Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Was gut ist

Was gut ist

Gottesdienst am 27. Oktober
Pastorin

Andrea Busse

Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zu Micha 6, 1–8

Predigttext: Micha 6, 1-8

Hört doch, was der HERR sagt: »Mach dich auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen, auf dass die Hügel deine Stimme hören!« 2 Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des HERRN, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der HERR will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen! 3 »Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir! 4 Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam. 5 Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit du erkennst, wie der HERR dir alles Gute getan hat.« 6 »Womit soll ich mich dem HERRN nahen, mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen, mit einjährigen Kälbern? 7 Wird wohl der HERR Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?« 8 Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. 

 

Predigt:

Der Prophet Micha nimmt uns heute mit hinein in eine Gerichts­verhandlung. Niemand Geringes als Gott selbst zerrt Israel, sein auserwähltes Volk, vor den Richterstuhl. Es ist ein Ver­fahren von kosmischem Ausmaß, wenn die Berge und Hügel als Zeugen angerufen werden. Die Anklageschrift ist deutlich länger als das, was wir in den wenigen Versen des Predigt­textes zu hören kriegen. Im ganzen Micha-Buch finden wir die göttlichen Vorwürfe und die Beweis­führung gegen sein Volk: Gott klagt – durch die Worte seines Propheten – soziale und religiöse Missstände an. Ganz konkret geht es zum einen um Bodenrecht: Großgrundbesitzer beuten die Klein­bauern aus und bringen sie um ihr gottgegebenes Erbteil an Land, indem sie es schaffen, sich deren Äcker und Häuser unter den Nagel zu reißen. Diese Enteignung durch die Ober­schicht funktioniert zwar mit juristisch einwandfreien Mittel, aber deswegen ist es noch lange nicht rechtens. Auch scheinheilige Propheten und gewinnsüchtige Priester klagt der Prophet in Gottes Namen an. Diese suhlen sich in falscher Selbstsicherheit, wenn sie sagen: „Gott ist auf dem Zion, er ist in unserer Mitte, uns kann nichts passieren!“ O doch, sagt Gott, und lässt Micha verkünden: „Jerusalem wird zum Trümmerhaufen und der Tempelberg von Wald überwuchert.“ (Micha 3,12). Es geschehen zu viele Rechtsbrüche im Alltag – so die Anklage weiter, die Kleinbauern und auch Bürger werden durch den Staat und seinen bürokratischen Apparat unter­drückt, um dessen Unterhalt zu sichern. Verantwortlich für diese Misslage ist die geistliche und weltliche Elite: die Fürsten und Propheten, die doch das Recht kennen sollten.

 

So beklagt sich Gott über die Zustände in Israel, so klagt er sein Volk an und klingt dabei wie ein beleidigter Liebhaber, der hintergangen wurde, oder wie eine gekränkte Mutter, deren Kind ungezogen ist: „Was habe ich dir eigentlich getan“, fragt er, „dass du dich so aufführst?“ Ich muss gestehen, ich ertappe mich manchmal bei ähnlichen Gedanken. Wenn ich die Wahlergebnisse in unserem Land sehe, dann denke ich: „Was hat man euch eigentlich getan?“ Wieso wählen so viele Menschen immer weiter rechts? Wieso werden Paro­len, die Menschen wegen ihrer Herkunft oder sexuellen Orientierung diskriminieren, stolz auf den Social Media Accounts geteilt? Wieso pöbeln sich die Leute auf der Straße oder in den S-Bahnen an, statt sich normal und respekt­voll zu begegnen, auch wenn es mal enger wird? Woher kommt diese Verrohung? Dieses Driften an die Ränder? Und ich höre: Wieso kriegen „die da oben“ das nicht besser hin? Wieso streiten die nur rum, statt effektive politische Ent­schei­­dungen zu treffen und umzusetzen? Wieso schützen uns unsere Politiker:innen nicht besser, wieso können die Wirt­schafts­­bosse nicht den allgemeinen Wohlstand wahren, statt sich fette Boni auszuzahlen.

Klage und Anklage. Solche Töne sind auch bei uns zu hören, es ist leicht, darin einzustimmen. Klage und Anklage passen gut in unsere multiblen Krisen: Klimakrise, Demokratiekrise, Infla­tion, Kriegstreiben. Mir ist auch oft nach Klagen. Beklagen möchte ich den Verlust an Mitmen­schlichkeit, Fried­fer­­tig­keit, Zu­sammengehörig­keits­gefühl. Problembewusstsein scheint es also genug zu geben. Gibt es auch Schuldbewusstsein? Bei mir, bei uns? Oder Über­legun­gen, was man selbst beisteuern könnte zu einem Umdenken, Umlenken? Und sei es ganz klein?

Schalten wir zurück zu der Gerichtsverhandlung, die Gott einbe­rufen hat. Ziel einer solchen Verhandlung ist ja nicht einfach anzuklagen, also endlich einmal Dampf abzulassen, der eige­nen Kränkung Raum und Worte zu geben, ein Ventil. Das könnte man mit Freunden bei einem Glas Wein oder in einer Therapiesitzung. Ziel einer Gerichtsverhandlung ist es, Recht wiederherzustellen. Es geht hier um Schuld und Schuldein­geständnis, um Wiedergutmachung und auch um Vergebung. Damit eben hinterher Gerechtigkeit herrschen kann.
Nachdem die Anklageschrift verlesen ist, meldet sich in un­serem Szenario der Beklagte zu Wort. Israel verteidigt sich gar nicht erst. Das Volk scheint um seine Vergehen zu wissen. Schuldbewusst fragt es den Ankläger Gott: „Wie kann ich das wieder gut machen?“ Die Vorschläge, die dann folgen, sind in der damaligen Zeit, besser im damaligen Kult verhaftet. Könnte man Gottes Zorn vielleicht beruhigen mit Brandopfern von ein­jährigen Kälbern? Oder vielleicht mit vielen Tausend Widdern? Oder unzähligen Strömen von Öl? „Oder soll ich meinen Erstgeborenen für meine Über­tretungen geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?“ Menschenopfer gab es im jüdischen Kult nicht, man hat sie bei den Nachbar­völkern vermutet. Diese übertriebene Steigerung unterstreicht das Schuldbewusstsein. Und gleichzeitig die Un­mög­lichkeit, das alles wieder auszugleichen.

Manche Schuld scheint so schwer, dass sie nicht wieder­gutzu­machen ist. Das betrifft Einzelne und Völker. Wie soll man Menschen, die emotional oder sexuell missbraucht worden sind und ihr ganzes Leben lang mit den Folgen kämpfen, wie soll man denen Gerechtigkeit zukommen lassen? Wie kann man die Verbrechen in Diktaturen, in autoritären Saaten, wie kann man Genozide rechtlich, moralisch oder auch religiös aufarbeiten? Und doch muss man es versuchen und versucht man es mit Wahrheitskommissionen, mit internationalen Gerichtshöfen, auch mit Zahlungen, die helfen und doch nur sehr begrenzt heilen können.

Ein erster Schritt bei jeder Aufarbeitung ist die Anklage: Das Vergehen wird benannt, die Opfer werden sichtbar. Schuld wird im besten Fall eingestanden. So zumindest hier im Fall von Israel. Und dann machen die Schuldigen ihr Angebot: Sie wollen ein Opfer bringen. Gott ein Opfer bringen. Ein Brand­opfer schlachten. Davon hat der Kleinbauer nichts, der seines Landes beraubt wurde. Und nicht die Witwe, die unversorgt blieb.

Während die Antwort des Volkes ganz vom damaligen Ritus geprägt ist, kommt Gottes Reaktion modern daher. So modern, dass das einer der Micha-Verse ist, der heute immer wieder gerne zitiert wird:

„Es ist dir gesagt Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: Nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“

Auf gut deutsch: Halte dich an das Recht, sei menschlich zu deinen Mitmenschen und bleibe in Verbindung mit Gott. Dass diese drei Aspekte – nach bestimmten Werten zu leben, seine Mitmenschen zu achten und sich ins rechte Verhältnis zu Gott setzen, dass das zu einem guten, erfüllenden, ja vielleicht gerechten Leben führen kann, das spüren Menschen, selbst wenn sie sich für nicht besonders gläubig halten. Eigentlich fällt diese Antwort in fast jedem Taufgespräch, wenn ich die Eltern frage, warum sie ihr Kind taufen lassen wollen. Sie wollen, dass ihr Kind sein Leben nach christlichen Werten ausrichten lernt, die hilfreich sind für alle und die garantieren, dass das Zu­sam­menleben mit anderen gelingt. Sie wollen, dass ihr Kind be­ziehungsfähig wird, also liebenswürdig und -fähig. Und sie haben ein Gespür dafür, dass es dazu einen weiteren Horizont braucht, einen anderen Maßstab, eine andere Größe, zu der sie sich in Beziehung setzen. „Demütig sein vor Gott“, könnte man das nennen. Sich eben selbst als einen Teil empfinden und nicht als das Ganze, nicht als der Mittelpunkt der Welt, sonst kann man eigent­lich nur enttäuscht werden und muss im Leben scheitern. Es ist dir gesagt, was gut ist. Micha bringt es hier auf den Punkt.

 

Wenn das nur so einfach wäre! Dann würde diese Welt anders aussehen. Wir Menschen tun uns offensichtlich immer wieder schwer damit, das zu tun, was gut ist. Was für alle gut ist. Und wer durch Anklagen in die Enge getrieben wird, wer zer–knirscht seine Schuld eingestehen muss, dem oder der fällt es oft erst recht schwer, sich wieder am ethischen Kompass aus­zurichten. Da ist man ja erstmal mit Gesichtswahrung be­schäf­tigt. Gott tritt in diesem Gerichtssaal deswegen nicht nur als Ankläger auf. An manchen Stellen klingt er eher wie ein Be­währungshelfer. Er macht sein Volk nicht einfach nur nieder, er will es nicht beschämen, sondern wieder auf den rechten Weg führen. Deswegen erinnert er Israel daran – ZITAT „wie der Herr dir alles Gute getan hat.“

Und Gott beschwört die Bilder aus der Vergangenheit:
Er erinnert an den Exodus, daran, wie er Israel aus der Unter­drückung in Ägypten geholt hat, wie er sein Volk durch die Wüste begleitet hat. Wie er sie vor den bösen Plänen des Moabiterkönigs Balak und des Sehers Bileam geschützt hat. Wie er sie von Schittim bis Gilgal durch den Jordan in das ver­heißene Land geführt hat. Erinnere dich doch! sagt Gott. Er aktualisiert das „Es war einmal!“ Es geht dabei um ein „Er­halten“ im zweifachen Wortsinn: Die gemeinsame Weg­geschichte soll erhalten werden und nicht im Vergessen verschwinden. Und damit „erhält“ im Sinne von „empfängt“ das Volk eine Vision für den Weg in Gegenwart und Zukunft. Das Gedenken vergegen­wärtigt also die Vergangenheit und kann dadurch die Gegenwart verändern. Auch für uns.

 

Ja, vor uns liegen viele Krisen, aber hinter uns liegen viele Exodusse. Krisen, die wir schon bewältigt haben als Volk, als Gesellschaft, als Kirchengemeinde, als Familie, als Einzelne. Erinnern wir uns daran, wenn die Klagen und Anklagen zu raum­­greifend werden. Erinnern wir uns daran und gewinnen wir dadurch eine Perspektive für die Zukunft. Der Gerichtssaal ist nicht die Endstation. Ja, wenn es gerecht zugehen soll, muss Unrecht benannt, muss Schuld bekannt werden – auch die eigene. Aber dann steht Gott an unserer Seite und traut uns zu, dass wir das tun können, was gut ist.

Die christliche Verheißung mal uns Bilder, wie unser Zu­sammenleben, wie diese Erde, wie diese Gesellschaft möglich wären, und gibt uns die Hoffnung, dass wir darauf zugehen können. Wir erwarten die Erlösung und wir gestalten sie tat­kräftig mit. Dann wenn wir tun, was uns gesagt ist und was Gott von uns fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor unserem Gott. Amen.