Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Übergänge

Übergänge

Predigt am 12. Januar
Pastorin

Andrea Busse

Gottesdienst am 1. Sonntag nach Epiphanias

Predigt zu Josua 3, 5–17

Predigttext:
Und Josua sprach zum Volk: Heiligt euch, denn morgen wird der HERR Wunder unter euch tun. 
Und Josua sprach zu den Priestern: Hebt die Bundeslade auf und geht vor dem Volk her!
Da hoben sie die Bundeslade auf und gingen vor dem Volk her. 
Und der HERR sprach zu Josua: Heute will ich anfangen, dich groß zu machen vor ganz Israel, damit sie wissen: Wie ich mit Mose gewesen bin, so werde ich auch mit dir sein. Und du gebiete den Priestern, die die Bundeslade tragen, und sprich: Wenn ihr an das Wasser des Jordans herankommt, so bleibt im Jordan stehen. 
Und Josua sprach zu den Israeliten: Herzu! Hört die Worte des HERRN, eures Gottes! Daran sollt ihr merken, dass ein lebendiger Gott unter euch ist und dass er vor euch vertreiben wird die Kanaaniter, Hetiter, Hiwiter, Perisiter, Girgaschiter, Amoriter und Jebusiter: Siehe, die Lade des Bundes des Herrn der ganzen Erde wird vor euch hergehen in den Jordan. So nehmt nun zwölf Männer aus den Stämmen Israels, aus jedem Stamm einen. Wenn dann die Fußsohlen der Priester, die die Lade des HERRN, des Herrn der ganzen Erde, tragen, in dem Wasser des Jordans stillstehen, so wird das Wasser des Jordans, das von oben herabfließt, nicht weiterlaufen, sondern stehen bleiben wie ein einziger Wall. 
Als nun das Volk aus seinen Zelten auszog, um durch den Jordan zu gehen, und die Priester die Bundeslade vor dem Volk hertrugen, und als die Träger der Lade an den Jordan kamen und die Füße der Priester, die die Lade trugen, ins Wasser tauchten – der Jordan aber war die ganze Zeit der Ernte über alle seine Ufer getreten –, da stand das Wasser, das von oben herniederkam, aufgerichtet wie ein einziger Wall, sehr fern, bei der Stadt Adam, die zur Seite von Zaretan liegt; aber das Wasser, das zum Meer der Araba hinunterlief, zum Salzmeer, das nahm ab und floss ganz weg. So ging das Volk hindurch gegenüber von Jericho. Und die Priester, die die Lade des Bundes des HERRN trugen, standen still im Trockenen mitten im Jordan. Und ganz Israel ging auf trockenem Boden hindurch, bis das ganze Volk über den Jordan gekommen war. 

Predigt:

Da stehen sie also die Israeliten am Ufer des Jordan. Sie haben eine lange Wüstenwanderung hinter sich. Ich könnte mir vor­stellen, dass manche da stehen und sich einfach nur nach Ruhe sehnen, nach Frieden und Heimat. Andere machen sich vielleicht Sorgen, ob man sie dulden wird im neuen Land, in dem die Kanaaniter wohnen und die Hetiter, Hiwiter, Perisiter und wie sie alle heißen. Und wieder andere sind wohl kampfes­lustig, haben vielleicht sogar Gewaltphantasien gegen alles, was sich ihnen in den Weg stellen könnte. Ob kampfeslustig und siegessicher oder mehr verzagt und verängstigt – jetzt ist es Zeit hinüberzugehen. Noch einmal durch das Wasser. So hat sie begonnen die Geschichte ihrer Wanderung vor symboli­schen 40 Jahren, also vor einer ganzen Generation, mit dem Auszug aus Ägypten und den Durchzug durchs Schilfmeer. Diesmal aber laufen sie nicht vor etwas weg, sondern zu etwas hin. Es ist auch kein Meer, sondern nur ein über die Ufer getre­tener Fluss. Und sie werden diesmal nicht verfolgt, sondern wollen bald andere verfol­gen, so der Plan.

Und spätestens bei diesen Versen, in denen Josua verkündigt:
„Daran sollt ihr merken, dass ein lebendiger Gott unter euch ist, und dass er vertreiben wird die Kanaaniter und Hetiter“ und so weiter, spätestens dann bleibt uns ja unser Gottes­bild im Hals stecken. Und ich zumindest kann nicht umhin: Bei mir kommen dann auch aktuelle Bilder von israeli­schen Siedlungen im be­setzen Gebiet hoch, von gewaltsamen Auseinander­setzun­gen zwischen diesen und den arabischen Dörfern in der Nachbar­schaft. Und ich höre mit sehr gemischten Gefühlen die Ankündigung, dass jetzt die Golanhöhen verstärkt mit Israelis besiedelt werden sollen.

Ich weiß, dass man solche biblischen Texte wunder­bar herbei­zitieren könnte und es auch getan hat und tut, wenn israeli­sche Siedlungspolitik gerecht­fertigt werden soll. Ich habe es einmal selbst live erlebt und zwar schon Mitte der 90er. Ich war mit einer Freundin, die ein Jahr in Jerusalem studiert hatte und deswegen hebräisch verstand, nach Israel gereist. Am Sabbat waren wir in einer Reformsynagoge zu Gast und nicht nur wir, sondern auch ein Prediger. Und dieser Gastredner legte einen ähnlichen Bibeltext aus und beschrieb dabei das Besiedeln von paläs­ti­nen­sischem Gebiet als gott­gewollt und gottgefällig. So zumindest ver­suchte meine Freundin, mir seine Worte zu über­setzen. Nach einiger Zeit stand ein Mann aus der Gemein­de auf und sagte laut: „Es gefällt mir nicht, was du da sagst.“ Ein kleiner Eklat.

Ich glaube deswegen, dass es an dieser Stelle extrem wichtig ist, die Entstehungs­geschichte dieser Texte genauer zu be-leuchten. Sie berichten nämlich nicht einfach historische Tat­sachen: Die sogenannte „Landnahme Israels“ ist nie so ge­schehen, dass das Volk als Ganzes ein­zog und sich breit ge­macht, andere verdrängt oder ver­trieben hat. Dafür gibt es keine archäologi­schen Belege. Vielmehr ist sich die Wissen­schaft inzwischen einig, dass sich die Einwan­derung friedlich und allmäh­lich vollzogen hat. Die kanaanä­ischen Stadtstaaten erlebten damals einen Nieder­gang und in der Folge sickerten nach und nach neue Bevölkerungs­gruppen in diesen Landstrich ein, man­che von ihnen aus Ägyp­ten. Diese Halb­nomaden ver­misch­ten sich schließlich mit der an­sässi­gen Bevöl­kerung.

Die Erzählungen von der vielleicht mühsamen, aber im End­effekt triumphalen Landnahme sind viel später entstanden, nämlich in einer Zeit, in der das Volk gar nicht in diesem Land­strich lebte, sondern von den Babyloniern ins Exil verschleppt worden war. In dieser Situation, in der die Menschen um ihre Identität als Volk Israel rangen, in der sie sich schwach fühlten, in dieser Situation brauchte man ein starkes Narrativ von Israels Recht auf das Heimatland. Und dieser Gründungsmythos wurde immer wieder nacherzählt zur eigenen Vergewisserung, er wurde – auch das lässt sich literarkritisch aufzeigen – ausge­schmückt und vielfach bearbeitet, angepasst z. B. an die Erzäh­lung vom Schilfmeer. Diese Texte haben eine komplizierte Über­­­­lieferungsgeschichte. Sie sind deswegen nicht „falsch“, sie erzählen etwas sehr Wahres. Aber sie erzählen eben mehr von der Traumatisierung derer, die im Exil saßen, als von der Ein­wanderung in einen bestimmten Landstrich. Aus dem Trauma der brutalen Eroberung und Zerstörung von Juda und Jeru­salem und der Deportation der dort lebenden Menschen ist eine Krisenliteratur ent­standen. Gewaltphantasien können dabei eine entlastende Funktion haben. In der Phantasie ist das Volk stark und nimmt sich das Land, aus dem – so die aktuelle Erfahrung – sie gerade vertrieben und verschleppt worden sind.

Zentral dabei ist, dass die Gewalt in Worte, nicht in Taten ge­fasst wird. Sie wird nicht ausgelebt, sie wird Gott überlassen. Die Gewaltphantasie ist dann im Endeffekt Gewaltverzicht. Da­zu passt, dass das Überschreiten des Jordans nicht als Militär­parade beschrieben wird (es hätten ja durchaus auch die Krieger voranziehen können), sondern als eine geistliche Pro­zession. Es sind die Priester, die sich zuerst voller Gottver­trauen in die Fluten wagen. Und sie tragen die Bundeslade vorweg. Darin liegen bekanntlich die 10 Gebote, also auch die Forderung: „Du sollst nicht töten“ oder „Du sollst nicht begehren irgendetwas, was deinem Nächsten gehört“. Das ist das Vor­zeichen, das der Gründungsmythos setzt, als das Volk in das verheißende Land einzieht.

Dieser Text war in seiner Entstehungszeit gedacht als Ermuti­gung und Trost für Menschen, die das dringend brauchten. Er verspricht: „Wir sind nicht schwach, weil Gott mit uns ist!“ Diesen Zuspruch brauchen Menschen, vor allem bei Über­gängen. Und so wird hier ein Übergang inszeniert, der deutlich macht: Gott ist lebendig. Er ist dabei. Und er hat uns Regeln gegeben, die uns helfen einigermaßen trockenen Fußes in einen neuen Lebens­abschnitt zu gelangen, in eine Zukunft, die uns Gott verheißt.

Noch immer ist 2025 jung. Jeder Jahreswechsel ist auch für uns ein Übergang, ein kleiner zumindest. Größere Einschnitte und Transformationen kennen wir alle aus unserem Leben: Da muss man sich schon manchmal die Füße nass machen auf dem Weg zu neuen Ufern. Und dann hoffen wir, dass wir doch einigermaßen heil und sicher über die Abgründe hinweg kommen, durch die Strudel des Lebens hindurch. Wir hoffen darauf, dass verheißungs­volles Land vor uns liegt. Und doch sind wir sicher auch schon ins Straucheln gekommen, hatten das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren oder weggeschwemmt zu werden, uns aufzulösen. Dann gilt auch uns die Zusage: Gott geht mit.

Damit löst sich nicht alles in Wohlgefallen auf. Unsere Jordan­texte heute bleiben so ambivalent wie das Leben, so ambiva­lent wie das Wasser, von dem sie erzählen. Einmal droht das Wasser des Jordans die Menschen zu ersäufen, einmal wird es als Taufwasser zum Zeichen des Lebens. Es sind keine platten Texte, sondern sehr tiefgründige. Und mich überzeugen diese Erzählungen, gerade weil sie die Spannung zwischen Gut und Böse nicht einfach einseitig auflösen – das wäre naiv. Diese Geschichten erzählen nicht nur vom guten Ende, sondern sie lassen das Schreckliche, das Beängstigende, das Gewalttätige nicht aus. Sie nehmen ernst, dass mensch­liche Erfahrungen widersprüchlich sind und bruchstückhaft. Wir sind vielleicht anfällig dafür – im Persönlichen wie im Politischen – Erzäh­lungen zu bevorzugen, die die Wirklichkeit vereinfachen, die eindeutig daherkommen. Aber wir wissen doch eigentlich ganz genau, dass das weltfremd ist und damit auch uns fremd bleiben würde, die wir nun mal in dieser Welt leben.

Ich glaube, wir schaffen Übergänge und Durchzüge nicht ohne nasse Füße, ja manchmal steht uns das Wasser auch bis zum Hals. Oder wir werden dabei mit allen Wassern gewaschen. Aber glücklicherweise wurden wir auch mit dem Taufwasser gewaschen und dürfen Gottes Kinder heißen – trotz unserer ganzen eigenen Ambivalenz. Obwohl wir sicher beides in uns haben, das kampfeslustige Herz, das aus dem Weg räumen will, was sich uns in den Weg stellt, und auch das verzagte und verunsicherte, das sich Sorgen macht.

Auch wir brauchen Erzählungen aus unserer Vergangenheit, die uns Mut machen. Positive Erfahrungen miteinander aus­zutauschen, ist meistens hilfreicher, als ewig zu jammen oder Untergangsszenarien zu wiederholen. Welche Hindernisse haben wir nicht schon miteinander überwunden?

Denn auch vom Miteinander erzählt dieser biblische Jordan­durchzug: Jeder hat seine Rolle: Mose, Josua, die Priester, das Volk. Nur im Zusammenspiel kann der Aufbruch ins neue Gelingen. Gut also, dass wir uns gleich gemeinsam beim Abend­mahl stärken lassen können und das feiern, wovon die Geschichte uns heute morgen erzählt: Vom Miteinander und der Gegenwart Gottes. So können auch wir, dann wenn es nötig wird, alte Sicherheiten loslassen, uns dem stellen, was Bedroh­lich erscheint, und mutige Schritte nach vorne wagen. In diesem Sinne. Auf zu neuen Ufern!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen uns Sinn in Jesus Christus. Amen.