Predigttext: Johannes 3, 14-21
Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, 15 auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. 16 Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. 17 Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. 18 Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. 19 Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. 20 Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!
Manchmal staune ich: Immer wieder gibt es neue Piktogramme zu entdecken! Ich habe ein bisschen gebraucht, um zu verstehen, dass das von einem Blitz zerrissene weiße Herz auf grünem Grund auf das Vorhandensein eines Defibrillators hinweist. Auch die Verbindung des Genderzeichens für weiblich und männlich – ein kleines Kreuz unter und ein kleiner Pfeil rechts oben an einem Kreis – war mir als Hinweis auf eine Unisex-Toilette relativ neu. Und manche Zeichen für gefährliche Substanzen, aber auch im Straßenverkehr finde ich nach wie vor nicht leicht zu merken.
Das Kreuz, um das es in unserem Predigttext aus dem Johannes-Evangelium heute geht, empfinde ich als ein leicht verständliches, klares und allgemein verbreitetes Zeichen – und gleichzeitig in seiner Bedeutung auch schwer zu fassen.
Ist das Kreuz das Zeichen für den Tod? So wird es manchmal zur Angabe des Sterbedatums verwandt. Ist es das Symbol für die christliche Religion? So steht es manchmal neben dem Davidstern für das Judentum und der Mondsichel für den Islam. Oder ist es das Zeichen für die Person Jesus Christus, der damit aber leicht auf sein Leiden und Sterben reduziert wird, ohne dass sein Handeln gut in den Blick käme.
„Das Kreuz mit dem Kreuz“ ist eine fast sprichwörtliche Aussage geworden. Menschen lehnen es ab und bevorzugen den Fisch, den Regenbogen oder die Taube als Zeichen für unseren Glauben und unsere Hoffnung.
Der Evangelist Johannes nähert sich dem Zeichen des Kreuzes auf ungewöhnliche Weise. Er nimmt Bezug auf die Wüstenzeit des Volkes Israel. 40 Jahre lang soll die Wanderung, der Auszug aus Ägypten durch die Wüste bis ins gelobte Land gedauert haben.
Die lange Wüstenzeit steht für Entbehrungen, Hunger und Durst – sowohl auf der körperlichen, materiellen Ebene als auch auf der emotionalen, geistigen Ebene. Schließlich lehnen sich die Israeliten auf. Sie „murren“, heißt es. Sie sind „verdrossen“, meckern und klagen. Sie „reden wider Gott und wider Mose“ (4. Mose 21, 4f). Sie ekeln sich vor dem immer gleichen Essen, sie sind wohl langsam angeekelt vom Leben in der Wüste – und sie werden dabei auch selbst zu Ekeln …
Manches, was hier komprimiert und bildhaft von der Wüstenzeit Israels berichtet wird, können wir wahrscheinlich leicht in unser Leben und unsere Zeit übersetzen. Das Gefühl, von allen guten Geistern verlassen zu sein, eine dunkle, harte Zeit mitzuerleben, nicht zu wissen, wohin die großen Nöte, die Kriege und Naturkatastrophen führen sollen, und auch nicht sicher zu sein, welchen Menschen oder Mächten wir uns darin anvertrauen können … Und manchmal geraten wir in diesen Bedrohungen, unseren Sorgen und Ängsten auch selbst zu lieblosen, aggressiven Ekeln …
In der biblischen Wüstengeschichte wird erzählt, wie in dieser Situation – als das Volk sich gegen die Leitung durch Mose und Gott auflehnt – von Gott „feurige Schlangen“ geschickt werden, die das Volk beißen und töten. Gegen das Schlangengift soll Mose nun wie eine Medizin oder ein Schutzschild eine sog. eherne Schlange machen, das heißt eine Schlange aus Metall, die er oben an einem Stab befestigen soll. „Wer gebissen ist und sie ansieht, soll leben – und nicht sterben“ (4. Mose 21, 8), sagt Gott.
Ein Rettungszeichen – wer den Kopf hebt und darauf sieht, wird überleben.
Diese zugleich sonderbare und plastische Erzählung aus der Geschichte des Volkes Israel zieht Jesus im Johannes-Evangelium heran, um seinem nächtlichen Besucher Nikodemus zu erklären, was es mit dem Kreuz auf sich hat. Warum er selbst sterben und erhöht werden muss: „damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3, 15f)
Den Kopf heben, auf das Kreuz sehen, daran glauben und nicht verloren gehen, sondern leben …
Wie geht das? frage ich mich. Wie wirkt das Kreuz? Wie kann es für uns zum Rettungszeichen, zum Gegengift werden?
Ich glaube, auf diese Fragen kann es nur persönliche, nur konkrete Antworten geben. Weder hilft die vermeintliche Eindeutigkeit des Kreuzes weiter, noch ein intellektuelles Aufblättern der vielfältigen Bedeutungsebenen des Kreuzes. Das Heil oder die Rettung, die das Kreuz vermitteln kann, muss erfahren, erlebt werden. Aber ich würde sagen, sie kann auch erlebt werden!
Ein ganz alltägliches Beispiel: Wenn Menschen in unserer Kirche eine Kerze anzünden, dann haben sie gewöhnlich zwei Blickrichtungen. Viele blicken zuerst einen Moment lang still auf die Kerze, das Licht, das sie entzündet haben. Dabei denkt man – so geht es mir jedenfalls – wohl meistens an den oder die Menschen, für die man die Kerze angezündet hat, oder an eine bestimmte schwierige oder belastende Situation. Und dann heben viele ihren Blick und richten ihn auf den Hochaltar, auf das Kreuz, das in der Mitte zu sehen ist. Sie blicken zum Gekreuzigten, der von Maria und Johannes flankiert ist. Wie eine stumme Bitte zu helfen oder da zu sein, wie eine kurze Kontaktaufnahme mit Gott. Ein Blick aus den eigenen Sorgen oder auch den Nöten anderer heraus zu dem, der Rettung bringen kann.
Und in diesem Blick zum Kreuz stecken ja oft eher halbbewusst die Einsicht, dass wir uns nicht in allem selbst helfen können, und die Bitte, das Vertrauen, dass Gott oder Christus uns helfen mögen.
Ich denke beim Kreuzzeichen auch an Holzkreuze, die man gut in die Hand nehmen kann. Handschmeichler zum Beispiel aus Olivenholz, die gut in die Hand passen. Manche Menschen nehmen auch gerne einen Holz- oder Bronzeengel in die Hand. Ich habe oft Schwerkranke oder Sterbende gesehen, die sich an einem Holzkreuz oder einem kleinen Engel festgehalten haben. Vielleicht wie ein Anker, der uns vergewissert, dass wir im Sterben nicht unter- oder verlorengehen. Vielleicht wie ein Schlüssel zur Himmelstür, zum neuen Leben in der Auferstehung …
Sie und ihr mögt eigene Erfahrungen mit dem Kreuz-Symbol gemacht haben. Ob es ein Kreuzanhänger an einer Kette ist oder ein Kreuz, das in der Wohnung hängt. Ob es eine beeindruckende künstlerische Darstellung des Kreuzes ist oder ein fröhliches, bunt-bemaltes lateinamerikanisches Holzkreuz … Manche Kreuze sprechen zu uns, weil wir sie mit bestimmten Menschen, Daten oder Erlebnissen verbinden. Andere, weil ihre Geschichte oder Ästhetik uns anspricht oder wir sie einfach besonders schön finden.
Ich möchte zum Schluss von zwei konkreten Kreuzen erzählen: Bei meiner Einführung als Pastorin auf meine erste richtige Stelle hat mir ein Freund ein flaches Bronzekreuz geschenkt, das man an die Wand hängen kann. Es ist quadratisch, alle vier Balkenenden sind gleich lang. In der Mitte ist ein kleines rundes Labyrinth eingeprägt.
Wenn ich dieses Kreuz in meinem Arbeitszimmer ansehe, dann denke ich: Ja, Gottes Wege sind geheimnisvoll. Ich verstehe sie oft nicht. Auch der Weg von Gott in Jesus Christus war geheimnisvoll: aus dem Leben in den Tod, aus dem Tod in neues Leben … Das ist schwer zu verstehen. Es geschieht im Verborgenen, vielleicht auf verschlungenen Pfaden … Aber dieser unsichtbaren, geheimnisvollen Botschaft vertraue ich.
Ein anderes Kreuz, das mich immer wieder anspricht, ist das im Dom von Ratzeburg. Zwischen dem Kirchenschiff und der Vierung steht auf einem massiven Querbalken hoch oben ein sog. Triumphkreuz. In diesem Fall ein großes Holzkreuz aus dem 13. Jahrhundert, farbig bemalt. Übergroß ist der Gekreuzigte zu sehen, darunter kleiner Maria und Johannes. Das Besondere an diesem Kreuz sind die geschnitzten Blätter, die die Balken säumen. Sie scheinen aus dem Kreuz herauszuwachsen.
Das Kreuz wie ein Lebensbaum. Aus dem toten Holz der Bretter sprießen Knospen und Blätter, Zeichen des neuen Lebens. Das Kreuz blüht und wächst, könnte man denken. Es ist nicht statisch, es steht nicht nur für das Ende, den Tod. Sondern auch für den Aufbruch aus dem, was tot und erstarrt ist, aus dem Tod in die Auferstehung, den Neubeginn.
Am Kreuz als Zeichen für diese Hoffnung, für diesen Glauben festzuhalten in den Wüstenzeiten, die wir persönlich oder gesellschaftlich erfahren, kann uns retten. Es kann für uns ein Anker, ein Rettungszeichen sein. Dass wir nicht verlorengehen, sondern dem Leben zugewandt bleiben. Dass wir in Gott geborgen bleiben in dieser Zeit und in Ewigkeit. Amen.