Menschen gehen zu Gott
Gottesdienst 2 zu Dietrich Bonhoeffer
Gottesdienst an Palmsonntag
Predigttext:
Einzug in Jerusalem
Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte. Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.
Predigt:
Als Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 – also einen Monat vor Kriegsende – hingerichtet wird, saß er schon zwei Jahre lang im Gefängnis. Eine Zeit, in der viele seiner eindrücklichsten Texte entstehen: sein Glaubensbekenntnis z.B., das am letzten Sonntag hier bepredigt wurde, und auch das wunderbare Gedicht „Von guten Mächten“. Diese Texte zeigen, wie Bonhoeffer seine widerstreitenden Gefühle, das Bangen – „und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern“ und Hoffen – „doch willst du uns noch einmal Freude schenken“ – vor Gott bringt: Er hofft auf Freiheit und eine Zukunft, er ahnt, dass ihm das Todesurteil drohen könnte.
Im Juli des Jahres 1944 ist Bonhoeffer besonders angespannt, denn er weiß von den Anschlagplänen auf Hitler. Er weiß noch nicht, was wir heute wissen: dass das Attentat auf Hitler am 20. Juli schief gehen wird. In diesen Tagen, am 8. Juli, schreibt er an seinen Freund Eberhard Bethge und legt diesem Brief ein kurzes Gedicht bei. Vertont klingt es so.
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.
Not kennt Bonhoeffer genug: Tagtäglich erlebt er sie im Gefängnis. Er fühlt sich ohnmächtig wie „ein Vogel im Käfig“, so schreibt er an anderer Stelle, „ringend nach Lebensatmen, als würgte mir einer die Kehle“. Er erlebt die Willkür der Wachen, die alltäglichen Kränkungen in der Haft. Und er sorgt sich nicht nur um sein eigenes Schicksal, sondern um so viele andere. Um seine Familie – Bruder und Schwager sind ebenfalls inhaftiert – um seine Freunde im Widerstand, um die Juden, über deren Schicksal unter den Nazis er sich nie Illusionen gemacht hat.
Ja, Not kennen die Menschen zu dieser Zeit genug, vor allem natürlich in den Konzentrationslagern und den Kriegsgebieten.
Not lehrt beten, heißt es, oder mit Bonhoeffer: „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not.“ Sie bitten um das, was sie zum Überleben brauchen: um Brot. Und um das, was aus Überleben echtes Leben macht: um Glück. Um Sinn und Erfüllung, Zufriedenheit und Liebe.
„So tun sie alle“ lautet die letzte Zeile der Strophe, die uns aus der konkreten geschichtlichen Situation im 3. Reich herausführt und uns heute mit unserer aktuellen Not mit hineinnimmt. Ich vermute, dass wir allein hier in dieser Kirche all das versammelt haben, was menschliche Not ausmachen kann: Sorge um schwächer werdende Eltern und um die Zukunft der Kinder, berufliche Sackgassen und Scheitern, Krankheit und Schmerzen, Einsamkeit, Trauer. Sorge auch um den Zustand dieser Welt, das Klima, die Kriege, Migration, Wirtschaft, wackelige demokratische Systeme und so weiter. Ja, all das bringen wir auch heute vor Gott. Als Einzelne und immer wieder hier gemeinsam.
Erstaunlich an dieser ersten Strophe von Bonhoeffers Gedicht sind vielleicht nur die letzten drei Worte, die dem Gedicht auch den Titel gegeben haben: „Christen und Heiden“. Auch Heiden machen sich auf den Weg zu Gott, behauptet Bonhoeffer. Ich verstehe das so: Wer die menschliche Ohnmacht erlebt, der wendet sich an eine höhere Instanz als letzten Ausweg. Das Verlangen, dass das Leid ein Ende haben soll, das vereint alle Menschen, egal ob gläubig oder nicht. Und damit auch die Sehnsucht, dass es da eine höhere Kraft geben müsste, die für Recht sorgen kann, die aus Krankheit, Schuld und Tod erretten kann. Wer die menschliche Ohnmacht erlebt, der sucht nach einem allmächtigen Gott. Am besten nach einem deus ex machina. Aber wenn man in diese Welt schaut mit ihrem ganzen Leid, dann möchte man an der Vorstellung eines allmächtigen Gottes verzweifeln. Dann landet man bei der Theodizeefrage, also: Wieso lässt Gott Leid zu? So ist es uns neulich ergangen, als wir in einer kleinen Runde über das Glaubensbekenntnis diskutiert haben. Wie kann man „Ich glaube an Gott, den Allmächtigen“ mitsprechen, haben wir uns gemeinsam gefragt.
Vielleicht so, wie Bonhoeffer das in seiner 2. Strophe tut. Auf der Suche nach dem allmächtigen Gott, trifft er auf den ohnmächtigen:
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.
Das ist nicht unbedingt das, was wir zu hören erwarten, was wir zu hören hoffen, wenn wir uns in unserer Not an Gott wenden. „Christen stehen bei Gott in seinem Leiden“ – ein Gott, der unseren Bei-stand braucht?
Bonhoeffers Gottesbild mag überraschen. Und doch denkt er eigentlich nur die Passionsgeschichte, die wir in diesen Wochen wieder lesen und hören, radikal zuende: Jesus verlassen im Leid, ohnmächtig am Kreuz. Bonhoeffer sieht auf die Not um sich herum und erkennt in den Gesichtern der Leidenden das Gesicht Gottes. „Arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot“. Eigentlich kennen wir das: „Was ihr diesem meinen geringsten Brüdern getan habt – dem Obdachlosen, dem Hungernden, dem Kranken, dem Fremden, – das habt ihr mir getan“. Da ist Gott zu finden. Nicht als externes Lösungsmodul für unsere Probleme und Nöte, sondern bei den Leidenden. Er leidet mit. Mensch und Gott begegnen sich dort, wo man etwas aushalten und ertragen muss. Wo der Schmerz, wo die Not den Ton angeben. Dort, wo dann das Bei-stehen zählt, das Nahesein, wo Glaube lernen muss und kann, zu vertrauen.
Ich finde es immer wieder schwer, das zusammenzubringen: Gott allmächtig und ohnmächtig zugleich. Mir hilft dabei dieser Tag heute. An Palmsonntag wird die Allmacht und Ohnmacht Gottes in einem Bild inszeniert: der König auf dem Esel. Es geht hier am Eingangstor zur Hauptstadt um Machtfragen. Die Mächtigen in Jerusalem werden nervös, als Jesus so bejubelt wird. Johannes nennt stellvertretend die Pharisäer: „Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet, alle Welt läuft ihm nach!“ sagen sie. Gegen Massen sind Mächtige machtlos. Vorerst. Hier in dieser Szene am Stadttor von Jerusalem spitzen sich die Machtfragen zu. Jesus kommt in die Hauptstadt – in das Zentrum der Macht. Er weiß, dass das riskant ist, und er riskiert es. Er scheut die Konfrontation mit den Mächtigen nicht. Aber er spielt das Machtspiel, das man von ihm erwartet, nicht mit. Jesus wird beklatscht als derjenige, der doch bitte nach der Macht greifen soll. Er ist die Projektionsfläche für all die Sehnsüchte, die dort am Straßenrand warten: „Errette uns von Not und Tod, von den Römern und deren Gewaltherrschaft, von der Ausbeutung, die wir erleben, der Haft, der Folter, der Todesstrafe.“ Die Palmwedler wünschen sich einen mächtigen Messias, der die Unterdrücker vertreibt.
Und was macht Jesus? Er entzieht sich den üblichen Machtstrukturen, er spricht auch kein Machtwort. Er reitet auf einem geliehenen Lastentier, und er erleidet all das, wovon die Menschen errettet werden wollen, selbst: Ungerechtigkeit, falsches Urteil, Schmach und Schmerzen bis zum Tod. So nahe kommt Gott dem Leid, so nahe kommt er denen, die leiden. Er kommt. Da ist es dann Gott, der sich auf den Weg macht. Beginnen die ersten beiden Strophen damit dass Menschen zu Gott gehen, heißt es jetzt: Gott geht zu den Menschen:
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod
und vergibt ihnen beiden.
Die dritte Strophe ist eigentlich die Antwort auf die erste: Hier wird den Menschen zugesprochen, was sie sich wünschen und zum Leben brauchen: Brot und Vergebung. Aber der Weg dorthin führt durch das Leid, durch Gottes Leid: Er stirbt den Kreuzestod – und auch hier wieder „für Christen und Heiden“. Der Rettungswille Gottes schließt alle ein.
Es ist ein Dreischritt, der nicht abgekürzt werden kann:
Gottes Allmacht wird angerufen – Gottes Ohnmacht wird entdeckt – und dann erst kann Gottes Nähe als Errettung erlebt werden.
Es ist ein Dreischritt, der sich auch in den Geschichten von Jesus spiegelt:
Zuerst sein Leben unter Menschen, die ihn in ihrer Not um Hilfe bitten – dann sein Leiden und Sterben –
und schließlich sein Auferstehen, in dem die Hoffnung liegt, dass Leid und Tod überwunden werden können.
Es ist ein Weg. Ein Weg der Annäherung von Mensch und Gott, von Gott und Mensch, bei dem ein Schritt nach dem anderen kommt und nicht einer einfach übersprungen werden kann. Zugegeben: Es ist kein einfacher Weg – eher ein ruckeliger. Bonhoeffer schafft kein gleichförmiges Versmaß in diesem Gedicht. Das macht es schwer, die Zeilen zu vertonen. In den 90er Jahren hat sich ein Pastor daran versucht und hat dafür auf die ältesten Quellen christlicher Liedgeschichte zurückgegriffen: das Prozessionslied, bei dem mehrere Silben auf einem Ton gesungen werden. Es wurde ein Lied daraus, das uns in Bewegung setzen will, hinaus aus der Enge, wenn Angst und Not uns lähmen. Eine sehr passende Idee für diesen Text, der ja mit immer neuen Wendungen überrascht. Leider ein sehr schwer zu singendes Lied.
Deswegen hat sich Christopher Bender schon vor einiger Zeit neu daran versucht. Seine Melodie, die wir schon gehört haben, spiegelt das Auf und Ab wider: In der Not, beim Leiden und Tod führen uns die Töne mit nach unten in die Tiefe. Gehen Menschen zu Gott nehmen die Noten uns mit nach oben. Dieses Lied führt uns in den Abgrund. Den kann man nicht überspringen. Aber überwinden kann man ihn. Und erleben, dass Gott doch sättigt und rettet und befreit. Aber eben nicht am Leid vorbei, sondern durch das Leid durch – auch wenn das schwer zu verstehen und auszuhalten ist. Dietrich Bonhoeffer weiß im Angesicht des Todes zu sagen: „Das ist das Ende, für mich der Beginn des Lebens.“ Mit dieser Zuversicht können wir in die Karwoche gehen, können wir üben, mit Leid umzugehen, und singen wir nun gemeinsam sein Lied: „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not“. Amen.