geduldigen Warten, von der Flexibiliät, Erwartungen über den Haufen zu werfen, von der Erfahrung des Neuwerdens, von erfüllter Hoffnung und tiefem Frieden.

Das ist es, was ja eigentlich Sinn und Ziel einer jeden Bucketlist ist: Dahinzukommen, dass man in Frieden sterben kann, in Frieden mit sich, mit anderen und mit Gott. Im Wissen, nichts Wesentliches verpasst zu haben. Und was das Wesentliche ist, dafür können uns Simeon und Hannah mit ihrer ganzen Lebens­weisheit und Gottesfurcht die Augen öffnen. Sie haben einen Blick für das oder besser den, der uns heilen und Frieden schenken kann. Vermutlich haben auch sie sich den Heiland als erwachsenen Mann vorgestellt, vielleicht als klugen Prediger, vielleicht als weisen Herrscher, sicher nicht als Baby. Aber sie erkennen ihn. Sie sehen mehr als die anderen, die da so im Tempel unterwegs sind. Mehr als die Priester und Schrift­gelehrten, mehr als die Menschen, die dort beten und opfern. Vielleicht wird der Blick im Alter für die wesent­lichen Dinge schärfer, auch wenn die Augen schwächer werden. Am Ende des Lebens, am Ende des Jahres, am Ende des Tages kommen wir an die Grenzen dessen, was wir schaffen können. Und dann geht der Blick zu Gott – zu seiner Gnade, zu seinem Wirken, zu seinem Heil.

Auch wir warten vermutlich wie die beiden Alten, dass sich noch etwas erfüllt – in unserer Welt, in unserem Leben. Wir haben die Ver­heißung, dass da noch etwas aussteht, noch etwas kommt. Wir tragen die Sehnsucht in uns und haben das Ver­sprechen, dass wir Frieden finden können und heil werden. An Weihnachten ist das Heil in diese Welt gekommen, Simeon und Hanna sind mit ihm auf Tuchfühlung gegangen.

Und auch in unseren Tagen gibt es die Simeons und Hannas, die uns die Augen öffnen können für das Heil und den Heiland. Sabine hat das bei ihrem Seniorentreffen erfahren. Ihre „Alten“ haben sie dazu gebracht darüber nachzudenken, was sie selbst vom Leben erwartet, auch wenn sie – hoffentlich – noch viele Jahre vor sich hat.

Und ich habe neulich einen Brief bekommen von einem, der von sich schreibt, er sei ein „mühseliger Alter, arm an körper­licher Kraft und müde im Geiste, der sich am Rollator durch die Wohnung schleppt, der von Jahr zu Jahr mehr auf Hilfe angewiesen ist.“ Und er erzählt davon, dass er das Wesentliche immer mit sich trägt: Ein Bild seiner Frau in einem Feld voller Sonnen­blumen und einen Vers vom Bildhauer, Maler und Dichter Michelangelo Buonarotti:

„O Herr, wenn ich nur noch ein Schatten dessen bin, der ich einmal war,
und den anderen zur Last falle, dann hilf mir geduldig zu sein.
Zeig mir dein Antlitz, je mehr mir alles Andere entschwindet.
Lass mich den Atem der Ewigkeit spüren, wenn mir aufhört die Zeit.“

Wenn uns aufhört die Zeit, mögen wir in Frieden gehen können, weil wir jetzt das Wesentlich im Leben nicht verpassen. Den nämlich, den schon Simeon und Hanna lobten. Mögen wir einstimmen können in dieses Lob: Lobe den Herrn meine Seele! Amen.

Buxtehude-Kantate: Lobe den Herrn, meine Seele.