Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Joy To The World

Joy To The World

Predigt am 2. Advent
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

2. Advent, 8. Dezember 2024

Predigt zu Jesaja 35, 3–10

Predigttext: Jesaja 35, 3–10

Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! 4 Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.« 5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. 6 Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. 7 Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen. 8 Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. 9 Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen. 10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!

Seit Langem schon benutzt ein Kollege von mir diese Worte beim Segen am Ende des Gottesdienstes:

Stärkt die müden Hände
und macht fest die wankenden Knie! (Jes 35, 3)

Sonntag für Sonntag schickt er damit seine Gemeinde, die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher in die neue Woche, auf den Weg, der vor ihnen liegt, auf den Hoffnungsweg.

Das ist das Bild, die Vision oder der Traum, den der Prophet Jesaja schaut und von dem wir im heutigen Predigttext hören: ein Hoffnungsweg, auf dem sich Gott und seine Menschen gegenseitig entgegenkommen. – So wie wir uns das vielleicht im Advent vorstellen: dass wir uns innerlich auf den Weg zur Krippe machen, wo Gott zur Welt und zu uns kommt.

Die Ausgangslage, der Ist-Zustand der Welt, von dem aus der Prophet seine Vision des Hoffnungsweges schaut, ist apokalyptisch. Jesaja beschreibt Vernichtungsszenarien, wie sein Volk sie erlebt hat und in Albträumen wieder und wieder durchlebt, voller Gewalt, Blut, Rauch und Gestank. Die Erde verwüstet, unbewohnbar und unfruchtbar.

Schwer erträglich, kaum auszuhalten sind die Bilder, die Jesaja schaut, die in dem Kapitel beschrieben sind, das vor unserem Predigttext heute steht und seiner großen Zukunftsvision vorangeht. Schreckensbilder, die uns umso mehr erschrecken, weil sie heute so realistisch wirken. Weil wir sie fast unterschiedslos neben Fotos und Fernsehbilder aus unserer Zeit legen könnten: Bilder von Waldbränden, von ausgetrockneten, unfruchtbaren Böden, von Land, das blutgetränkt ist nach Jahren des Krieges.

Und ähnlich könnten manche Menschen von sich und ihrem Leben erzählen: von Gewalt und Angst, von Armut oder Vernachlässigung, die ihre Lebendigkeit, ihr Vertrauen oder ihre Zärtlichkeit so verletzt haben, dass manche wie taub und fühllos geworden sind.

In so eine Zeit und Welt, zu Menschen, die Zerstörung in ihrem Land oder auch am eigenen Leib, an der eigenen Seele erfahren haben, spricht der Prophet Jesaja, wenn er ruft und ermutigt:

Stärkt die müden Hände
und macht fest die wankenden Knie!
Sagt den verzagten Herzen:
„Seid getrost, fürchtet euch nicht!“ (Jes 35, 3-4)

Warum? mögen sich die so Angesprochenen fragen. Warum noch etwas neu anfangen, warum wieder aufstehen und sich anstrengen, worauf jetzt noch hoffen?

So fragen nicht nur die zutiefst Verletzten, die Heimatlosen oder Kranken, so fragen oder denken viele in unserer Zeit. Resigniert nach dem 24. Februar, nach dem 7. Oktober, nach dem 5. November … Erschöpft und entmutigt.

Wir alle werden Menschen kennen, denen in den letzten Jahren ihr guter Mut, ihre Hoffnung auf Veränderung ins Wanken geraten ist – und manchmal geht es auch uns selbst so. Dass wir uns kraftlos fühlen, uninspiriert und unfruchtbar wie die Wüste, in der Jesaja seinen Hoffnungsweg anlegt. Den er bahnt mit den Worten:

„Seid getrost, fürchtet euch nicht!
Seht, da ist euer Gott!“ (Jes 35, 4)

Zuerst – noch bevor irgendetwas zu sehen ist, noch bevor er seinen Traum mit uns teilt – fordert Jesaja uns dazu auf, den Kopf zu heben, aufzuschauen, die Augen zu öffnen. Er ruft in eine andere, aufgerichtete Haltung.

Manche von Ihnen werden die Skulpturen des Künstlers Ernst Barlach kennen, vielleicht das sog. Fries der Lauschenden, das im Barlachhaus im Jenischpark in Flottbek steht. Eine andere Skulptur, ein Bronzeguss steht im Innenhof des Domklosters Ratzeburg: „Der Bettler“ auf wackligen Knien, beide Achseln auf Gehhilfen gestützt; sein Gesicht hebt er nach oben, dem Licht, der Zukunft, vielleicht Gott entgegen …

Wer den Kopf, das Gesicht, die Augen wie Barlachs Bettler hebt, der versucht, aus der eigenen Wüstenzeit hinausblicken. Die ahnt oder hofft, dass es vielleicht doch noch etwas zu sehen und zu erleben gibt. Dass es sich lohnen könnte, Jesajas Traum zu folgen.

Jesaja träumt. Und so wie es aufgeschrieben ist, träumt er zuerst von einer erlösten Schöpfung. Von lebendigen, beweglichen, durchlässigen Menschen:

Augen werden aufgetan und Ohren geöffnet.
Lahme Beine springen und stumme Zungen frohlocken. (Jes 35, 5-6)

Zukunft, Veränderung träumt Jesaja zuerst körperlich. Ganz nah bei sich, bei uns selbst. Kein fernes Geschehen, sondern etwas, das in uns, mit unseren Gliedern und Sinnen passiert. Das uns an Haut und Haaren aufweckt, Finger und Füße beweglich macht. Wir werden vielleicht so, wie wir einmal von Gott als seine Ebenbilder gedacht waren: sensible, durchlässige Menschen. Nicht gefangen in uns selbst, nicht um uns selbst kreisend, sondern im Sehen, Hören, Fühlen und Handeln verbunden mit unserer Mitschöpfung. Mit Regen und Wind, Bäumen, Fischen, Bienen und Sternen, auch mit anderen Menschen.

Jesajas Veränderungsvision setzt beim Menschen an, aber er träumt nicht anthropozentrisch. Er träumt eher ökologisch:

Es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen
und Ströme im dürren Land.
Wo es zuvor trocken war, sollen Teiche stehen,
und wo es dürre war, sollen Brunnquellen sein.
Wo zuvor die Schakale lagen,
soll Gras und Rohr und Schilf stehen. (Jes 35, 6-7)

Wie er zuerst belebte, wache Menschen schaute, so träumt er jetzt von einem bewässerten, fruchtbaren Land. Wie eine Neuschöpfung Gottes, der Leben nehmen und neues Leben schenken kann. Elementar wirkt dieser Gott; in der Lebendigkeit seiner ganzen Schöpfung wird er erfahrbar.

Dies sind die Zeichen seines Kommens, die es aufmerksam zu sehen und feinfühlig wahrzunehmen gilt. Darauf kommt es an, dazu dienen die festen Knie, die aufrechte Haltung, das erhobene Gesicht: dass wir mit allen Sinnen wahrnehmen, was von Gottes Kommen erzählt: Wasserquellen und Oasen, Rascheln im Schilf, gutes Weideland …

Und wir mögen das Unsere dazu erzählen: die Bilder und Erfahrungen, die uns von Gottes Kraft erzählen: sei es der Strom der Elbe oder die Apfelwiesen in Mecklenburg, der Sonnenuntergang am Meer oder die Stille am Berg, die Geburt eines Kindes oder die Heilung einer Freundin.

Jesaja träumt mit den Sinnen eines durchlässigen Menschen, der mit seiner Umwelt verbunden ist. In der wiederbelebten Schöpfung schaut er einen Weg:

Es wird dort eine Bahn sein und ein Weg,
der der heilige Weg heißen wird. (Jes 35, 8)

Das ist der Hoffnungsweg, das Zentrum von Jesajas Vision. Ein Weg, den „Unreine“ und „Toren“, wie er sie nennt, den Attentäterinnen und Gewaltverbrecher nicht betreten dürfen, wo es keine Angst mehr gibt. Ein Weg, der Gott entgegenführt, auf dem wir Menschen vorankommen, zu uns selbst und zueinander, zu einer neuen Verbundenheit mit der Schöpfung und mit Gott.

Hineingenommen sind wir in Jesajas Traum vom Hoffnungsweg, und dies auf besondere Weise im Advent. Können in der Imagination seines Weges unseren eigenen Weg gehen: eine freundliche Stadt durchqueren, geheilten Menschen begegnen, Stille und Frieden atmen – Schritt für Schritt, Wort für Wort, von Bild zu Bild.

Der Hoffnungsweg verbindet unsere gequälte Gegenwart mit einer befreiten Zukunft. Er macht Mut, hilft uns aufzublicken und Aufbrüche zu wagen.

Von dem französischen Philosophen Michel Certeau gibt es dazu ein schönes Wortspiel. Er erinnert daran, dass man in Athen die öffentlichen Verkehrsmittel metaphoroi nannte. Um zur Arbeit zu fahren oder nach Hause zurückzukehren, um aufzubrechen oder eine Reise anzutreten, benutzte man also eine „Metapher“, einen Bus oder Zug. [https://www.theologie.uzh.ch/predigten/jesaja-35/; abgerufen am 26.11.2024]

So soll es auch mit Jesajas Vision sein, mit seinem Bild des Hoffnungsweges: dass es uns wie ein Transportmittel hilft, von dieser Zeit in die kommende Zeit, aus unserer Wirklichkeit in Gottes Wirklichkeit und seine Nähe zu gelangen. Dem Kind entgegen, in dem Gott in seiner Schöpfung wirksam wird und auch uns neues Leben schenkt. Amen.