Bibeltext:
Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! 2Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. 3Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben. 4Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter. 5Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des Herrn willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat. (Jesaja 55, 1–5)
Predigt:
Liebe Gemeinde,
ich entführe Sie heute morgen einmal auf einen orientalischen Markt. Stellen Sei sich vor: Tische stehen nebeneinander, Stoffplanen sind als Sonnenschutz darüber gespannt und Leute drängeln sich zwischen den Ständen. Wir sehen Gewürze auf farbenprächtige Haufen aufgetürmt, daneben Bananen und Granatäpfel, der Duft von reifen Mangos liegt in der Luft. Auf dem Tisch dahinter Tomaten und Gurken und daneben ein ganzer Wagen voll mit Zwiebel und Knoblauch. Wir hören die Händler rufen: „Kauft, Leute kauft! Probiert meine Oliven, die Datteln, den Honig! Hier gibt es den besten Wein! Ziegenkäse im Angebot, Fladenbrot!“ Die Leute feilschen mit den Händlern um den günstigsten Preis. Es geht hin und her. Jeder will so viel verdienen wie möglich! Keine will mehr zahlen als nötig! Manche können gar nicht zahlen, nur zugucken. Ihnen läuft vermutlich das Wasser im Mund zusammen. Und dann eine Stimme, die ruft:
Alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!
Das ist Originalton Jesaja.
Wir machen einen Szenenwechsel: Mittwochvormittag. Heute hat die Tafel in Wilhelmsburg geöffnet. Sie will früh da sein, damit sie noch gutes Gemüse kriegt. Als sie in ihre Schuhe schlüpft, merkt sie, dass die Sohle rechts in der Mitte gebrochen ist. Und der Saum an der Hose unten löst sich schon wieder auf, dreimal geflickt, nichts mehr zu retten. Sie greift nach dem Beutel. Ihre Hände sind faltig. Draußen läuft sie langsam, die Beine wollen nicht mehr richtig, der kaputte Schuh macht es nicht einfacher. Als sie an der Ausgabestelle ankommt, gibt es schon eine Schlange. Jedes Mal wenn sie da steht und wartet, fragt sie sich, was ihr Mann (Gott hab ihn selig) sagen würde. Er würde sich in Grund und Boden schämen. Immer sind sie irgendwie über die Runden gekommen. Aber ihre Rente reicht schon lange nicht mehr, nicht für frisches Gemüse.
Eine junge Frau reicht ihr freundlich, worauf sie zögernd zeigt. Tomaten wandern in ihren Beutel, Salat, Kartoffeln, zwei Becher Joghurt, Milch, Brot. Damit geht sie nach Hause.
Zwei Stunden später geht auch die junge Frau nach Hause. Beeilt sich, sie will noch ein bisschen was einkaufen für die nächsten Tage. Schnell ein Blick auf ihre Mails, sie landet beim SPAM: „Gratis“ ploppt in grellen Buchstaben auf. In der nächsten Mail steht: „Zum Nulltarif“. Sie guckt gar nicht erst rein. Löscht alle. Kostenlos – das kann nichts Gutes bedeuten.
Sie nimmt ihr Handy und die Einkaufstasche – und noch eine und noch eine. Sie braucht eigentlich nur Brot. Aber sie kennt sich. Als sie später durch alle Regale im Supermarkt durch ist, ist der Wagen voll. Ein Berg aus Schachteln, Döschen, Flaschen – farbenfroh und voller Verheißung. Sie wird viel zu viel in sich hineinstopfen. Das hilft, wenn es ihr nicht gut geht. Und wenn es ihr ganz schlecht geht, wird sie hinterher alles wieder ausspucken.
Nach dem Essen fühlt sie sich voll, aber nicht satt. Sie macht einen Spaziergang. Geht in die Kirche, die nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, tagsüber immer geöffnet ist. In einer kleinen Seitenkapelle liegt ein Buch aus, in das man seine Gedanken reinschreiben kann. „Ich fühle mich außen vor“, schreibt sie. „Ich bin nie richtig. Das war schon als Kind so: ich war immer falsch angezogen, habe das Falsche gesagt und das Falsche getan. Wenn meine Eltern wüssten, dass ich bei der Tafel aushelfe statt „Karriere zu machen. Ich versuche, möglichst nicht aufzufallen. Klappt ganz gut. Zu gut. Keiner sieht mich. Ich bin unsichtbar.“ In der Kapelle liegt neben dem Buch mit den leeren Seiten ein Buch mit vollen Seiten. Die Bibel. Sie schlägt sie auf.
Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht?Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!
Wieder Originalton Jesaja. Was er wie ein altorientalischer Marktschreier anpreist, das ist umsonst. Kostenlos. Ist es damit auch wertlos?
Was bietet er denn eigentlich? Wasser, Wein, Milch gegen den Durst, Brot gegen den Hunger. Auf Hebräisch heißt Seele Nephäsch. Das Wort kommt von „Hals, Kehle“, es lässt also an Durst denken. An den Durst, den jede und jeder von uns sich trägt: Den Durst nach vollem Leben, nach Glück, nach Erfüllung und Sinn. Dass die menschliche Seele mehr braucht als Gut und Geld ist eine uralte Erkenntnis – das wusste schon Jesaja vor 2500 Jahren. Die Israeliten saßen in Babylon im Exil. Zu Beginn war es hart: Da hatten sie nichts, waren hungrig und durstig. Wie so viele Vertriebene und Geflüchtete zu allen Zeiten. Jesajas Landsleute mussten lange im Exil bleiben, aus den Zelten wurden Häuser. Sie haben sich etwas aufgebaut in der Fremde. Sie leben nicht mehr am Existenzminimum. Aber sie leben nicht gut. Sie sind entwurzelt. Weit weg von der Heimat, von ihrer Kultur und Religion. In Jerusalem, dort waren sie wer. Gottes auserwähltes Volk. Hier schaut man über sie hinweg, sie sind –unsichtbar.
Und Gott, wo ist der? Er ist immer noch da, sagt Jesaja. Der Bund mit Gott hängt nicht am Tempel in Jerusalem. „Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen“, sagt Gott durch den Prophetenmund. Das ist Balsam auf die Seele derer, die ausgehungert sind nach dem Bedürfnis, irgendwo dazuzugehören. Sie gehören immer noch zu Gott, versichert Jesaja.
Was braucht der Mensch, um gut zu leben?
Wasser und Brot, ein Dach über dem Kopf – dann kann er überleben. Gut leben – das kann er, wenn er nicht allein ist, wenn da jemand ist, der sich ihm zuwendet, dem er sich zuwenden kann. Ein Mensch braucht Zuwendung und Aufmerksamkeit. Er muss gesehen werden, sonst trocknet er aus und geht zugrunde.
Aufmerksamkeit ist heute auch zu einer Art Währung geworden: Sie wird gezählt in Klicks und Likes und Kommentaren. Aber Jesaja sagt: Umsonst! Zum Nulltarif!
Kommt her, hört zu, dann werdet ihr leben!
Gott lädt ein – er lädt alle ein. Israel zuerst – so sagt der Prophet – und dann alle Völker. Gottes Aufmerksamkeit ist nicht begrenzt, da ist genug für alle. Davon können wir leben, gut leben.
Was würden wir auf leere Seiten eines Buches schreiben wie die junge Frau. Wonach dürsten und hungern Sie und ich? Um’s Überleben müssen wir nicht kämpfen, aber gut zu leben, zufrieden, erfüllt – gelingt uns das?
Ich war schon schockiert über die Meldung vor einiger Zeit, dass ein 20-Jähriger Hamburger labile Jugendliche im Netz dazu gebracht hat, sich selbst zu verletzen, in einem Fall sogar, sich selbst das Leben zu nehmen. Er hat mit dem Hunger und dem Durst der jungen Menschen gespielt. Hat ihre Sehnsucht nach Aufmerksamkeit ausgenutzt, sie an sich gebunden, sie manipuliert und ihnen dann klar gemacht, dass sie nicht genug haben zum Leben und das Leben deswegen auch beenden können. Wer ihm zugehört hat, der hat sein Leben riskiert. Es ist wie die Negativfolie für das, was Gott zu sagen hat: Hört, so werdet ihr leben. Hört, dass Gott sagt: „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!“
Wie kann das konkret aussehen?
Unsere junge Frau hat ein bisschen herumgelesen in den Worten von Jesaja. „Ihr werdet Gutes essen, euch an Köstlichen laben“ – das klingt verheißungsvoll. Sie blättert weiter: „Fürchte dich nicht, ich habe dich bei deinem Namen gerufen du bist mein.“ Sie denkt darüber nach, wie lange niemand mehr, ihren Namen gerufen, sie direkt angesprochen hat. Bei der Tafel tragen alle Namensschilder, aber die wenigsten schauen darauf.
Es ist wieder Mittwochvormittag. Als die junge Frau diesmal zu ihrer ehrenamtlichen Schicht zur Tafel geht, hat sie ein Paar von ihren Schuhen dabei. Es ist fast neu, es war ein Fehlkauf, sie zieht es nie an. Das letzte Mal ist ihr diese alte Frau mit den kaputten Schuhen aufgefallen. Es könnte die gleiche Größe sein. Als die alte Frau kommt, nimmt sie sie zur Seite. Hinten zu den Lebensmittelkisten, da kann sie sich drauf setzen. Sie zeigt ihr die Schuhe. Die Frau sagt nichts, zieht das Paar an, läuft ein paar Schritte, wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. Schämt sich, freut sich, beides zugleich. Und zum ersten Mal schaut sie die junge Frau genauer an, schaut auf das Namensschild. „Danke, Tanja!“ sagt sie und „Ich kann kochen.“ – „Ich kann nicht kochen“ sagt Tanja und denkt weiter „Ich kann nur in mich reinstopfen.“ Die alte Frau lädt die junge Frau zum Essen ein. „Umsonst!“ sagt sie und deutet auf die Tasche, die sie gerade mit Gemüse füllen durfte.
Ich weiß nicht, ob Tanja sich tatsächlich zum Essen einladen lässt von einer fremden alten Frau. Vielleicht ein paar Wochen später, wenn sie sich häufiger gesehen, wirklich angesehen haben. Wenn Tanja auch den Namen der alten Frau kennt, vielleicht, wenn sie sich davor retten muss, zu viel in sich hineinzustopfen und weiß, dass ihr das gelingt, wenn sie mit jemand anderem isst. Vielleicht wenn sie „Gutes essen und sich an Köstlichem laben“ will. Ich weiß nicht, wie es weitergeht mit den beiden.
Aber ich weiß, dass es viele Menschen gibt, auch hier, die durstig sind und hungrig, die Sehnsucht danach haben, gesehen zu werden und Sinnvolles zu tun. Die wertvollsten Dinge haben kein Preisschild, sie sind kostenlos. Und sie sind uns verheißen. Immer wieder spricht Gott – durch Menschen wie z.B. den Propheten Jesaja, aber auch durch andere, immer wieder spricht Gott so zu uns und verheißt uns, dass das Leben schön sein kann und erfüllt – vor allem, wenn wir es mit anderen teilen. Den Raum dazu versuchen wir hier in dieser Kirche und Gemeinde immer wieder zu öffnen. Im Juli wird es an zwei Donnerstagen möglich sein, gemeinsam kostenlos im Kirchgarten essen, dazu hören Sie später noch mehr. Und ein Buch mit leeren Seiten gibt es hier hinten in der Kirche und natürlich auch eines mit vollen Seiten. Darin zu lesen – allein oder gemeinsam – tut der dürstenden Seele gut. Denn Gott spricht: Hört, so werdet ihr leben. Gut leben. Amen.