Wachet auf, ruft uns dei Stimme
Gottesdienst am 31. Dezember 2024
Bibeltext:
Da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.« (Matthäus 2, 13b–15)
Buxtehude-Kantate:
»Wachet auf«, ruft uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der Zinne, »wach auf, du Stadt Jerusalem!
Mitternacht heißt diese Stunde«; sie rufen uns mit hellem Munde: »Wo seid ihr klugen Jungfrauen?
Wohlauf, der Bräut’gam kommt, steht auf, die Lampen nehmt! Halleluja!
Macht euch bereit zu der Hochzeit, ihr müsset ihm entgegengehn!«
Zion hört die Wächter singen, das Herz tut ihr vor Freude springen, sie wachet und steht eilend auf.
Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig, von Gnaden stark, von Wahrheit mächtig, ihr Licht wird hell, ihr Stern geht auf.
Nun komm, du werte Kron, Herr Jesu, Gottes Sohn! Hosianna!
Wir folgen all zum Freudensaal und halten mit das Abendmahl.
Gloria sei dir gesungen mit Menschen- und mit Engelzungen, mit Harfen und mit Zimbeln schön. Von zwölf Perlen sind die Tore an deiner Stadt; wir stehn im Chore der Engel hoch um deinen Thron.
Kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat mehr gehört solche Freude.
Des jauchzen wir und singen dir das Halleluja für und für.
Predigt:
Liebe Gemeinde,
es sind schon ein paar Tage seit Weihnachten vergangen, seit der Geburt Jesu im Stall. Maria und Josef sind noch immer in Bethlehem. Inzwischen sind sie vermutlich registriert, so wie Augustus das will, und zwar als kleine Familie mit dem ersten Nachwuchs. Vermutlich war die Heimreise für die frisch Entbundene noch zu anstrengend. An diesem Tag ist es draußen schon dunkel geworden, die jungen Eltern sind erschöpft eingeschlafen. Und dann flüstert es in Josefs Traum: „Wache auf! flüstert der Engel. „Stehe auf! Und flieh! Denn da ist jemand, der versuchen wird, dein Kind umzubringen.“ Das ist kein Traum, das ist ein Albtraum!
Josef hätte den Spuk abschütteln, sich umdrehen und weiterschlafen können. Aber er nimmt die nächtliche Stimme ernst. Er kennt das ja schon, dass ein Engel im Traum auftaucht und ihm sagt, wo’s langgeht. Josef scheint nicht zu zögern. „Steh auf!“ und er stand auf. „Nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten“ – Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten.
Flucht muss meistens schnell gehen. Flucht, das heißt: Alle Lebenspläne ändern. Nicht zurück nach Nazareth, zurück in die vertraute Umgebung, zu Arbeit, Familie, Haus und Heimat. Sondern Flucht in ein fremdes Land, in eine ungewisse Zukunft. Aus einem Zimmermann wird ein Flüchtling. Zum Glück musste Josef in Ägypten keinen Asylantrag stellen. Wie hätte er die Bedrohungslage dokumentieren, wie die Stimme des Engels nachweisen sollen?
Josef, der in der Weihnachtsgeschichte ja häufig eine Randfigur ist, hier hat er seinen großen Auftritt: Er rettet Jesus das Leben. Er rettet den Retter der Welt. Woher weiß Josef eigentlich in dieser Nacht, dass es nicht nur sein ängstliches Vaterherz ist, dass das Kind bedroht sieht. Wie erkennt er Gottes Stimme? Woher nimmt er den Mut für diese rasche Entscheidung, woher die Kraft für den Weg? Matthäus beschreibt Josef als gottesfürchtig. Vielleicht ist es genau das, was der Begriff „gottesfürchtig“ meint: die Gottes Stimme erkennen und ihr vertrauen.
Josefs Gegenspieler Herodes hat sicher auch viele, die ihm etwas einflüstern. Vielleicht flüstern seine Berater: „Wach auf! Wach auf! Hast du nicht gehört, was die Weisen aus dem Morgenland gesagt haben? Da wird ein neuer Herrscher groß. Du musst handeln! Das darfst du nicht verschlafen.“ Und Herodes hat kein Gottvertrauen, offensichtlich auch kein Vertrauen in sich und seine Stärke. Er hat Angst vor der Konkurrenz – die ja gerade mal in den Windeln liegt. Aber wer den Aufstand im Keim ersticken will, der fängt wohl am besten gleich bei den unschuldigen Kindern an.
„Wach auf!“
so hallen die Stimmen in dieser Geschichte und an diesem Abend. „Wachet auf, ruft uns die Stimme, des Wächters sehr hoch auf der Zinne.“ – so hat uns der Chor den Weckruf zugesungen.
Jahreswechsel – das ist ein Moment zum Aufwachen, zum bewussten Innehalten. Wir schauen zurück und nach vorne, wir ziehen Bilanz und machen Pläne, wir betrauern Verpasstes und erträumen Neues.
Was war in diesem Jahr? Wie mag Ihre Bilanz wohl aussehen? Vielleicht: Zwei Menschen zu Grabe getragen und einen neu im Leben gegrüßt. An einem Autounfall gerade so vorbeigeschrammt, dafür eine Woche mit Fieber im Bett gelegen. Einen Berggipfel erklommen und bei einer Bewerbung gescheitert. Ein neues Lieblingsbuch entdeckt, zwei Telefonnummern aus dem Verzeichnis gelöscht. Im Kino gelacht, im Theater gestaunt, im Bett geweint, in der Kirche zur Ruhe gekommen.
Auf welche Stimmen haben wir gehört? Kindergekreisch auf dem Spielplatz, Nachrichtensprecher mit Wahlergebnissen, Liebeserklärungen; Vorwürfe, Drohungen, Zuspruch? Wer hat uns etwas eingeflüstert und was hat uns wachgerüttelt?
Und wenn wir in die Zukunft blicken, fragen wir: Was kommt auf uns zu? Was wollen wir nicht verpassen?Eine Reise ist vielleicht schon gebucht, eine Freundin hat sich zum Besuch angesagt. Diverse Wahlzettel warten auf unser Kreuzchen. Das Buch, das ich schon immer lesen wollte, liegt oben auf dem Stapel. Der Kloß, der mir schon lange im Hals steckt, soll endlich ausgesprochen werden. Die Entschuldigung angenommen werden oder erbeten. Das Projekt in Angriff genommen oder beerdigt. Wie viele Termine stehen schon in Ihrem Kalender, welche stehen Ihnen bevor, auf wie viele davon freuen Sie sich?
Was wir sicher alle wollen, ist diese neuen 365 Tage bewusst leben. Und das bedeutet aufmerksam, wachsam. Das Wesentliche nicht verpassen. Davon singt das Lied „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Geschrieben hat es Philipp Nicolai, Pastor an der Hauptkirche St. Katharinen, im letzten Jahr des 16. Jh. und es war so beliebt, dass es häufig umgedichtet wurde, aktualisiert und neu vertont – auch von Buxtehude.
„Wachet auf!“
der Ruf geht an die Jungfrauen, die auf den Bräutigam warten. Die einen sind wachsam, die anderen trifft sein Kommen unvorbereitet. Das Gleichnis aus dem Matthäusevangelium mahnt, dass es ein „Zu spät“ geben könnte. Chance verpasst, eine Tür schließt sich unwiderruflich. Vielleicht denken wir auch an solche Erfahrungen, wenn wir zurückblicken.
Das Lied allerdings, das uns heute zum Jahreswechsel gesungen wird, trauert nicht den verpassten Chancen nach. Die törichten Jungfrauen sind hier gar nicht das Thema, sondern die klugen, deren Lampen brennen, die mit dem Bräutigam Hochzeit feiern. Die zweite Strophe erzählt vom Freudenmahl, zu dem wir alle von Gott eingeladen sind. Der Dichter will nicht verschrecken mit seinem „Wachet auf!“ Es ist kein Alarm, der warnt, dass Bedrohliches auf uns zukommt, sondern sein Weckruf lockt uns – lockt uns mit dem, was uns in Zukunft Freude schenken kann. Dabei greift er ziemlich weit hinaus in die Zukunft, besingt das himmlische Jerusalem mit seinen perlengeschmückten Toren.
Noch aber befinden wir uns ja hier auf dem Asphalt oder im Staub, auf den Wegen von Harvestehude oder von Bethlehem. Noch ist der Weckruf nicht nur ein Freudenruf, sondern auch – wie bei Josef – ein Warnsignal. Wir lauschen ja nicht nur dem himmlischen Gloria, gesungen mit Menschen- und mit Engelzungen. Für uns mischen sich die Engelszungen oft mit sehr menschlichem Machtgeschrei à la Herodes. Und ich frage mich manchmal: Könnte der Engel nicht ein bisschen lauter sprechen, als nur so traumhaft verschwommen? Könnte Gott seine Botschaft nicht deutlicher machen, vielleicht auch mal ein Machtwort ergreifen und einen Herodes in die Schranken weisen? Lieber den Despoten als zahllose unschuldige Kinder sterben lassen? Damals und heute?
Aber Gott schreit und tötet nicht, er flüstert und flieht. Weihnachten stellt unser Gottesbild immer wieder auf den Kopf. Nicht König, sondern Kind.
Und Weihnachten fragt auch unser Menschenbild an: Herodes und Joseph. Der eine schreit, der andere lauscht dem Flüstern. Von beiden haben wir ja etwas in uns. Immer wieder bin ich verstrickt in die Angst, jemand könnte mir meine Position streitig machen, mein kleines Königreich. Wo ich doch eigentlich Recht habe und der andere das nur nicht begreift. Aber glücklicherweise gibt der Engel nicht auf. Und glücklicherweise steckt auch etwas von Joseph in uns. Auch wir können den Engel hören – besonders gut, wenn wir leise lauschen. Auch wir können über uns hinauswachsen, das Wohl der anderen über unsere Angst stellen und der Stimme vertrauen, die uns auf neue Wege schickt, vielleicht ins Ungewisse. Aber nur so wird das Kind – in uns – überleben.
Wachet auf!
ruft uns heute Abend die Stimme! Wach auf! Und frage dich, von wem du dir was einflüstern lässt. Welche Stimmen sind laut in uns, wenn es ruhig wird. Die unsicheren, die meinen, dass wir zu kurz kommen. Die besorgten, die befürchten, dass alles nur schlechter werden könnte. Die fürsorglichen, die auf andere und deren Nöte blicken. Die zuversichtlichen, die auf das Beste hoffen. Die freudigen, die mit Neugier nach vorne schauen.
Vielleicht war und ist das Lied von Philipp Nicolai so beliebt, weil es den gottesfürchtigen Anteilen in uns eine Stimme verleiht. Den Anteilen in uns, die – wie Josef – Gottes Stimme erkennen und ihr vertrauen. Die darum wissen, dass Gott kommt wie der Bräutigam, dass er schon längst da ist mitten in dieser Welt. Vor diesem offenen, himmlischen Horizont, den das Lied für uns ausgemalt, können sich heute Abend die ängstlichen und besorgten Stimmen beruhigen. Denn Gott wacht über uns und wird uns auf den noch ungewissen Wegen des neuen Jahres behüten. Amen.