Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Wie beten hilft

Wie beten hilft

Gottesdienst am 25. Mai
Pastorin

Andrea Busse

Predigt zum Sonntag Rogate

Predigt zu Johannes 16,23-28

Bibeltext:

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei. Das habe ich euch in Bildern gesagt. Es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater. An jenem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen. Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde; denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater.  (…) Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. (Johannes 16, 23b-33)

 

Predigt:

Vor kurzem habe ich abends mit einer Freundin telefoniert. Norma­lerweise ist sie eine Frohnatur und auch ziemlich überzeugt von sich und dem, was sie kann. Aber diesmal war sie etwas klein­laut und im Laufe des Gespräches wurde deutlich, dass sie richtig Angst hatte. Angst vor dem nächsten Tag, an dem sie eine Präsentation vor wichtigen Kunden ihrer Firma halten sollte. Sie hatte mir schon vor Wochen davon erzählt, damals ziemlich lässig. So ein bisschen nach dem Motto, das schüttel ich doch aus dem Ärmel. So hatte sie es tatsächlich dann auch gehandhabt und sich einfach nicht gut vor­­bereitet. Jetzt am Vorabend – es war schon nach 22 Uhr – be­kam sie Angst, ob sie genug im Ärmel hatte, um es rauszu­schüt­teln. Schließlich kommentierte sie das Ganze dann mit „Jetzt hilft wohl nur noch beten!“ Ich habe mir eine Bemerkung verkniffen, aber gedacht habe ich: Ein Gebet zaubert jetzt auch keine überzeugen­de Powerpoint-Präsentation herbei. Eine gute Vorbereitung wäre sinnvoller gewesen. Vielleicht etwas ketzerisch für eine Pastorin, sowas zu denken. Aber wer immer gleich die Hände faltet, hat keine Hände frei, wirk­lich etwas anzupacken.

Am nächsten Tag habe ich ihr eine Whatsapp-Nachricht ge­schrie­ben: „Na, hat das Beten geholfen?“ Ihre Antwort klang vor­wurfs­voll. Besonders gut, ist es wohl nicht gelaufen. Und sie – die wohl tat­säch­lich gebetet hatte in ihrer Not – beschwerte sich bei mir, der Pastorin, darüber, dass man Beten – und am besten den ganzen Glauben – ja auch sein lassen können, wenn es dann, wenn man es braucht, nichts bringt.

Noch ein paar Tage später habe ich wieder mit ihr telefoniert. Ich habe das Thema Beten erstmal gar nicht erwähnt. Aber ihre Angst habe ich angesprochen, die immer noch spürbar war: Die Angst, wichtige Kund:innen zu verlieren. Von jüngeren Kolleg:innen über­holt zu werden. Überhaupt dem schnellen Tempo und den Heraus­forderungen im Job nicht mehr gerecht zu werden mit Mitte 50. Ihre Angst konnte ich gut nachempfinden. Ehrlich gesagt kann ich Men­schen, die Angst haben, besser verstehen als solche, die sich vor nichts fürchten.

Schließlich kenne ich selbst Angst – und Sie alle sicher auch: Angst, dass den Kindern etwas passieren könnte, dass die Freundin, die an Krebs erkrankt ist, einen Rückfall erleidet, Angst, Aufgaben oder Menschen nicht gerecht werden zu können, Angst jemanden zu verletzen oder verletzt zu werden. Angst auch, Menschen zu verlieren.

Hilft es dann, wenn ich bete? Meiner Freundin hat ihr Gebet nicht geholfen, die Präsentation war, wie sie war, nämlich schlecht vorbereitet. Wenn ein Schüler die Vokabeln nicht gelernt hat, dann hilft auch Beten nichts vor dem Französischtest. Und wenn ich bete, weil ich Angst habe, meine Eltern zu verlieren, dann werden sie trotzdem nicht ewig leben. So gesehen spricht die Erfahrung dagegen, dass Beten hilft, denn Beten funktioniert nicht wie eine To-do-Liste für Gott. Trotzdem sagen wir: „Angst lehrt beten“. Und Jesus selbst rät seinen engsten Freunden: Betet – betet, wenn ihr Angst habt. Wir haben es eben gehört in der Lesung aus dem Johannesevangelium, wo Jesus sagt:

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben.

Das klingt doch ein bisschen so, als ob Beten eine To-do-Liste für Gott sei. Wenn ihr den Vater um etwas bittet, wird er’s euch geben. Bitte schön, ich hätte gerne eine gute Präsentation, einen fehler­freien Vokabeltest, eine Spontan­heilung meiner kranken Freundin – und schon sollte es gelingen. Tut es natürlich nicht.Ich glaube, man muss den Text eigentlich von hinten lesen: Der letzte Satz ist fast so etwas wie eine Überschrift:

In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

Das sagt Jesus in eine Angst-Situation hinein. Er selbst wird gehen. Es sind die sogenannten Abschiedsreden im Johannesevangelium. Seine Jünger und Jüngerinnen werden allein bleiben und sich verlassen fühlen. Aufgeschrieben wurde der Text noch etwas später, Ende des 1. Jahrhunderts vermutlich. Die ersten christlichen Gemeinschaften haben sich gebildet, als Gruppen in ihren jüdischen Gemeinden. Aber inzwischen wird klar: Da ist vieles, was diese Jesus-Anhän­ger­:innen von der jüdischen Gemeinde, zu der sie doch gehören, unterscheidet. Dass sie Jesus als Messias bekennen, das können die meisten anderen nicht nachvollziehen und so kommt es dazu, dass sich die Nachfolger:innen Jesu entscheiden müssen: Passen wir uns an oder trennen wir uns. Es ist der Ursprung des Christen­tums als eigener Religion. Was für uns heute so selbstverständlich ist, war damals ein schmerz­hafter Prozess. Die jüdischen Jesus-Anhänger und Anhängerinnen wurden aus ihren Synagogen ausgeschlossen. Ein Rausschmiss, Trennung, Bruch mit den Wurzeln, mit der Tradition; das heißt Konflikt und Abschied und – Angst.

Und das ist nur die eine Seite, die religiöse. Auch politisch waren es schwierige Zeiten. Die Römer haben die Herrschaft und unterdrücken das Volk, der jüdische Tempel ist zerstört. Die Besatzer machen doch keinen Unterscheid, ob das eine religiöse Splittergruppe ist oder nicht. Für sie sind alle, die zum jüdischen Volk gehören, potentielle Terroristen. Da sitzen die Jünger und Jüngerinnen Jesu also Jahrzehnte nach seinem Tod und werden von der eigenen jüdischen Gemeinschaft ausgeschlossen und von der Staatsmacht bedroht. Das ist ein Leben im Krisenmodus, ein Leben in Angst.

Und da hinein die Abschiedsworte Jesu: In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. Jesus sagt nicht: „Ihr müsst keine Angst haben. Alles gut. Wird schon, wenn ihr nur betet.“ Und ich bin froh, dass Jesus unsere Angst nicht kleinredet oder leugnet. Ja, wir haben Angst – die Jünger und Jüngerinnen damals, und wir heute auch! Und Angst ist auch durchaus sinnvoll. Sie ist ja ein wichtiger Schutzmechanis­mus, um drohende Gefahren einzuschätzen. Wenn meine Kinder vor nichts Angst hätten, wäre ich alles andere als beruhigt. Die Angst bleibt, sie gehört zu unserem Leben in dieser Welt. In der Welt habt ihr Angst. Das ist eine klare Aussage. Die Angst ist da, sie begleitet uns, das muss man nicht beschönigen.

Aber sie hat nicht das letzte Wort: In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. Das heißt, ich kann leben mit der Angst. Nicht gegen sie, sondern mit ihr. Wie das geht?

Ich habe meiner Freundin eine Postkarte geschickt, eine Karikatur. Darauf war ein Pfarrer zu sehen, der in aller Ruhe und sichtbar zufrieden auf einem Feldweg entlang geht. In einer Hand hat er die Bibel, in der anderen eine Hundeleine. An dieser Leine hängt aber kein Hund, sondern ein kleines Teufelchen, das sichtbar mürrisch hinter ihm herläuft.

Für mich ist das ein treffendes Bild, wie wir mit unserer Angst leben können. Ja, sie begleitet uns täglich. Und wir sollten aufpassen, dass sie nicht an uns zerrt, uns nicht umreißt, dass es nicht unsere Angst ist, die die Richtung vorgibt, sondern dass wir sie so gut im Griff haben, dass wir getrost unseren Weg gehen können. Das also ist die entscheidende Frage: Wie können wir die Angst an die Leine legen?

Und da kommen Jesu Abschiedsworte ins Spiel: Wir können mit der Angst leben, wenn wir sie teilen – wenn wir sie mit-teilen. Wenn wir unsere Angst Gott mit-teilen, also auf gut deutsch, wenn wir vor Gott treten und beten. Genau das gibt Jesus seinen Leuten beim Abschied mit auf den Weg, den sie nun ohne ihn gehen müssen – aber eben nicht ohne Gott: Wendet euch an euren Vater, betet! Rogate!

Wer betet, der möchte darauf vertrauen, dass es immer noch Möglichkeiten gibt, die größer sind als die eigene Angst. Das Wort Angst kommt von „Enge“. Beten heißt: Aus der Enge heraustreten, einen weiteren Blick kriegen, eine andere Perspektive einnehmen. Beten heißt, darauf vertrauen, dass Gott mehr Möglichkeiten sieht, als wir in unserer beengten Wahrnehmung.

Wenn Jesus sagt. Ich habe die Welt überwunden! Dann spricht da kein Superman, kein angstloser starker Held, den nichts schreckt, sondern einer, der alles erlebt hat: Verlassenheit, Einsam­keit, Verzweiflung, Gewalt und: Angst. Aber er ist nicht daran zer­brochen. Denn sein Vertrauen war immer größer als seine Angst – das Vertrauen darauf, dass Gott jeder Angst ent­gegentritt und sie bändigen, sie an die Leine legen kann.

Vor unserer Angst fliehen, das können wir auf Dauer nicht. Uns umdrehen zu ihr, ihr ins Antlitz schauen, das können wir schon, auch wenn es Mut erfor­dert. Diesen Mut schenkt Gott im Gebet. Gebetserhörung heißt nicht, dass Gott uns eine Powerpoint-Präsen­tation zaubert, die wir nicht vorbereitet haben, eine 1 in Französisch ohne Vokabellernen oder ein medizinisches Wunder. Aber was Gott uns im Gebet schenkt, ist die Leine, an die wir unsere Angst legen können.

„In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

Dieser Vers zeigt die Spannung: Jesus hat die Welt überwunden – aber wir noch nicht. Glauben heißt nicht, dass wir keine Angst mehr haben dürften und nur noch frei und erlöst herumlaufen müssten. Glauben heißt nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen und den lieben Gott machen lassen, was wir ihm im Gebet auftragen. Aber es heißt auch nicht, dass wir aufhören sollten zu beten, weil es ja eh nichts bringt. Im besten Fall kann uns Beten durch die Angst hindurch zum getrosten Handeln führen, weil wir wissen, dass von unserem Handeln nicht alles abhängt, dass unser Handeln aber doch gebraucht wird.

Ich werde also weiterhin meiner Freundin empfehlen, eine Präsen­tation gewissenhaft vorzubereiten. Ich werde ihr aber auch das Gebet empfehlen, das sie daran erinnert, dass von einer Präsen­tation nicht ihre Karriere und erst recht nicht ihr Wert als Person abhängt.

Beten löst nicht das konkrete Problem, aber es führt von der Angst in einen freien Raum – einen Raum, in der Probleme auf ihre Ver­hältnismäßigkeit zurechtgestutzt werden und hoffentlich dann auch Lösungen am Horizont auftauchen. Leben wir also unter dem Zuspruch Jesu:

„In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

Amen.