Lammfrommes Schäferidyll?
Predigt zum Hirtensonntag Misericodias Domini
Predigttext:
Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Was mir mein Vater gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann es aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins. (Johannes 10, 11-16.27-30)
Predigt
Liebe Gemeinde,
oder vielleicht sollte ich Sie heute am Hirtensonntag als „meine lieben Schäfchen“ anreden. Schließlich bin ich Ihre Pastorin, was auf deutsch nichts anders heißt als „Hirtin“. Trotzdem würde sich vermutlich sofort innerer Widerspruch bei Ihnen regen. Wer will schon gerne als Schaf bezeichnet werden. Schafe kommen bei uns meisten sprichwörtlich schlecht weg: als dummes Schaf, schwarzes Schaf, blökende Herde. Das passt so gar nicht auf Sie.
Vielleicht ist das Bild inzwischen einfach veraltet. Ich erinnere es aus meiner frühesten Kindheit: Da hing über dem Bett meiner Großeltern ein goldgerahmtes Gemälde. Darauf war ein Mann in einer lieblichen Landschaft zu sehen, umringt von Schafen, ein Lamm über die Schulter gelegt, mit einem Stab in der Hand. Der gute Hirte.
Ziemlich kitschig dieses Schäferidyll. Das spricht heute vermutlich niemanden mehr an. Wir leben ja auch nicht mehr in einer Agrargesellschaft. Ich vermute mal, dass Ihr Konfirmand:innen alle noch nicht so besonders viele Begegnungen mit Hirten und Schafherden hattet. Aus nachvollziehbaren Gründen ist es ziemlich schwer geworden, im Hier und Heute auf Personen zu treffen, die noch Nutztiere hüten. Das mit den Nutztieren geht ja in unseren Breitengraden inzwischen alles sehr viel effizienter. Leider lassen sich aus dieser Art Nutztierhaltung dann keine schönen poetischen Texte mehr dichten, die dann als Bild für Gottes Zuwendung herhalten können.
Das Hirten-Bild ist heute vielleicht nicht mehr besonders anschlussfähig für 14-Jährige aus Harvestehude und für andere, für Ältere auch nicht. Ein Kollege1 hat einmal darüber nachgedacht, ob Paketzusteller als Berufsgruppe nicht sehr viel verständlicher sei: Wem mangelt, der bestellt. Und der Paketbote liefert. Der „gute Paketbote“ sorgt auch dafür, dass kein Paket verloren geht, bringt fehlgeleitete Sendungen dann doch an ihr Ziel, geht pfleglich mit dem ihm Anvertrauten um. Und auch sonst kann man durchaus Parallelen zwischen heutigen Paketzustellern und damaligen Hirten ziehen: Es ist ein harter Knochenjob, die Bezahlung ist schlecht, die Arbeitsbedingungen prekär. Nur gibt es für Paketzusteller keine romantische Verklärung wie für Hirten. Und ehrlich gesagt: Mit einem Paketzusteller-Psalm 23a würde ich mich schwertun.
Ich gebe zu, ich mag das biblische Bild vom Hirten, obwohl auch ich keinem mehr in Echt begegne. Deswegen bitte ich Sie, sich heute einmal darauf einzulassen und mit mir einzutauchen in diese ferne Welt der Hirten und Herden, in dieses uralte Bild, das sich durch die ganze Bibel zieht.
Die Menschen damals sind verwurzelt in einer agrarischen Gesellschaft. Ihre Vorfahren lebten noch als Nomaden, Viehherden waren die Lebensgrundlage schlechthin. Die Hirten waren für den Bestand und das Wachstum verantwortlich, sie schützten die Tiere vor Räubern und Raubtieren. Mose war Hirte, Jakob hatte Schafsherden, Josefs Brüder waren mit den Schafen auf den Weiden und David hütete Schafe, bevor er als König ein guter, später auch idealisierter Menschenhirte wurde. Das sind die Hirten-Vorbilder.
Und auch die abschreckenden Beispiele sind präsent, z.B. in den prophetischen Texten. Da wird geklagt über weltliche und geistliche Herrscher: über Könige, die ihr Fähnchen machtpolitisch in den Wind hängen, über Priester, deren Frömmigkeit scheinheilig ist, über falsche Propheten, die den Mächtigen nach dem Mund reden, statt Unrecht anzuprangern. Und das Volk musste ausbaden, was die Herrscher verbockt hatten, nämlich dass das Land erobert und geplündert wurde, die Bevölkerung ins Exil geführt. Nur zu verständlich, dass die Menschen sich nach einem König sehnen, der ihnen Frieden bringt, der nicht für seine Machtgier das Leben seiner Untertanen einsetzt, sondern der es als seine Aufgabe sieht, sich um das Wohlergehen seines Volkes zu kümmern. Ein König wie David eben. Ein von Gott Auserwählter und durch seine Propheten Gesalbter. Gesalbter heißt auf Hebräisch Messias. Groß ist die Sehnsucht also nach dem Messias, der dafür sorgt, dass die Menschen in Ruhe und Frieden leben können, ihr Auskommen haben und geschützt sind – wie gut behütete Schafe eben.
Als ich über diese Predigt nachgedacht habe, habe ich im Deutschlandfunk ein Interview mit Avi Primor gehört, einem der früheren Botschafter Israels in Deutschland. Er sprach davon, dass die Mehrheit der Israelis, auch wenn sie sonst gespalten sind, dass die Mehrheit der Israelis Frieden will und dass der Krieg in Gaza nichts anderem dient als dem innerpolitischen Machterhalt der derzeitigen Regierung.
Das Bild des Hirten mag veraltet sein. Das, wovon es spricht, ist leider immer noch hochaktuell und nicht nur in Israel und Palästina. „Schlechten Hirten“ begegnen wir auch heute noch in Echt. Führungspersönlichkeiten nämlich, die entweder inkompetent sind oder ihre Machtposition bewusst ausnützen. „Hirten, die sich selbst weiden“, formuliert der Prophet Ezechiel sehr treffend, wir haben es vorhin gehört. Ich schätze, Ihnen allen fallen sofort Regierende, Machthaber, Firmenchefs unserer Zeit ein, die ihre Herde gerne dorthin führen, wo sie selbst gut weiden, sich die eigenen Bäuche und Taschen voll machen können. Menschen in Verantwortung für Staaten oder auch Firmenimperien, denen es völlig egal scheint, ob sie die ihnen anvertraute Menge der Bevölkerung oder Angestellten im Kreis herumführen und null Orientierung oder Schutz bieten. Ihnen geht es um den Gewinn an Macht oder Geld oder beidem. „Es gibt den Wolf nicht nur im Schafspelz, sondern auch im Hirtengewand.“2 Und wir müssen dabei nicht mal so groß und global oder staatstragend denken. Das reicht ja vom „verhaltensauffälligen Präsidenten“ bis hinunter zur Abteilungsleiterin, die ein toxisches Arbeitsklima schafft, ihre Mitarbeitenden mit unbezahlten Überstunden ausbeutet, feuert, wer nicht liefert, und keine Strategie erkennen lässt, weil sie selbst völlig unstrukturiert ist.
Wie schön wäre es, wenn Personen, die in irgendeiner Hierarchie über anderen stehen, nicht nur über diese bestimmten würden, sondern auch ihre Fürsorgepflicht wahrnähmen. So eben wie ein Hirte, der nicht nur bestimmt, wo die Schafe weiden, sondern darauf schaut, dass sie satt werden, gesund bleiben, nicht verloren gehen und sie notfalls auch vor wilden Tieren schützt.
Viele Jahrhunderte nach Ezechiel ruht genau diese Sehnsucht auf Jesus. Johannes greift das auf und malt das Bild vom guten Hirten. Er stellt dem „Mietling“ – also dem Hirten, der nur angemietet ist und für Bezahlung den Job macht – Jesus gegenüber, dem die Schafe gehören. „Sie sind die Meinen“ sagt Jesus. Und das heißt, dass er alles für sie tut. Worst case: Der Wolf kommt und er muss die Schafe mit seinem Leben verteidigen. Auch das tut er, auch das hat er getan. Sein Leben hingegeben. Karfreitag liegt noch keine 3 Wochen zurück. Jesus Opferlamm und guter Hirte in einem.
Wenn wir heute gemeinsam auf dieses Bild schauen, dann suchen wir ja unseren Platz darin. Und auch wir finden uns in beiden Positionen: Es geht um das Führen und Geführt-werden – und wir kennen uns sicher in beiden Rollen, je nachdem ob wir uns in der Familie bewegen, am Arbeitsplatz, im Ehrenamt oder Freundeskreis. Wir sind, um im Bild zu bleiben, mal Hirte, mal Schaf als Vater oder als Jugendliche. Als Abteilungsleiterin oder als Angestellter. Als Mitglieder des Kirchengemeinderates oder als Gottesdienstbesucherin. Als diejenige, die für den Freundeskreis die Wanderung organisiert, oder derjenige, der gerne mitläuft, ohne sich um etwas kümmern zu müssen. Wir kennen beide Rollen und manchmal wissen wir vielleicht auch nicht so genau, auf welcher Seite wir gerade stehen oder stehen wollen oder stehen sollten. Beide Rollen haben schöne und schwere Seiten: Das Schaf muss machen, was gesagt wird, der Hirte hat immer Schuld. Der Hirte kann gestalten, das Schaf kann relaxen.
Es ist immer einfach, an „denen da oben“ rumzumeckern, an denen, die die Entscheidungen treffen und die Richtung vorgeben, wo das Gras am grünsten sein könnte. Von denen erwartet man, dass sie möglichst auch in Dürreperioden saftige Wiesen finden und ist empört, wenn man nur gelbliches Gras kriegt. Kommunalpolitiker und Bürgermeisterinnen können ein Lied davon singen, wie sie mit Hohn und Häme, Hass und Hetze überzogen werden, weil jeder glaubt, es besser zu können. Sicher ist aber auch, dass es Zeiten gegeben hat, wo Menschen kritiklos schlechten Führern gefolgt sind. Schafe dürfen auch nicht dumm sein, sonst rennen sie ins Verderben.
Wir wollen ja gestalten und eigenverantwortlich sein und gleichzeitig lebt die kindliche Sehnsucht in uns, dass da jemand ist, der uns Entscheidungen zu unserm Besten abnehmen könnte, der für uns da ist und uns beschützt. Dieser Zwiespalt ist im Menschen schon in der Schöpfung angelegt: Weil der Menschen ist wie Gott, ihm ähnlich, aber eben nicht Gott ist, steckt er fest zwischen Autonomie und Angewiesen sein.
In dieser Zwickmühle hält uns Johannes das Bild vom guten Hirten vor. Ich glaube, es kann uns in dreierlei Hinsicht helfen:
Zum einen frage ich mich „als Schaf“: Wem kann und will ich folgen, wer meint es gut mit mir und wem kann ich vertrauen.
Zum anderen habe ich „als Hirtin“ ein Vorbild, wie gute Führung aussehen könnte. Zugegeben ein Vorbild an das ich nie heranreichen werde, aber das ist die richtige Richtung.
Und zum dritten können wir alle darauf vertrauen, dass wir einen guten Hirten haben: Dass Gott jemand ist, der uns behütet und beschützt, ohne uns einzupferchen. Als Gläubige sind wir keine dummen oder lammfrommen Schafe, auch keine blökende Herde. Wir leben auch nicht eingezäunt oder im Stall, sondern die Weide ist offen. Wir sind frei, frei auch davonzulaufen, auf Abstand zu gehen. Wir hören die Stimme dieses Hirten, hier und heute. Und ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass es gut ist, in seiner Nähe zu bleiben. Ich kann es Ihnen nur empfehlen. Amen.
1 Axel Reimann, Newsletter Andere Zeiten Mai 2023
2 Perikopenbuch, Misericodias Domini