In dulci jubilo
Gottesdienst am 24. Dezember
Aus Matthäus 1:
Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe sie zusammenkamen, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist. Josef aber, ihr Mann, der fromm und gerecht war und sie nicht in Schande bringen wollte, gedachte, sie heimlich zu verlassen. Als er noch so dachte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden. Das ist aber alles geschehen, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: »Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben«, das heißt übersetzt: Gott mit uns. Als nun Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. Und er erkannte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar; und er gab ihm den Namen Jesus.
Predigt:
Eia, wären wir da! So der letzte sehnsuchtsvolle Satz, den der Chor uns gesungen hat. Eia, wären wir da, ubi sunt gaudia, dort, wo die Freuden sind. Dort, wo die Engel ein neues Lied singen. Wie schön, dass wir heute an Heiligabend diesen engelähnlichen Gesang genießen dürfen. Weihnachten ist eine Zeit des Singens und Musizierens. Überhaupt eine Zeit für die Sinne und das Gemüt.
Unsere biblische Weihnachtsgeschichte kommt heute Abend dagegen fast ein bisschen nüchtern daher. Matthäus schreibt: Die Geburt Jesu geschah so – Doppelpunkt. Und vielleicht haben Sie wie ich, bei dem, was dann berichtet wird, den Stall und die Krippe vermisst, die Hirten auf dem Feld und den himmlischen Chor der Engel. Stattdessen ziemlich irdische Sorgen eines Mannes, der sich betrogen glaubt, weil seine Frau „einfach so“ schwanger wurde.
Was genau beschreibt Matthäus? Ein Kind wird geboren unter biologisch fragwürdigen Umständen. Es wird Jesus genannt, weil das Retter heißt, und uns dieses Kind von Sünden retten soll. Was da geschieht, nennt man theologisch Inkarnation: Fleischwerdung. Gott wird Mensch, um uns nahe zu kommen.
Bloß: eine solche Definition von Weihnachten im Wikipedia-Artikel-Stil bringt uns Gott ja nicht wirklich nahe. Das berührt nicht unser Herz. Und wir sind ja nicht hier um Weihnachten zu verstehen, sondern um es zu feiern, um das Wunder dieser Nacht zu erleben oder zumindest zu ahnen. Weihnachten braucht eigentlich keine schlauen Erklärungen, sondern Bilder und Gesang und Poesie.
Vom Wunder der Poesie erzählt die Geschichte eines blinden Bettlers, der einmal auf der Brooklyn-Bridge in New York stand. „Eines Tages fragt ihn jemand, wieviel ihm die Passanten am Tag durchschnittlich gäben. Der Unglückliche antwortete, dass die Summe nur selten zwei Dollar betrage. Der Unbekannte nahm das Schild, das der Bettler auf der Brust trug und auf dem sein Gebrechen zu lesen stand, drehe es um und schrieb einige Worte auf die Rückseite. Dann gab er es dem Bettler zurück und sagte: ‚Ich habe auf Ihr Schild einen Satz geschrieben, der Ihre Einnahmen merklich erhöhen wird. In einem Monat komme ich wieder, und Sie werden mir sagen, wie das Ergebnis ausgefallen ist.
Und nach dem Verlauf des Monats: ‚Sir’, sagte der Bettler, „wie soll ich Ihnen danken? Ich nehme jetzt rund zehn, manchmal bis zu fünfzehn Dollar am Tag ein. Es ist das reinste Wunder. Wie lautet denn der Satz, den Sie auf mein Schild geschrieben haben und der mir so viel Almosen einbringt?‘ – ‚Ganz einfach‘, erwiderte der Mann. ‚Auf Ihrem Schild stand Blind von Geburt; ich habe statt dessen geschrieben Der Frühling wird kommen, und ich werde ihn nicht sehen.‘“1
Dieser Satz lässt bei den Passanten innere Bilder entstehen, weckt Gefühle, ändert ihr Handeln. So ist es auch mit den Sätzen der Weihnachtsgeschichte, selbst beim etwas nüchternen Matthäus. Was vom Heiligabend erzählt wird, ist kein sachlicher Bericht, es ist eher – Poesie, ein Gedicht. Es sind Bilder vom Sternenhimmel, da die Engel singen nova cantica. Und wir werden hineingenommen und fühlen mit dem überforderten Josef, haben Mitleid mit Maria auf dem Esel, staunen mit den Hirten und das Kind in der Krippe rührt unser Herz. Weihnachten – das sind Worte, die seit damals viele Menschen dazu inspiriert haben, das Wunder in neue Worte und Bilder und Klänge zur kleiden. „Jauchzet frohlocket“ z.B. oder eben auch In dulci jubilo.
Das ist übrigens auch schon ein ziemlich altes Gedicht, schon älter als Buxtehude. Es ist ein Kirchenlied aus dem 14. Jh., das Heinrich Seuse zugeschrieben wird. Er war ein deutscher Mystiker und Mönch – und er träumte wie Josef damals. Auch er machte sich viele Sorgen und war überzeugt, wer Christus nachfolgen will, muss leiden wie dieser. In seiner Autobiographie hat er ziemlich unappetittliche Selbstgeißelungen beschrieben. Um Gott nahe zu sein, quälte er sich täglich. Bis er eines Tages eine traumähnliche Vision hatte: Jünglinghafte Gestalten stiegen vom Himmel zu ihm herab und begannen mit ihm zu tanzen. Schwebend leicht war dieser Tanz und unser Mönch von einer tiefen Freude durchdrungen und für immer geheilt von der irrigen Vorstellung, Gott nur im Leid nahe sein zu können. Mit der himmlischen Melodie aus seinem Traum im Ohr schrieb Seuse:
In dulci jubilo
Nun singet und seid froh
Unseres Herzens Wonne liegt in praesepio.
Liegt also in der Krippe. Seuse hat tatsächlich dieses Kauderwelsch aus Deutsch und Latein geschrieben. Ein bisschen so, wie Jugendliche heute oft denglisch sprechen. Man nennt das Makkaroni-Dichtung oder Nudelverse, und die Sprachmischung war im Mittelalter gar nicht so unüblich. Sie wurde als Stilmittel benutzt von – heute würde man sagen von Comedians. Also dann, wenn man einen komischen Effekt erzielen wollte. Das Lied erzählt also nicht nur vom Jubel, von der Freude, von der Wonne, sondern es will auch mit seinem latein-deutschen-Mischmasch weihnachtliche Heiterkeit widerspiegeln.
Und vielleicht sogar noch ein bisschen mehr: Latein war ja damals die Sprache der Gelehrten und auch die offizielle Kirchensprache. Das hatte den Vorteil: Man konnte überall in den Gottesdienst gehen und ihn verstehen. Oder man verstand nirgends was, wenn man eben nicht gelehrt war und des Latein nicht mächtig. Deutsch war also die Sprache fürs einfache Volk, Lateinisch für die intellektuelle Elite. Diese Trennung schmeißt Seuse einfach über den Haufen. Indem er die Sprachen verbindet, verbindet er Volkstümliches mit Abgehobenem, Gewöhnliches mit Gelehrtem, Kindliches mit Erwachsenem. Alles Trennende wird munter ignoriert und die frohe Botschaft für alle verkündet.2
Und bei der frohen Botschaft schwingt das Staunen mit: Viel „O“ ist zu hören in Seuses Jubellied: O Kleiner Jesus, o Prinz der Herrlichkeit, o Vaters Liebe, o Sanftmut. Er staunt über dieses Kind. Denn ohne dieses Kind, so die dritte Strophe, wären wir alle verloren. Das knüpft an an das, was Matthäus erzählt: Dass der Name des Neugeborenen „Jesus“, auf Deutsch Retter lauten soll.
Wovon rettet er uns denn? Wovon müssen wir überhaupt gerettet werden? Per nostra crimina – textet Seuse – von unseren Verbrechen. Das klingt nach Mittelalter, nach erhobenem moralischem Zeigefinger. Heute würden wir vielleicht sagen: Er muss uns vor uns selbst retten.
Wir sind ja oft selbst unsere strengsten Richter, wir können uns schwer verzeihen, wenn wir versagen, wenn wir scheitern, wenn wir unseren Ansprüchen nicht gerecht werden. Wie ist es an diesem Heiligabend: Sind wir zufrieden mit uns, mit dem Jahr, was zurück liegt. Mit dem, wie wir für Weihnachten geplant haben und heute erleben? Können wir uns so richtig ausgelassen freuen?
Manchmal habe ich den Eindruck, heutzutage muss man uns vor unserem Trübsinn retten, vor den Sorgen, die wir uns, sicher berechtigterweise, um die Zukunft machen. Wo ist die Freude geblieben, der Jubel über dieses Fest?
Die Kinder freuen sich natürlich und wir freuen uns an der Freude der Kinder oder Enkelkinder, wenn wir welche haben. Oder wir erinnern uns an die eigene Freude und Aufregung, die wir als Kind verspürt haben. Aber meistens geht dieser unbefangene Jubel beim Erwachsenenwerden allmählich verloren. Obwohl das stimmt nicht so ganz allgemein: In manchen Kulturen wird Weihnachten ja von allen laut und lustig gefeiert. Das liegt uns offensichtlich nicht so im Gemüt. Bei uns ist Weihnachten eher besinnlich, festlich, feierlich. Sowohl Seuse, als auch Buxtehude stammen aus unseren Breitengraden, vielleicht spürt man deswegen in diesem Weihnachtslied auch die Sehnsucht nach der Fröhlichkeit und Leichtigkeit durch: „Tröst‘ mir mein Gemüte!“ heißt es und „Zieh mich hin zu dir!“
Ja natürlich bringen wir auch an Weihnachten all das mit, was uns belastet – im Bezug auf das eigene Leben und auf die weltpolitische Lage. Und die irdischen Probleme sind in der Weihnachtsgeschichte ja durchaus im Blick, wenn Gott sein Kind in Armut zur Welt kommen und vor der Gewalt eines grausamen Herrschers fliehen lässt.
Aber so wie Seuse in seinem Lied Deutsch und Latein verknotet, so werden all diese erdenschweren Angelegenheiten verwoben mit Coelorum gaudia, mit den himmlischen Freuden. An Weihnachten berührt sich beides, berühren sich Himmel und Erde, sie kommen zusammen in diesem Kind.
Ein großes O, ein großes Staunen gab es schon immer darüber, dass Gott ausgerechnet als hilfloses Kind zur Welt kommt. Wie soll ein Kind mit den schwerwiegenenden Problemen dieser Welt zurechtkommen, wie soll es die Welt retten? Nur mit unserer Hilfe, lautet die Antwort. Gott als Kind – das heißt Gott braucht uns, er regelt nicht die Dinge für uns und entlässt uns nicht aus der Verantwortung. Wir müssen dieses Kind aufnehmen, ihm einen Platz geben, damit es groß werden und die Welt verändern kann.
Uns verändert es schon jetzt. Denn wer ein Kind in den Arm nimmt, der verändert sich. Das kann man schon am Gesichtsausdruck ablesen. Wer ein Kind in den Armen hält, dessen Gesichtszüge werden weicher. Und was kann die Welt besser retten, als Menschen, die weicher werden, sanftmütiger. Ein Kind mobilisiert auch ungeahnte Kräfte in uns. Jeder und jede, die ein Kind großgezogen hat, weiß das. Und ein Kind kann auch am besten das hervorlocken, was „In dulci jubilo“ besingt: die Freude. Es ist das Natürlichste der Welt, wenn Kinder geboren werden, es geschieht täglich hundertausendfach. Und es ist das einzig Alltägliche, das Menschen trotzdem immer wieder zum Staunen bringt. Wie schlau von Gott, in einem Kind auf die Welt zu kommen und uns so das Lächeln und die Leichtigkeit zu schenken, mitten in dem, was schwer und dunkel ist.
Insofern ist es vielleicht kein Wunder, dass gerade ein Kabarettist eine der schönsten modernen Weihnachtsgeschichten geschrieben hat. Der Schweizer Franz Hohler nämlich erzählt:
„Letzthin, im Zug, direkt neben dir, das elend-fröhliche Digitalpiepsen eines Handys, und du weißt, jetzt wirst du die Seite nicht in Ruhe zu Ende lesen können, die wirst mithören müssen, wo die Unterlagen im Büro gesucht werden sollten oder warum die Sitzung auf nächste Woche verschoben ist oder in welchem Restaurant man sich um 19 Uhr trifft, kurz, du bist auf die unüberhörbaren Schrecknisse des Alltags gefasst – und da kramt der junge Mann sein Apparrätchen aus der Tasche, meldet sich und sagt dann laut: „Nein! – Wann? – Gestern Nacht? Und was ist es? – Ein Bub! So herzig! 3 ½ Kilo? – Und wie geht es Jeanette? – So schön! Sag ihr einen Gruß, gell? – Wie? Oliver? …“Und über uns alle, die wir in der Nähe sitzen und durch das Gespräch abgelenkt und gestört werden, huscht ein Schimmer von Rührung, denn soeben haben wir die uralte Botschaft vernommen, dass uns ein Kind geboren wurden.“3 Amen.
1Roger Caillois, Ars poetica, München 1968, 15
2Anregungen unter https://www.martini-luther.de/Resources/Public/user_upload/Lesestoff/P-07-0-18-1C-EG35_In_dulci.pdf
3Franz Hohler, Die Verkündigung