Kirche St. Johannis Harvestehude, Hamburg – Bald, bald …

Bald, bald …

Predigt zum 1. Advent
Pastorin

Dr. Claudia Tietz

1. Advent, 30. November 2025

Predigt zu Römer 13, 8–12

Predigttext: Römer 13, 8–12

Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. 
Und das tut, weil ihr die Zeit erkannt habt, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. Amen.

 

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!

Am letzten Montag, am Morgen nach dem Ewigkeits- und Totensonntag überschlugen sich die Hamburg-Nachrichten:

„Heute um 11.30 Uhr eröffnet Bürgermeister Peter Tschentscher den Weihnachtsmarkt vor dem Rathaus. Ein paar Stunden später, um 17 Uhr, schaltet Stadtentwicklungssenatorin Karen Pein die Weihnachtsbeleuchtung am Neuen Wall ein. Und erst zwei Tage später, am frühen Mittwochabend, aktiviert Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank die Alstertanne.“
[Elbvertiefung: Der tägliche Newsletter aus Hamburg; zit. nach https://www.zeit.de/hamburg/2025-11/elbvertiefung-24-11-2025]

Wie der Journalist dieses Artikels habe auch ich mich gefragt, warum all dies nicht gleichzeitig auf einen Schlag passiert? Warum durch drei Personen und mit so großem Aufheben?

Die Antwort ist wahrscheinlich einfach: Die Eröffnung des Weihnachtsmarktes, das Einschalten der Weihnachtsbeleuchtung am Neuen Wall und an der Alstertanne sollen symbolische Akte sein, Inszenierungen, die jede für sich Zeit brauchen sollen, um zu wirken.

Große Gesten, die vielleicht etwas patriarchal bzw. matriarchal wirken: als würden die höchsten Politikerinnen und Politiker unserer Stadt persönlich ihre Bürgerinnen und Bürger in Weihnachtsstimmung versetzen … Aber vielleicht ist es auch gut, dass unsere Politiker klar zeigen: Wir stehen zu Advent und Weihnachten; wir halten an diesen Feiertagen fest; wir freuen uns auch als Stadtgesellschaft auf Weihnachten!

Was bei diesen großen Gesten allerdings nicht thematisiert wird, ist die Frage, worauf wir uns freuen oder wofür die Weihnachtsbeleuchtung steht.

Meine Patentochter schrieb mir letzte Woche, wie sehr sie sich schon auf die Weihnachtsfilme freut. Mein Onkel hat sich schon mit Begeisterung in seine Weihnachtsbäckerei gestürzt. Meine Freundinnen verabreden sich zum Glühweintrinken …

Worauf freuen Sie sich, worauf freut ihr euch? Was gehört für euch unbedingt zur Adventszeit, damit eure Vorfreude geweckt wird und ihr in Weihnachtsstimmung kommt?

Und habt ihr schon Lichter angezündet? Am Adventskranz, wie wir hier heute Morgen, oder eine Kerze auf dem Küchentisch oder eine Lichterkette am Balkon?

„Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern …“ (EG 16, 1),

haben wir gesungen. Von der Vorfreude auf den Tag, auf das Fest, das bald kommt, wenn das Licht anbricht. Wenn Gottes Sohn geboren wird und als Licht in die Welt kommt.

Wie warm und wunderbar das Licht ist – die Kerzenflamme, die Morgenröte, der Sonnenschein – wissen oder spüren wir instinktiv. Es sitzt uns wahrscheinlich in den Genen. Die Freude und Erleichterung, wenn zur Wintersonnenwende die Talsohle der Dunkelheit durchschritten ist und die Tage wieder länger werden. Christi Geburt als ein Fest des Lichtes und des Lebens „mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht“ (EG 30, 1).

Aber bedeutet uns das Weihnachtslicht mehr als mehr Helligkeit? Und wenn ja, was? Was verbinden wir mit dem Licht?

Es gibt eine jüdische Legende, in der dieser Frage nachgedacht wird:

Ein Rabbi fragte seine Schüler: „Wann ist der Übergang von der Nacht zum Tag?“ Der erste Schüler antwortete: „Dann, wenn ich ein Haus von einem Baum unterscheiden kann.“ – „Nein“, gab der Rabbi zur Antwort. – „Dann, wenn ich ein Pferd von einem Hund unterscheiden kann“, versuchte der zweite Schüler eine Antwort. – „Nein“, antwortete der Rabbi. Und so versuchten die Schüler nacheinander, eine Antwort auf die gestellte Frage zu finden. Schließlich sagte der Rabbi: „Wenn du das Gesicht eines Menschen siehst und du entdeckst darin das Gesicht deines Bruders oder deiner Schwester, dann ist die Nacht zu Ende und der Tag ist angebrochen.“ Dein Licht kommt und darin entdeckst du im anderen den Bruder, die Schwester. Das ist der Anfang vom Ende der Finsternis.“
[https://www.theologie.uzh.ch/apps/gpi/roemer-138-12-2/]

Licht wird es, wenn wir in den anderen unsere Nächsten erkennen. Licht wird es, wenn wir erkennen, dass wir Menschen aufeinander bezogen, miteinander verwoben, voneinander abhängig sind.

Der Apostel Paulus, im rabbinischen Denken geschult, beschreibt das im Predigttext, in seinem Brief an die Gemeinde in Rom so:

„Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“ (Röm 13, 8+10)

Liebe kann Vieles bedeuten. Bloß wir sind im Deutschen ein bisschen unbeholfen und wortarm, um dies sprachlich auszudrücken. In der griechischen Philosophie gibt es mindestens drei Worte, um über Liebe zu sprechen: Eros, Philia und Agape. Mit Eros ist die sinnliche Liebe zwischen zwei Menschen gemeint, eine romantische, leidenschaftliche Beziehung. Philia bezeichnet tiefe Freundschaft und Zuneigung. Und Agape meint Hingabe und Selbstlosigkeit, eine Haltung der Verbundenheit. Im Deutschen wird dies mit Nächstenliebe übersetzt.

Um Agape geht Paulus, um Nächstenliebe. Als Wort aus der Mode gekommen – vom Inhalt her von vielen zeitgenössischen Bewegungen und Stimmen aufgenommen: ob es psychologisch um Empathie geht, gesellschaftlich um Toleranz oder politisch um Teilhabe und Gerechtigkeit.

Paulus definiert Nächstenliebe so: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.“ (Röm 13, 10)

Das heißt, ich muss meine Nächsten – ob sie mir näher oder ferner stehen – nicht mögen, schon gar nicht dem deutschen Wortsinn nach lieben. Ich muss sie weder sympathisch finden noch in ihren Emotionen oder Beweggründen verstehen. Ich muss mich nicht mit ihnen befreunden.

Aber ich tue meinem Nächsten nichts Böses! Ich schade ihm oder ihr nicht. Ich stelle ihr kein Bein; ich haue ihn nicht übers Ohr. Ich belüge sie nicht; ich missbrauche nicht sein Vertrauen. Sondern ich erkenne, ich akzeptiere oder glaube, dass mein Nächster wie ein Bruder, wie eine Schwester so viel Wert und Würde besitzt wie ich selbst. Ebenso viel Recht auf Leben, auf Entfaltung und Freude wie ich.

Das ist die Liebe, das ist das Licht, das mit Jesus Christus in die Welt kommt. Das Antlitz Gottes in der Welt. Die Gesten Gottes unter uns. Das ist damit gemeint, im anderen die Schwester, den Bruder zu entdecken, wie es der Rabbi in der Legende erzählt.

Oft – und vielleicht in unserer Zeit ganz besonders – scheint es uns so, als sei der Tag unendlich fern, an dem dieses Licht der Nächstenliebe und Verbundenheit in unsere Welt kommt. Als würden wir stattdessen in immer tiefere Finsternis versinken.

Jede und jeder von uns könnte wahrscheinlich schnell sagen, welche „Werke der Finsternis“ im Gange sind, die das Licht behindern oder verdunkeln. Was wir im persönlichen Bereich, in der Familie, in der Schule oder im Beruf erleben, wo Menschen andere missachten oder ausgrenzen, anderen bewusst und willentlich Böses antun. Wo es auch uns selbst vielleicht mitunter schwer fällt, anderen wirklich unvoreingenommen, gerecht und freundlich zu begegnen.

Und noch viel mehr Geschehnisse könnten wir gemeinsam aufzählen, wo die großen Entwicklungslinien in unserer Welt eher ins Dunkle zu laufen scheinen.

Paulus schreibt darum vom Kommen des Lichts auch nicht nur als von etwas, das ganz unabhängig von uns geschieht, das allein in Gottes Hand steht. Er verschränkt vielmehr die Ankunft des Gottessohnes mit unserer Ankunft bei ihm. Das anbrechende Licht mit unserem Aufbruch zum Licht.

Dass die Nacht vorrückt und der Tag kommt, Erlösung naht und Licht hervorbricht – das liegt nicht allein an uns. Aber es geschieht auch nicht ohne uns. Nicht ohne unsere Worte und Werke, mit denen wir Hingabe, Verbundenheit und Nächstenliebe praktizieren.

Eine Konfirmandenmutter aus unserer Gemeinde, von der wir nächste Woche viel zu früh Abschied nehmen müssen, hat in den letzten schweren Wochen vor ihrem Tod gesagt: „Wenn Licht auf Dunkelheit fällt, siegt das Licht.“

Daran hat sie sich festgehalten in der Angst vor dem Sterben und in der Hoffnung auf den Himmel, in ihren Gedanken um ihre Kinder und deren Zukunft. Festgehalten am Glauben, dass uns Versöhnung, Nächstenliebe und Verbundenheit möglich sind.

„Wenn Licht auf Dunkelheit fällt, siegt das Licht.“ In dieser Hoffnung lasst uns im Advent auf das Licht zugehen, das uns von Gott entgegenkommt! Amen.