Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Korn, das in die Erde …

Korn, das in die Erde …

Predigt am 30. März
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Sonntag Lätare, 30. März 2025

Predigt zu Johannes 12, 20–14

Predigttext: Johannes 12, 20–14

Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest. 21 Die traten zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus sehen. 22 Philippus kommt und sagt es Andreas, und Andreas und Philippus sagen’s Jesus. 23 Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. 24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!

Liebe Gemeinde!

Als ich Jugendliche war, hing über meinem Bett eine Zeitlang ein Plakat: ein schwarz-weiß Druck, auf dem ein aufrecht stehender Braunbär zu sehen war, der mit der Tatze nach einem flatternden Schmetterling griff – oder ihm zuwinkte. Darüber stand auf Englisch:

„You can only keep what you have by giving it away.“

Auf Deutsch etwa:
„Du kannst nur behalten, was du auch loslassen kannst.“

Ich mochte diesen Druck damals gerne. Der Satz zog mich an – und zugleich forderte er mich heraus; manchmal ärgerte er mich sogar!

„Du kannst nur behalten, was du auch loslassen kannst.“

Ich überlegte, was ich wohl loszulassen und herzugeben hätte, an welche Besitztümer ich mich vielleicht überflüssiger- oder peinlicherweise klammerte. Im Laufe der Zeit fragte ich mich auch, ob sich der Spruch eigentlich nur auf Dinge und Besitz bezog, oder ob er auch anderes umfasste. Der Bär streckte die Tatze ja nach einem Schmetterling aus, nach einem Wesen, das er liebte oder bewunderte. Vielleicht ging es darum, manche Freundinnen, Helden oder Idole loszulassen?

Rückblickend denke ich, ob es bei meinen Gedanken ums Loslassen nicht auch um ein Thema ging, das mir damals nicht bewusst war: darum, meine Kindheit, mein Kindsein loszulassen und es zu wagen erwachsen zu werden. Den kleinen, verspielten Schmetterling loszulassen, um stark und aufrecht zu werden wie der Bär oder die Bärin – und dabei das Verspielte und Zarte auch zu behalten oder es in einer neuen, gewandelten Form wiederzugewinnen.

„Du kannst nur behalten, was du auch loslassen kannst.“

An diesen Spruch und dieses Bild musste ich denken bei dem heutigen Predigttext aus dem Johannes-Evangelium. Dem bekannten Jesuswort vom Weizenkorn, das in die Erde fällt. Das mir immer mehr als viele andere Erklärungen geholfen hat, den Abschied, das Sterben und Loslassen Jesu zu verstehen. Darin einen Sinn und eine Verheißung zu erkennen:

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein;
wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. (Joh 12, 24)

Diesem markanten Bildwort geht eine kurze Einleitung oder Überleitung voraus, die das Wort einbettet in Jesu Leben. Jesus sagt es zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens, in einer bestimmten Situation.

Es wird erzählt, wie „einige Griechen“ (Joh 12, 20) zum Passah-Fest nach Jerusalem kommen – also Nicht-Juden. Frauen und Männer, die nicht zu Jesu Volk gehörten, die den jüdischen Glauben nicht kannten, nicht eingeübt waren in seine Geschichten, Hoffnungen und Bräuche.

Diese Fremden wollen Jesus sehen. Höflich bitten sie Philippus, einen der Jünger: „Herr, wir wollten gerne Jesus sehen!“ (Joh 20, 21) Sie möchten in Kontakt kommen, sie möchten den erleben, der Gottes Worte spricht, der Gottes Wesen und Willen auf der Erde zeigt und „eins ist mit dem Vater“, wie es das Johannes-Evangelium immer wieder formuliert (z.B. Joh 10, 30).

Was auf die Bitte der Griechen hin geschieht, ist ungewöhnlich: „Philippus kommt und sagt es Andreas, und Philippus und Andreas sagen es Jesus weiter.“ (Joh 20, 22)

Offenbar ist es nicht möglich, Jesus direkt darum zu bitten, ihn sehen und treffen zu dürfen. Offenbar ist es auch nicht möglich, dass nur Einer – dass nur Philippus – den Kontakt zu Jesus herstellt.

Wenn man dies wörtlich nimmt und aus der Erzählsituation herauslöst, dann macht dieser etwas umständliche Weg zu Jesus Sinn:

So geht es uns ja heute, so ging es allen Christus-Sucherinnen und -Suchern, die nach Jesu Zeit lebten, auch der johanneischen Gemeinde um 100 n. Chr.: Es war für sie und ist für uns nicht möglich, direkt zu Jesus zu gehen, um ihn zu sehen und zu sprechen. Wir können Jesus heute wie damals nur durch die Vermittlung anderer begegnen. Durch Worte und Botschaften, durch Bilder oder Bräuche.

Und gewöhnlich, so zeigt es die Erfahrung, reicht es für uns auch nicht, nur durch einen einzigen Menschen mit Jesus Christus in Kontakt gebracht zu werden. Die meisten von uns haben durch mehrere Menschen Zugang zum Glauben bekommen. Wir brauchen immer wieder Berührungen und Erfahrungen mit dem Glauben.

In Gesprächen über die eigene Biographie wird mir oft erzählt, dass die Mutter oder die Großmutter wichtig war, um Gebete, die Kirche, biblische Geschichten oder Gott kennenzulernen. Dazu kam dann später oft ein guter Religionslehrer oder eine gelungene Konfirmandenzeit, eine Gruppe oder Reise mit der Gemeinde, die wichtig waren für die eigene Entwicklung und den Glauben.

Ihr werdet euch sicher erinnern, wer diese Menschen oder welche Erlebnisse dies für euch waren oder auch jetzt sind! Meiner Erfahrung nach hört es eigentlich nie auf, dass wir Vorbilder und Vermittler brauchen.

Als in der biblischen Geschichte die beiden Jünger, Philippus und Andreas, Jesus endlich den Wunsch der Frauen und Männer vortragen, ihn zu sehen, da antwortet er mit einem Rätselwort: „Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde.“ (Joh 20, 23) Schlicht übersetzt: Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Abschied von dem Wunsch nach realen Begegnungen. Abschied vielleicht auch von bestimmten Vorstellungen und Wünschen, die ihr vom Leben oder von mir habt.

Jesus weiß, dass er sterben wird. Dass sein Weg mit Gott nicht länger durchs Leben, sondern nun durch den Tod hindurch führen wird. Dass noch etwas aussteht, was für seine Jünger und auch für die Fremden noch nicht zu sehen, noch nicht zu verstehen war.

Und wie um seine Botschaft, seinen Auftrag noch einmal zusammenzufassen, sagt er dann das berühmte Wort vom Weizenkorn:

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein;
wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

Darin steckt vielleicht Jesu Angst, sein Wissen um den Abschied und die Härte des Loslassens. Darin steckt Jesu Hoffnung, sein Wissen um Gottes Kraft zur Verwandlung und Neuschöpfung. Und darin steckt auch Jesu Verheißung an uns, sein Zuspruch, dass wir es wagen mögen, ihm auf diesem Weg zu folgen.

Loslassen, was verzichtbar ist, was überholt oder überflüssig ist. Unser Herz nicht an die kleinen Besitztümer oder die großen Verlockungen hängen. Der Angst in uns, unserm Halten- und Kontrollieren-Wollen nicht zu viel Macht zu geben. Sondern bereit sein, loszulassen und zu vertrauen.

Das ist eine Aufgabe, die niemand abgenommen werden kann – und die wir umgekehrt auch für niemand übernehmen können. Wir können einander hier nicht entlasten, so sehr wir es uns manchmal vielleicht wünschen. In diesem Punkt sind wir unvertretbar. Nur wir selbst können dies: loslassen, frei werden. Im Vertrauen darauf, dass das, was wir loslassen, sich verwandeln wird.

Aber um dieses Vertrauen zu entwickeln und die nötigen Schritte zu tun, können wir uns durchaus gegenseitig unterstützen. Können wir einander Vorbilder sein und Hilfe anbieten – ähnlich wie die Jünger damals.

Das Geheimniswort Jesu über Loslassen, Verwandlung und neues Leben, das auch von unserem Leben erzählt, lässt sich nicht allein ergründen. Es braucht wohl ein ganzes Leben, um es zu verstehen. Und es braucht Gemeinschaft, geteilte Erfahrungen, um einander in diesem Prozess zu helfen.

„Du kannst nur behalten, was du loslassen kannst.“
Von diesem Spruch auf dem Plakat habe ich euch zu Beginn erzählt.

Vielleicht gehört es zu den Früchten des Älterwerdens, dass man auf andere Weise erkennt, wie dieser Spruch wahr ist. Anders als ich es als Jugendliche vielleicht ahnte. Wie sehr es dabei um einen selbst geht. Man verliert die Angst davor, auch wenn es die Situationen selbst nicht unbedingt leichter macht. Gleichzeitig lernt man, lerne ich mehr und mehr wahrzunehmen und wertzuschätzen, dass man in diesem Prozess nicht allein und ohne Vorbilder ist.

Umso dankbarer bin ich – besonders an einem Tag wie heute – zu einer Gemeinschaft zu gehören, in der wir uns mit unseren Fragen und Erfahrungen, auch mit dem, womit wir manchmal kämpfen oder an dem wir sogar scheitern können, einander anvertrauen und begleiten können. Dass wir uns helfen, Wandel und Verwandlung anzunehmen, im Vertrauen, dass daraus Neues erwachsen wird.

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein;
wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

Gott gebe uns Gelassenheit, Vorfreude und Mut, dass dies auch in unserem Leben und unter uns geschehen kann! Amen.