Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Unterm Kreuz

Unterm Kreuz

Predigt an Karfreitag
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

Karfreitag, 18. April 2025

Predigt zu Johannes 19, 16–30

Predigttext: Johannes 19, 16–30

Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, 17 und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. 18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. 19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. 20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. 21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König. 22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. 23 Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. 24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten. 25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. 26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! 27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. 28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. 29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund. 30 Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott!

„Ich will hier bei dir stehen,
verachte mich doch nicht;
von dir will ich nicht gehen,
wenn dir dein Herze bricht …“
(EG 85, 6)

Diese Worte aus dem Choral, den wir eben gesungen haben, die manchen unter uns vor allem aus Bachs Matthäus-Passion vertraut sind – diese Worte stellen uns mit unter das Kreuz. Unter oder neben den Gekreuzigten, wo sich nach der Erzählung des Johannes-Evangeliums ein Kraftfeld unterschiedlichster Energien entfaltet.

Die Aufschrift des wankelmütigen, unentschlossenen Präfekten Pilatus, der halb spöttisch, halb ehrfürchtig in allen drei damaligen Weltsprachen schreiben lässt: „Jesus von Nazareth, König der Juden“ (V. 19). In ihrer Zwiespältigkeit steht die Tafel wie eine Überschrift über den widerstreitenden Energien, die unter Jesu Kreuz laut werden:

Der Widerspruch und die Rechthaberei der Hohenpriester, die fordern: „Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König.“ (V. 21) Der Streit, der Ärger und die Wut, die sich an Jesus entzündet haben schon zu Lebzeiten und sich an ihm austoben bis zu seinen letzten Atemzügen.

Die Gier der Soldaten, das Haben-Wollen: Wie Tiere zerren sie seine Kleidung auseinander, reißen an sich, was sie nur kriegen können. Bloß den Umhang, den „Rock“, der in einem Stück gewebt ist, rühren sie nicht an. Als dämmerte ihnen, wie sie da unter dem Sterbenden handeln …

Die Erstarrung der vier Frauen: Von Jesu Mutter und ihrer Schwester, von Maria, der Frau des Klopas, und Maria Magdalena – von keiner der Frauen unter dem Kreuz ist uns auch nur ein Wort überliefert. Als hätte Jesu Qual, seine Folter ihnen die Sprache verschlagen. Stumm und starr vor Entsetzen mögen sie sich kaum auf den Beinen gehalten haben.

Verstummt ist auch Johannes. Auch Jesu liebster Freund sagt nichts. Er wird wie Maria zum Gekreuzigten hochgeblickt haben, als dieser sie anspricht: „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ Und: „Siehe, das ist deine Mutter!“ Kaum vorstellbar, dass die beiden gleich verstanden, was Jesus ihnen da sagte. Und doch heißt es: „Von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ (V. 26f)

An unterschiedliche Plätze schickt uns das Johannes-Evangelium, bietet uns verschiedene Identifikationsmöglichkeiten an, eröffnet uns unterschiedliche Perspektiven auf das Kreuz und zugleich auf uns selbst und unser Leben.

Erkennen mögen wir in dieser aufgewühlten Szene unter dem Kreuz unsere eigene Wankelmütigkeit oder unser Nicht-Verstehen, wenn wir manchmal gar nicht begreifen, welche Momente der Fülle, welche Begegnungen oder Erlebnisse uns im Alltag geschenkt werden … Erkennen mögen wir unser Rechthaben-Wollen, unsere Ich-Bezogenheit und den Wunsch, uns möglichst oft gegen andere durchzusetzen …. Vielleicht fühlen wir auch unsere Gier, unsere Lust zu besitzen, zu kaufen, zu essen … Und wir sehen vielleicht auch unsere Erstarrung und Stummheit, wo es eher dran wäre, dass wir in Bewegung kommen und den Mund aufmachen, klagen oder kämpfen.

Beides – unser Mittun am Leid von anderen, ob aktiv oder passiv, wie auch unser Mitleid, unsere Liebe und Verbundenheit mit anderen – findet seinen Platz in uns unterm Kreuz.

Und unwillkürlich mögen uns dabei auch die Menschen in den Blick kommen, mit denen wir heute verbunden sind: die, an deren Hunger wir Mitschuld tragen, mit denen wir nicht teilen, die wir lieber vergessen wollen. Oder auch die, die uns herausfordern, deren Nähe wir kaum ertragen können. Und ebenso auch die, deren Leiden und Sterben wir begleiten mussten oder müssen, und es zerreißt uns das Herz.

Schuld, Schmerz, Wut und Liebe – so viel, was uns unter oder im Angesicht des Kreuzes treffen kann …

„Erkenne mich, mein Hüter,
mein Hirte, nimm mich an …“
(EG 85, 5)

Der große Lieddichter Paul Gerhardt fasst hier in Worte die widerstreitenden Empfindungen und Erfahrungen, die wir kaum in uns zusammenhalten können. Sodass wir das Gegenüber Jesus Christus, den Hüter und Hirten, den Bruder und Geliebten brauchen, der das teilt und versteht, was wir allein nicht tragen oder an uns selbst nicht ertragen können.

Manche von Ihnen und euch mögen das Kreuz von San Damiano kennen, das sog. Franziskus-Kreuz, das den Heiligen Franz von Assisi um 1200 zu seiner radikalen Jesus-Nachfolge inspiriert hat. Bis heute ist das etwa zwei Meter hohe, bemalte Holzkreuz, das einer Ikone ähnelt, in der Basilica Santa Chiara in Assisi zu sehen. Es zeigt den aufrechten Gekreuzigten mit dunklen, offenen Augen und weit ausgebreiteten Armen. Zu allen Seiten ist er von Menschen umgeben: Die Heiligen und Patrone von Umbrien stützen seine Füße. Ihm zu Seiten stehen ernst Maria und Johannes sowie zwei weitere Marien und der römische Beamte mit seinem Kind, das Jesus heilte. Engel unterhalten sich fröhlich unter Jesu Armen. Frauen empfangen lächelnd etwas aus seinen geöffneten Händen …

Wer sich nicht in die Nähe des Gekreuzigten begibt – so die Aussage dieser Kreuzesdarstellung – der oder die wird nicht erfahren, was er zu geben hat.

Denn in der Nähe zum Gekreuzigten, zum Geliebten, in seinem Kreuz liegt der Anfang zur Veränderung, der Keim des Neuen. Durch das Kreuz, den Schmerz, durch Erstarrung und Entsetzen muss hindurch, wer Anteil am neuen Leben bekommen will. Diesen Weg gehen wir aber nicht allein, sondern mit Jesus Christus. Darin liegt das Geheimnis Gottes, dafür steht das Kreuz – so verstehe ich es.

So wir erkennen, wie wir unter dem Kreuz stehen und wie der Weg durch das Kreuz mit Jesus Christus führt, so ist uns der Ostermorgen, so ist uns neues, anderes Leben verheißen.

Dessen Vorzeichen und Spuren der Evangelist Johannes schon in der Kreuzigungsszene anlegt:

Die Aufschrift des Pilatus, der nur halb-bewusst den neuen König in allen Weltsprachen verkünden lässt. Den universalen König, der für Gewalt- und Besitzverzicht steht, für Sanftmut und Barmherzigkeit. Den König der Herzen, der uns die Tür zu Gottes Reich aufstößt.

Die Zurückhaltung der Soldaten, die das in einem Stück gewebte Tuch nicht anrühren. Das Kleid, das Bild oder die Botschaft Jesu bleibt ungeteilt, unzerstört. Man kann davon nicht nur einzelne Teile nehmen. Es ist eine Botschaft und ein Weg, auf den Jesus uns ruft.

Die Gemeinschaft der vier Frauen, die zusammenhalten. Sie wissen: Allein ist die Botschaft des Kreuzes nicht zu fassen; allein ist Nachfolge nicht möglich. Immer hat Jesus Gemeinschaften gebildet und Menschen versöhnt. Selbst seine Jünger sendet er wenigstens paarweise, zu zweit aus.

Der Auftrag an Maria und an Johannes, sich gegenseitig wie einen Sohn, wie eine Mutter anzunehmen. Familie, die Jesus jenseits von biologischer Zugehörigkeit stiftet. Familie, die durch Verantwortung und Verbundenheit entsteht, und manchmal auch durch Verletzung und Trauer.

All diese Sätze und Zeichen unter dem Kreuz – sie deuten an, wohin der Weg durch das Kreuz einmal führen wird … Was denen verheißen ist, die sich Leid und Schuld stellen, die Liebe und Schmerz fühlen. Und die sich auf den Kreuzwegen in ihrem Leben und in unserer Zeit und Welt Jesus Christus anvertrauen.

„Ich will hier bei dir stehen,
verachte mich doch nicht …“,
heißt es im Choral.

Und wir mögen diese Worte heute aufnehmen und in unserem Leben weiterschreiben:

Bei dir wollen wir stehen, von dir nicht gehen.
Bei dir wollen wir bleiben im Leben und im Sterben,
bis einmal dein neuer großer Tag anbricht
und wir dich sehen von Angesicht zu Angesicht.
Amen.