Was kommt auf uns zu?
Gottesdienst am 1. Dezember 2024
Predigttext:
Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt. Und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen. Das geschah aber, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.« Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das ihm voranging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und sprach: Wer ist der? Das Volk aber sprach: Das ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa.
Predigt:
Was kommt auf uns zu?
Heute mit dem 1. Advent beginnt das neue Kirchenjahr und 2025 lässt auch nicht mehr lange auf sich warten. Der Jahreswechsel, sei er nun kirchlich oder kalendarisch, ist immer ein Anlass, um auch in die Zukunft zu blicken: „Was kommt auf uns zu?“ So habe ich diesen Gottesdienst überschrieben.
Was kommt also auf uns zu?
Hier bei uns in Deutschland kommt eine Wahl auf uns zu, schneller als ursprünglich gedacht. Und vermutlich wird es schwierig, Mehrheiten in der Mitte zu finden, Parteien, die miteinander arbeiten und Kompromisse konstruktiv ausloten können. Es werden wohl starke Gruppierungen an den Rändern auf uns zukommen, die spiegeln, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt.
Was kommt auf uns zu, wenn wir über unseren Tellerrand hinausschauen? Ein viertes Kriegsjahr in der Ukraine? Oder ein Diktatfrieden, weil die USA keine Waffen mehr liefern? Was wird im Nahen Osten geschehen? Hält die Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah? Verschärft sich humanitäre Katastrophe im Gazastreifen weiter? Und verfestigen sich hier bei uns als Reaktion darauf die unversöhnlichen Lager derer, die ihre Solidarität mit den Palästinensern bekunden und derer, die Israels Sicherheit als deutsche Staatsräson betonen? Kommen noch mehr antisemitische Vorfälle auf uns zu? Und dann kommt natürlich Trump, der neue, alte Präsident in den USA, dessen Pläne viele in Deutschland, viele in Europa sehr kritisch sehen. Halten damit neue Machtverhältnisse Einzug? Die Amerikaner sind auf jeden Fall gespalten: Die einen bejubeln Trump als Heilsbringer, die anderen sind entsetzt.
Vielleicht kommt auf vielen Ebenen eben das genau auf uns zu: dass Meinungen noch weiter auseinanderdriften und sich damit auch Menschen immer unversöhnlicher gegenüberstehen.
Eine ähnlich polarisierte Szene haben wir gerade in der biblischen Lesung gehört: Jesus zieht in Jerusalem ein und die einen rollen ihm den roten Teppich aus, für die anderen ist er eher ein rotes Tuch. Das Volk, so heißt es, jubelt ihm zu. Die Stadt Jerusalem aber regt sich auf. Stadtbevölkerung gegen Landbevölkerung – dass da die Meinungen und Einschätzungen, auch die Wünsche, was die Zukunft angeht, oft auseinandergehen, ist noch heute so. Es ist auf jeden Fall eine spannungsgeladene Szene, von der Matthäus berichtet. Da sind auf der einen Seite die ganzen Pilger, die mit Jesus nach Jerusalem kommen, die ihm voraus- und hinterherlaufen. Die ihn schon erlebt haben und das, was er sagt und tut. Die ihre Hoffnung auf ihn setzen. Die ihm zujubeln, haben sicher konkrete Vorstellungen davon, was auf sie zukommt bzw. zukommen sollte mit diesem Jesus.
„Hosianna, dem Sohn Davids“ rufen sie und stellen damit ihre Erwartung klar, dass Jesus ein Herrscher werde wie David – einer, der Israel wieder groß macht und ein Friedensreich begründet. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass erstmal die Feinde, in diesem Fall die Fremdherrschaft der Römer, militärisch beseitigt werden. Auch König David hat schließlich Kriege geführt.
Und auf der anderen Seite die Jerusalemer. Sie hören diese Rufe, sehen die Menschenmenge auf ihren Straßen und sie sind – ja im wahrsten Sinne des Wortes erschüttert. Im Griechischen steht da „eseisthä“ – da steckt das Wort Seismograf drin. Es geht also um ein Erdbeben, was da ausgelöst werden könnte.
Wenn wir uns die Szene vor Augen führen, wie Jesus in Jerusalem einzieht, dann könnte das aussehen wie eine Demo und eine Gegendemo. Damals wedelte man mit Palmen, heute würde man wohl Plakate hochalten. Und ich bezweifle, dass Jesus mit allem einverstanden wäre, was da so an Forderungen oder Wünschen in der Luft schweben würde.
Wer oder was kommt da also auf Jerusalem zu? Das wird mit einem Satz beschrieben, mit einem Zitat:
„Dein König kommt zu dir.“
Aber weil man sich einen König eher hoch zu Ross vorstellt, eben als einen der das Volk, das Land „great again“ macht, damit man das also gar nicht erst missverstehen kann – was natürlich trotzdem passiert ist – im Versuch also, dieses Missverständnis zu vermeiden, wird nur ein einziges Wort benutzt, um zu beschreiben, wie dieser König kommt: sanftmütig. (Man stelle sich ein Wahlprogramm vor, bei dem für einen „sanftmütigen“ Kanzlerkandidaten geworben wird!)
Und weil Bilder meistens eindrücklicher wirken als Worte, wird die „Sanftmut“ inszeniert mit dieser ganzen Eselsgeschichte. Da gibt es ja diesen auffällig langen Vorspann zum eigentlichen Einzug: Die Jünger werden noch vor der Hauptstadt losgeschickt in ein Dorf, wo sie einen Esel für Jesus besorgen sollen. Die möglichen Einwände des Eselbesitzers werden vorweggenommen und schließlich ziemlich redundant geschildert, dass das genauso so klappt. Und das alles „auf dass erfüllt würde“, was beim Propheten Sacharja steht. Wir haben es vorhin gerade in der Lesung gehört.
Das Prophetenwort schärft den Blick für das, was auf uns, was auf das Volk damals, was auf Jerusalem zukommt. Die Menschen haben sich ja damals, wie wir heute gefragt: Wie geht das alles weiter? Womit müssen wir rechnen? Was wünschen wir uns? Sie steckten in ihren persönlichen und politischen Krisen wie wir heute. Sie erlebten die Fremdherrschaft der Römer und sehnten sich nach etwas anderem. Was das andere sein sollte, davon gab es, wie gesagt, sehr unterschiedliche Vorstellungen. Die Menschen standen an dieser „Straße der Sehnsucht“* und warteten auf das, was kommt. Und ja, vermutlich hoffte die Mehrheit auf einen starken König, hoch zu Ross. Vermutlich hätten sie einen Wanderprediger aus Nazareth auf einem Esel schlichtweg übersehen – hätte nicht der Prophet ihren Blick dafür geschärft:
„Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel“.
Der Esel ist das störrischste der Lastentiere. Er geht unbeirrt die Richtung, in die er gehen will und nicht die, in die er soll. Auch Jesus geht unbeirrt seinen Weg und nicht in die Richtung, in die das Volk, sicher auch manche seiner Jünger ihn haben wollen. Er sorgt nicht mit machtvollen Gebärden für klare Verhältnisse, er ist sanftmütig. Was für ein „arm-seliger“ König! Kein weltlicher Thron, eine Krippe!
In dieser Erzählung vom Einzug in Jerusalem wird inszeniert, was auf uns zukommt, wenn wir auf Weihnachten zugehen. Wenn wir jetzt im Advent darauf warten, dass er ankommt: Gott als Mensch, Kind in der Krippe, König auf einem Esel. Arm-selig, sanftmütig. Kann der was ändern?
Die Sehnsucht nach Veränderung ist ja groß. Präsidentschaftsanwärter:innen, Kanzlerkandidaten, Parteien versprechen genau das: Dass es kein „Weiter so“ mehr gibt, sondern dass sie die Dinge anpacken und ändern werden. Wie aber ändert man Dinge? Mit Stärke, mit Mut und Macht, mit klaren Worten, notfalls mit Gewalt.
Ich frage mich, wie nachhaltig Veränderungen sind, die so durchgesetzt werden. Gegen den Widerstand derer, die sich etwas anders wünschen, die unter der Macht und der Gewalt leiden. Man ändert vielleicht Gesetze, Kontrollmechanismen, Rahmenbedingungen, aber nicht Menschen. Menschen ändert man – ja, eher mit Sanftmut.
Ich stelle mir zwei Menschen mit völlig gegensätzlichen Ansichten vor. Der eine steht hier und die andere da. Jeder hat seine eigene Perspektive auf die Dinge, der eine sieht natürlich diese Seite, die andere die Kehrseite. Sie können sich ihre Meinungen ins Gesicht schreien, sie auf Plakaten vor sich hertragen. Sie können aneinander zerren, um den anderen in den eigenen Standpunkt zu zwingen. Die andere aber wird dann trotzdem nicht ihre Sicht auf die Dinge ändern. In dem Moment, wo der Zwang loslässt, steht sie doch wieder auf ihrer Seite.
Wie ändert sich diese verfahrene Situation? Doch nur, wenn man freundlich miteinander redet. Vielleicht erstmal nur feststellt, dass man eben aus zwei verschiedenen Standpunkten auf dasselbe schaut. Erstmal zugibt, dass es nicht nur eine Wahrheit, sondern die andere Seite – natürlich – auch gibt. Vielleicht neugierig wird, einmal versuchsweise von dort zu gucken, den andern freundlich einlädt, das auch zu tun. Sowas heißt, sanftmütig miteinander umgehen. Und ja, Sanftmut kann man nicht erzwingen. Sanftmut wird sicher ganz oft ins Leere laufen.
Das hat man an Jesus gesehen. Was hat es ihm genützt, dass er da sanftmütig auf einem Esel nach Jerusalem kam. Haben die Römer von all dieser Sanftmut überwältigt das Feld geräumt? Haben die Jerusalemer gesagt: „Ach, ist das nett, dass der uns beibringt, freundlich und lieb miteinander umzugehen?“ Nein, im Gegenteil, die Jerusalemer haben „Kreuzige ihn“ geschrien und die Römer Jesus hingerichtet. Seine Sanftmut hat also gar nichts verändert, sieht man doch, wo das hinführt.
Und doch: Das römische Reich ist untergegangen, das Christentum gibt es immer noch. Jesu Sanftmut hat Spuren hinterlassen: Nach mehr als 2000 Jahren sitzen wir hier heute morgen weit weg vom Ort des Geschehens zusammen und erinnern uns daran. Sage niemand mehr, Sanftmut kann nichts ändern!
Ich bin überzeugt, nachhaltige Veränderungen gehen nur so. Man muss doch nur fragen: Was ändert Verhältnisse wirkungsvoller: Vergeltung oder Vergebung. Wer Vergeltung übt, der erntet Vergeltung, das können wir im Nahen Osten leider (!) wunderbar verfolgen, da verändert sich rein gar nichts. Nicht Vergeltung ist ein GameChanger, sondern nur Vergebung. Jesus hat das in seiner Grundhaltung vorgelebt und damit viele enttäuscht, viele überzeugt.
Was kommt auf uns zu?
Die Antwort im Advent: Ein Sanftmütiger kommt.
Die Frage, die sich anschließt, richtet sich direkt an uns. Sie lautet: Kommt Sanftmut an?
Sanftmut drängt sich nicht auf. Sie implementiert sich nicht selbst. Sie muss empfangen werden, damit sie ankommen kann. Und vielleicht stehen wir an der „Straße der Sehnsucht“ und in uns selbst tobt die Demo und die Gegendemo: Da gibt es Vertreter des Zweifels und der Zuversicht. Die eine Stimme sagt: Wird sich eh nichts ändern, Weihnachten kommt und geht und die Populisten schreien weiter, die Diktatoren herrschen weiter und mein Alltag bleibt, wie er ist. Und die andere Stimme sagt: Doch Sanftmut kann die Welt verändern. Sie kann uns bewegen, sie kann uns neue Perspektiven zeigen. Sie führt uns störrisch wie ein Esel in eine für uns ungewohnte Richtung. Wir könnten tatsächlich an der Krippe landen.
Gott wird Mensch, er gibt sich damit in unsere Hände. In der Hoffnung, dass unsere Hände, dieses Kind sanft empfangen. Wenn das Kirchenjahr heute beginnt, dann werden wir zur Sanftmut herausgefordert oder, um mit Luther zu sprechen: „Es gibt keinen anderen Anfang, als dass dein König zu dir komme und fange an bei dir.“ Amen.
*Sebastian Feydt, in Predigtstudien, Perikopenreihe I, Erster Halbband, 2024/25, S. 20