Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Tränen und Freude

Tränen und Freude

Predigt am Ewigkeitssonntag mit Totengedenken, 24. November
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Toten- bzw. Ewigkeitssonntag, 24. November 2024

Predigttext: Psalm 126

Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens
und unsre Zunge voll Rühmens sein.
Da wird man sagen unter den Völkern:
Der HERR hat Großes an ihnen getan!
Der HERR hat Großes an uns getan;
des sind wir fröhlich.
HERR, bringe zurück unsre Gefangenen,
wie du die Bäche wiederbringst im Südland.
Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen
und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

Der heutige Novembersonntag am Ende des Kirchenjahres ist ein besonderer Tag: Er ist wichtig und zugleich schwer, er kann schmerzhaft und zugleich schön sein.

Denn heute nennen wir vor Gott die Namen der Verstorbenen, die wir im letzten Jahr oder in den vergangenen Jahren verloren haben. Die Namen derer, mit denen wir lange zusammengelebt haben, die wir gut kannten – ihre Gesichter, ihre Geschichte und ihre Geschichten, ihre besonderen Fähigkeiten, Stärken und auch Schwächen. Unser Leben mit ihnen wird in uns wach, wenn wir heute an sie denken und Kerzen für sie anzünden.

Und zugleich wird dadurch der Schmerz, die Trauer oder das Erschrecken in uns wach, dass sie, die wir liebten, mit denen wir eng verbunden waren, die uns geprägt haben, jetzt nicht mehr bei uns sind. Nicht mehr in der Nähe, bei uns zuhause oder im Freundeskreis, nicht mehr auf Festen oder zu Weihnachten dabei, nicht mehr auf der Erde. Nicht mehr in dieser Zeit und in dieser Welt, sondern in einer anderen Zeit und Welt.

Wichtig und schwer ist dieser Sonntag, weil wir ihn vielleicht mit dem sprichwörtlichen „weinenden Auge“ und auch mit dem dazugehörigen „lachenden Auge“ begehen. Wir vermissen die Verstorbenen, manche von uns jeden Tag, schmerzhaft wie eine offene Wunde. Wir erinnern vielleicht noch allzu deutlich unser Erschrecken über ihren Tod. Oder unser Mitleid und unsere Hilflosigkeit, weil wir ihnen in ihrer Krankheit, ihren Schmerzen und ihrem Sterben nicht anders beistehen konnten. Wir können vielleicht immer noch nicht fassen, dass er oder sie wirklich nicht zu uns zurückkehrt und wir zeit unseres Lebens voneinander getrennt bleiben.

Und zugleich – wenn es uns gelingt, die traurigen Gedanken und Bilder beiseite zu schieben – mögen wir auch „lachenden Auges“ an unsere Toten denken. Vielleicht wenn wir uns gemeinsam mit anderen an sie erinnern, die sie auch gut kannten. Mit denen wir uns an manche typischen Redewendungen oder Sprüche, an bestimmte Macken oder Gewohnheiten erinnern können, an unvergessliche Momente, besonders glückliche Tage, Reisen oder Feste.

So wie sich für manche von Ihnen und euch die Trauer gelöst und ihre bedrückende Schwere verloren hat, als ihr im Anschluss an die Trauerfeier mit der Familie, Freundinnen und Freunden zusammen gegessen und getrunken habt. Als ihr angefangen habt, euch eure eigenen Geschichten mit der oder dem Verstorbenen zu erzählen und es wieder wärmer in und um euch wurde. Der sog. Leichenschmaus oder Beerdigungskaffee oder, wie es in manchen Gegenden genannt wird, das „Tränenbrot“ – ein guter Brauch, um wieder im Leben und unter den Lebenden anzukommen.

Die zugleich schweren und schönen Seiten des heutigen Tages lassen sich auch daran ablesen, dass er zwei Namen hat und sowohl „Totensonntag“ als auch „Ewigkeitssonntag“ heißt.

Neben der Erinnerung an die Toten wird die Hoffnung auf die Ewigkeit gestellt. Wir trauern vor Gott nicht nur um das, was unwiederbringlich vergangen ist, sondern wir fragen, suchen und hoffen vor Gott auch auf das, was kommt. Was uns in den biblischen Geschichten von Weihnachten, Karfreitag und Ostern verheißen ist: Gottes Weg mit den Menschen in seinem Sohn Jesus Christus. So wie es in Psalm 23 heißt: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …“ „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“, wie es ganz am Ende heißt.

Gottes Weg mit uns von der Wiege bis zur Bahre, von der Krippe bis zum Kreuz – aber eben noch darüber hinaus! Noch weiter reicht Gottes Weg mit uns. Durch den Tod und das Kreuz hindurch in einen neuen Morgen. In die Auferstehung oder in den „Himmel“, wie wir es sagen, weil wir es nicht ganz genau wissen. Weil kein Lebender es weiß. Sondern wir von dem neuen Leben in der anderen Zeit, der Ewigkeit, und in der anderen, der unsichtbaren Welt nur hoffend und glaubend sprechen können in Bildern, Vergleichen und Andeutungen.

So tut es auch der heutige Predigttext Psalm 126, den wir am Anfang zusammen gebetet haben.

Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens
und unsre Zunge voll Rühmens sein. (Ps 126, 1+2)

Auch dieser Psalm verbindet beides: das Schwere und das Schöne. Er reflektiert die Zeit des Exils, als im 6. Jahrhundert v. Chr. der Jerusalemer Temel zerstört und große Teile des Volkes Israel gefangen genommen und ins Exil nach Babylon verschleppt wurden. Als das Land verödete, Familie getrennt und die Gefangenen weit weg waren, wie tot. Man wusste nicht, ob und wann sie je wiederkämen.

Und dennoch hält der Psalmbeter die Hoffnung hoch, macht die Hoffnung stark und laut:

Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens
und unsre Zunge voll Rühmens sein. (Ps 126, 1+2)

Es klingt fast schon jubelnd! Die Vorfreude auf die Rückkehr, auf das Wiedersehen und Zusammensein mit denen, die so lange schmerzlich vermisst wurden, ist so groß, dass sie jetzt schon Kraft gibt, Zuversicht und Freude in uns weckt.

Es ist der große Traum, den wir mit unseren jüdischen Geschwistern im Glauben teilen: der Traum von Frieden und Schalom, der Traum von einem Leben, wo der „Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz“ (Offb 21, 4). Der Traum von Gottes Reich oder vom Himmel.

Und das ist nicht einfach nur ein persönlicher Wunsch- oder Tagtraum, keine naive Träumerei. Es ist die Vision, die große Hoffnung, die unsere Väter und Mütter im Glauben empfangen haben. Es ist die Vision, die Jesus Christus als Gottes Sohn für uns verkörpert hat. In seinem Leben, in seinen Taten und Worten, und auch in seinem Tod und seiner Auferstehung, der Überwindung des Todes, der Leiden und Qualen in dieser Welt.

Der Psalmbeter preist die Vision der kommenden Welt oder des Himmels mit konkreten Bildern aus seinem Kontext:

HERR, bringe zurück unsre Gefangenen,
wie du die Bäche wiederbringst im Südland. (Ps 126, 4)

Erlösung und Schalom, der Anbruch von Gottes Reich wird so sein, wie wenn nach langer Dürre endlich Regen kommt. Wenn sich die Flusstäler, die Seen und Staubecken wieder auffüllen, wenn der Grundwasserspiegel wieder steigt und wir keine Angst mehr um die Ernte, die Wälder, das Klima haben müssen.

Und noch ein weiteres Bild seiner Erfahrungs- und Lebenswelt ruft der Psalm auf:

Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen und tragen guten Samen
und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben. (Ps 126, 5+6)

Die Einsicht, dass die Saat oft schwieriger ist als die Ernte. Auch wenn unsere Vorstellungen von durch Dünger und Bewässerung garantierter, reicher Ernte dem vielleicht zunächst widersprechen.

Zu säen heißt, ins Ungewisse zu geben. Den Schatz der Saat herzugeben, loszulassen, mit geöffneter Hand auszustreuen, ohne sicher zu wissen, ohne selbst machen zu können, dass und was daraus wird. Im Vertrauen säen wir. Im Vertrauen auf die Zukunft setzen wir Kinder in die Welt. Im Vertrauen auf die Zukunft arbeiten und engagieren wir uns. Und im Vertrauen auf die Zukunft geben wir auch unsere Toten her. Im Vertrauen auf Gottes Segen, der Wachstum und Wandlung schenkt, neue Kraft, neues Leben.

Und dann die Vorfreude, wie erst die Ernte sein wird! Wie wir bei der Ernte „mit Freuden“ kommen und unsere „Garben“ bringen werden! Die Vorfreude, dass die Saat aufgehen, dass gelingen, voll und reif und gut werden wird, was Gott uns verspricht: dass neues Leben entsteht in dieser Zeit und in der kommenden Zeit. Und dass Gott vollenden wird, was wir in dieser Zeit, in dieser Welt säen und anfangen. Wofür wir uns anstrengen, worum wir bitten, was wir betrauern, weil es zu früh oder unvollständig zu Ende gegangen ist.

In Gottes Hand geben wir unsere Verstorbenen und auch uns selbst. Und Gott wird uns erlösen. Er wird zurechtbringen, heilen und vollenden, was wir mit seiner Hilfe säen durften. An seinem Tag, beim Anbruch seines Reiches – dann werden „wir sein wie die Träumenden“! Wir werden „mit Freuden“ zusammenkommen, heil und frei in Gottes Licht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.