Widerstand und Ergebung
20. Oktober 2024 (21. So. n. Trin.)
Predigttext: Matthäs 5, 38–48
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« 39 Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. 40 Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. 41 Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei. 42 Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.
43 Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, 45 auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? 48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
Liebe Gemeinde!
Es scheint Kerntexte unserer christlichen Tradition zu geben, die nicht unbedingt Lieblingstexte sind, aber sehr einprägsam. Sie sind durchsetzungsstark, auch in wechselnden Zeiten, vielleicht gerade weil sie irritieren und provozieren. Dazu zählt auch unser Predigttext heute, Jesu Gebot der Feindesliebe und des Gewaltverzichts aus dem Matthäus-Evangelium.
Ich stieß zum Beispiel in dem 2023 erschienenen Roman „Koller“ von Annika Büsing, ein Roadmovie mit zwei jungen schwulen Protagonisten, überraschend auf eine Auseinandersetzung mit genau dieser Forderung Jesu, auf Gewalt nicht mit Gegengewalt zu antworten.
In einer Rückblende fragt sich hier die Mutter von Chris, einem der beiden jungen Männer, die sieben Tage lang mit dem Auto unterwegs sind, wie sie ihrem Sohn helfen kann, der auf dem Schulhof von einem anderen Kind drangsaliert wird. Ich zitiere:
„Ein Achtjähriger, der sich nicht verteidigen konnte, der sogar die Hilfe seiner Mutter brauchte, war verloren, das wusste Änne. Grundschule, das war ein Ort der Bildung, aber auch ein Kriegsschauplatz. Sie kannte das aus eigener Erfahrung. Allerdings hatte man sie nicht mit Fäusten traktiert, sondern mit Worten. Und sie war Worten stets mit Worten entgegengetreten. Wie trat man also Fäusten entgegen? Hatte Hegel unrecht und es galt doch Auge um Auge, Zahn um Zahn? Oder Jesus folgen? Die andere Wange hinhalten? Gewissermaßen tat Chris das bereits und war nicht besonders erfolgreich damit.“ (Annika Büsing, Koller, Göttingen 2023, S. 76)
In einer Alltagsszene verdichtet die Autorin die Frage nach dem Umgang mit Gewalt, mit Brutalität, Gemeinheit, Sadismus, dem Angriff auf die Würde eines Menschen. Sei es ein Kind oder ein Erwachsener, ein Mann oder eine Frau, arm oder reich.
Eine Frage, die uns im Fall des achtjährigen Chris auf dem Schulhof ebenso umtreiben kann wie angesichts von Angriff und Vergeltung, von Gewalt und Gegengewalt, wie wir es im Krieg zwischen Russland und der Ukraine, zwischen der Hamas und Israel erleben. Gewalteskalationen, die uns jede Hoffnung auf Frieden und Verständigung rauben können, uns innerlich schachmatt setzen. Jesu Gebot der Feindesliebe und Gewaltfreiheit kann uns angesichts der Kriege heute naiv, weltfremd oder sogar zynisch erscheinen.
„Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar …“ (Matth 5, 39b)
Die Autorin des Romans, aus dem ich vorlas, findet für diese Handlungsmaxime Jesu zum Umgang mit Gewalt eine gute Übertragung, eine gute Übersetzung in kleinere wie größere Kontexte unserer Zeit. Änne, die Mutter von Chris, rät ihrem Sohn weder zurückzuschlagen noch schaltet sie die Lehrerin, andere Eltern oder die Polizei ein. Ich zitiere erneut:
„Chris war blass, als er [morgens] aufstand. Änne hatte nicht geschlafen. Sie machte ihm Frühstück. Als er sein Müsli aufgegessen hatte, räumte sie die Schüssel beiseite, sah ihm in die Augen und sagte: ‚Such dir einen Freund!‘ – ‚Wie soll ich das machen?‘, fragte Chris. – ‚Geh zu dem Jungen, von dem du weißt, dass er die gleichen Dinge gern tut wie du, und sag ihm, dass du dich mit ihm verabreden möchtest.‘ – ‚Kann es auch ein Mädchen sein?‘ – ‚Wenn es ein starkes Mädchen ist, ja.‘ – ‚Die meisten Mädchen sind stark.‘ – ‚Umso besser. Denkst du, du kriegst das hin?‘ – ‚Ich denke schon.‘ – ‚Gut, dann ist das deine Aufgabe. Los jetzt!‘“ (a.a.O. S. 76f)
Änne rät ihrem bedrohten, eingeschüchterten Sohn zu Freundschaft. Sie rät ihm, Freundinnen und Freunde zu suchen, Mitstreiterinnen und Genossen, die einen stärker und mutiger machen. In den politischen Bereich übersetzt: Bündnispartner, die mit uns für Frieden und Freiheit eintreten, für die Würde und Unversehrtheit von Menschen.
Sie liegt damit auf der Linie einer christlichen Friedensethik, die nach Ausgleich und nach Ausstiegsmöglichkeiten sucht aus den Spiralen der Gewalt, die uns heute so stumm, lahm und verzagt machen können.
Dem irritierenden, provozierenden Text aus dem Matthäus-Evangelium, in dem Jesus zur Gewaltfreiheit und Feindesliebe aufruft, liegen konkrete Situationen aus der Zeit und Gesellschaft zugrunde, in der Jesus und seine Freunde lebten. Jesus spricht hier nicht „ins Blaue“ hinein, abstrakt und allgemeingültig, sondern er bezieht sich auf die realen Lebensumstände seiner Zuhörerinnen und Zuhörer.
Eben erst hat er ihnen die Seligpreisungen zugesprochen:
„Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Matth 5, 7-9)
Jetzt konkretisiert Jesus diese Verheißungen, zieht sie in die Gegenwart:
„Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei.“ (Matth 5, 39b-41)
Das erste Beispiel, das Jesus gibt: Wenn einer mit der rechten Hand zuschlägt, trifft er gewöhnlich die linke Wange seines Gegenübers. Um die rechte Wange zu treffen, schlägt man mit dem Handrücken, eine besonders demütigende Geste. Wenn man nun den Kopf dreht und die linke Wange hinhält, geht der Schlag ins Leere oder rutscht ab. Es tritt eine Verzögerung ein, eine Irritation. Und wenn die schlagende Hand ins Leere geht, wird eigentlich der Schläger blamiert …
Das zweite Beispiel stammt aus dem Gericht: Wenn zu Jesu Zeit jemand vor Gericht unterlag, konnte der Besitz gepfändet werden. Bei armen Menschen, die gar nicht viel mehr besaßen, sogar der Rock bzw. das Untergewand. Der Mantel, das Obergewand, das nachts auch als Decke dienen konnte, war dann das Letzte, was sie oder er besaß. Legte der Beklagte dann auch noch den Mantel ab, stand er nackt vor Gericht. Das galt als maximal anstößig. Ein Tabu, das alle Anwesenden, nicht nur den Nackten, in eine unerträgliche, beschämende Situation brachte. Das Urteil, die Entwürdigung des Beklagten, fiel so auch auf diejenigen zurück, die es verhängt hatten.
Und schließlich das dritte Beispiel: „Wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei.“ Das bezieht sich auf die erzwungenen Dienstleistungen, die Hand- und Spanndienste, welche die jüdische Bevölkerung für die römischen Besatzer, für Großgrundbesitzer oder örtliche Herrschaften erbringen musste. „Zu einer Meile genötigt zu werden“, hieß, für einen Herrn etwas tragen oder ziehen zu müssen. Wenn Jesus nun vorschlägt, zwei statt der erzwungenen einen Meile zu gehen, dann wird der Zwang unterlaufen und der Mächtige entmachtet. Wer mehr als die befohlene Strecke geht, setzt ja den eigenen Willen durch, lässt sich nicht diktieren, wie weit er oder sie zu gehen hat, stellt die Hierarchie und den Zwang zumindest in Frage.
Man könnte sagen, Jesus fordert zum zivilen Ungehorsam auf in Situationen, in denen Menschen erniedrigt und ihrer Würde beraubt werden. Er ermutigt dazu, Mechanismen zu durchbrechen oder selbst aus ihnen auszusteigen, in denen Menschen Gewalt angetan wird, sie entmündigt oder herabgewürdigt werden. Und er richtet sich in erster Linie an diejenigen, denen so etwas geschieht – an die Wehrlosen und Armen, die Kinder und kleinen Leute.
Ich denke bei Jesu Appell, sich gewaltvollen, unmenschlichen Systemen oder Mechanismen zu verweigern zum Beispiel an Rosa Parks, die Afroamerikanerin, die sich 1955 in Alabama weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Sie löste damit den Busstreik von Montgomery aus, der als Anfang der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gilt. Durch ihren zivilen Ungehorsam machte sie anderen Mut, gegen die Diskriminierung von Schwarzen aufzustehen.
Ich denke an Janusz Korczak, den polnischen Kinderarzt, der 1942 die Kinder seines jüdischen Waisenhauses freiwillig in das Vernichtungslager Treblinka begleitete und dort mit ihnen starb. Auf seine Weise zeigte er, dass die Liebe größer ist als das Böse, der Rassenwahn und Vernichtungswille der Nationalsozialisten.
Ich denke an „Pussy Riot“, ein illegales feministisches Performance-Kollektiv aus Moskau. Ihr Markenzeichen sind spontane Auftritte an öffentlichen Orten, in Metrostationen, auf Busdächern oder dem Roten Platz, wo sie bunte Sturmhauben und neonfarbene Kleidung tragen. Sie wenden sich gegen die aggressive imperiale Politik von Putin, setzen sich über seine Zensur der Medien, der Kunst, der Literatur hinweg, trotzen Haftstrafen und Prozessen.
Lauter Frauen und Männer, die der Gewalt der Mächtigeren die Stirn geboten haben oder bieten: die die Wange hinhalten, den eigenen Weg selbst bemessen, den pädagogischen oder künstlerischen Spielraum selbst definieren – und damit die menschenverachtenden Systeme ihrer Zeit demaskieren.
Als wir am Donnerstagabend im Gemeindesaal bei „Speech & Sound“ zusammensaßen und über Zukunftsutopien nachdachten, da wurde es ziemlich still. Es fiel uns so viel leichter zu sagen, was alles hoffnungslos und kaputt und dem Untergang geweiht ist … Wir waren eng und phantasielos im Blick auf das, was wir uns positiv für die Zukunft vorstellen können.
Jesu Worte, seine Ermutigung zum Ausstieg aus den Systemen und Spiralen der Gewalt regen dagegen die Phantasie an – so wirken sie jedenfalls auf mich und so haben sie schon auf viele andere, bekannte und unbekannte Menschen gewirkt.
So haben sie vor 35 Jahren auf die Menschen in Dresden, Leipzig und Ost-Berlin gewirkt. Wie sagte es ein hoher SED-Funktionär im Blick auf die Oktobertage 1989? „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten.“ (https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/deutsche-einheit/deutsche-einheit-mahnwachen-353702; 18.10.2024)
Gott schenke uns also Phantasie und mache uns erfinderisch, in Jesu Sinn Gewalt und Hass zu widerstehen!
Und der Friede Gottes stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.