Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
Liebe Gemeinde!
Die Familie Buddenbrook besitzt eine große Ledermappe, in der wichtige Dokumente aufbewahrt werden, darunter auch ein Heft mit Goldschnitt, in das persönliche Eintragungen des jeweiligen Familienoberhauptes gemacht werden.
Erinnerungsmappen oder -bücher – manche von uns mögen solche Bücher aus der eigenen Familie kennen: Tagebücher, Fotoalben, eine Familienbibel oder ein Stammbaum. Texte und Bilder, die uns verdeutlichen – oder uns verdeutlichen sollen – woher wir kommen. Wessen Namen wir tragen und welches Erbe wir antreten …
In Thomas Manns Roman enthält die schwere Ledermappe Aufzeichnungen zur Familiengeschichte, wichtige Papiere der Firma und persönliche Glaubenszeugnisse. Alle drei Bereiche – Familie, Beruf und Glaube – prägen die Identität der fiktiven Lübecker Kaufmannsfamilie, wie Mann sie im ausgehenden 19. Jh. beschreibt.
Da ist er selbst gerade Anfang 20, hat die Schule kurz vor dem Abitur ohne Abschluss verlassen und ist seiner Mutter und den Geschwistern nach München nachgezogen. Sucht offenbar nach Abstand von der Hansestadt im Norden, der Heimat seiner väterlichen Familie. Sucht nach seinem eigenen Weg, seiner Identität und Bestimmung.
Es ist anzunehmen, dass er selbst mit diesem Dreiklang ringt, mit dem er die Identität der Buddenbrooks charakterisiert:
Zunächst der Name der Familie, ihr Ruf und ihr Ansehen. Wie man aufgrund von Ähnlichkeiten im Aussehen oder in Wesenszügen einer Familie zugeordnet wird. Oder wie aufgrund des Familiennamens bestimmte Leistungen oder Einstellungen von uns erwartet werden. Und nicht immer ist einem diese unfreiwillige Familienzugehörigkeit angenehm; nicht immer passt sie so ganz.
Daneben der Beruf, die Firma, der Hof oder die Praxis. Wer übernimmt sie? Wer tritt – meistens noch – in die Fußstapfen des Vaters? Der Beruf, der in manchem bis heute den sozialen Stand bestimmt, zu dem wir gehören.
Und schließlich der Glaube, die Religion. Bis zur Mitte des 20. Jh. in Deutschland ein klares, exklusives Identitätsmerkmal. Eine katholische Schulkameradin wurde nicht zum Kindergeburtstag eingeladen; ein evangelischer Schwiegersohn kam nicht in Frage. Verbundenheit und Stolz auf die eigene Konfession, allzumal in den streng lutherischen Hansestädten.
Mit allen drei Facetten einer durch Familie, Berufsstand und Religion geprägten Identität setzt sich Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ auseinander. Mit Witz und Ironie, Liebe zum Detail und feiner Beobachtungsgabe schildert er den Dünkel der Patrizier, die feiste Selbstgefälligkeit der Kaufleute und die verlogene Dümmlichkeit der Pastoren.
Und gerade im Blick auf den Glauben belässt er es nicht bei der Karikatur der jeweils zeittypisch porträtierten Geistlichen, sondern schlüpft geradezu in die Gedanken seiner Protagonisten, in ihre Glaubenssätze und Glaubenszweifel, ihre Gebete und Hoffnungen.
Wie ein Motto steht über dem Roman das Katechismus-Zitat: „Was ist das?“, mit dem jeder Glaubensartikel beginnt. Und der dazugehörige Schlusssatz bekräftigt: „Das ist gewisslich wahr.“
Was aber ist für Thomas Mann, was ist für die von ihm geschilderten Charaktere „gewisslich wahr“? Worin sind sie verwurzelt, worauf sind sie stolz, wem oder was vertrauen sie? „Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“ (Matth 6, 21), wie es schon die Bibel weiß.
Der älteste Konsul Buddenbrook ist fest verwurzelt in der Familientradition, der Firma und dem lutherischen Bekenntnis. Ein starker, freundlicher Patriarch mit Gelassenheit, Lebensklugheit und Standfestigkeit – wie von selbst, wie gottgegeben.
Solche Menschen, denen jeglicher Selbstzweifel fernliegt, die scheinbar immer gut schlafen können – es gibt sie auch heute. Und mal mag man sie bewundern oder beneiden, mal nerven oder langweilen sie …
Sein Sohn Jean, ein Schwärmer, fürchtet die Härte des Vaters, sucht Harmonie und Ausgleich. Er flüchtet geradezu in fromme Gefühle und Sentimentalität, nahe am Kitsch. Immer wieder muss er beschwören, wie Gott gerade ihn wie seinen eigenen Augapfel behütet und beschirmt.
Ein bisschen peinlich können einem solche Menschen sein, die ihre spirituellen Erfahrungen weit ausbreiten, die sich für religiös besonders begabt halten – und andererseits sind Schwärmer ja auch sympathisch, thematisieren sie Erlebnisse und Empfindungen, die wichtig sind.
Thomas ist Derjenige, der die Glaubenszweifel austrägt: Die bürgerliche Religion hat für ihn keine Orientierungskraft mehr, weder in ihrer institutionalisierten Form noch in den gemeinschaftlich organisierten Hausandachten oder Gebetskreisen der Erweckungsbewegung. Er geht den Weg seines Vaters in ästhetisierender Innerlichkeit und individueller Sinnsuche weiter, entfremdet sich von seiner Familie, der Heimatstadt, der Firma. Kaum etwas bindet oder hält ihn.
Was also ist und bleibt „gewisslich wahr“? Was halten wir heute – fast 125 Jahre nach Erscheinen der „Buddenbrooks“ – für wahr? Was bestimmt unsere Identität, was stiftet Sinn und Verbundenheit?
Viele Menschen, so meine Beobachtung, setzen vor allem auf ihre Familie. Weil sie stolz sind auf das von der Familie Erreichte; weil sie sich durch ihre Familie einer bestimmten Kultur, einem Milieu oder einer Schicht zugehörig fühlen; oder weil ihnen die Familie als letzte sichere Bastion erscheint … Für andere jedoch bietet die familiäre Zugehörigkeit nur wacklige Bindungen oder sogar einen problematischen, ungesunden Raum.
Der Beruf, die Firma, die Organisation – sie scheint als identitätsstiftend vor allem dort zu funktionieren, wo der Beruf traditionell hoch angesehen ist oder wo er mit Kreativität oder Innovation, mit Einfluss oder Vermögen verbunden wird. Viele, die heute nach einem sinnvollen Beruf suchen, sogar spät im Leben noch einmal umsatteln.
Und die Religion, der Glaube? Die Institution wird, wie schon von Thomas Mann beobachtet, von immer mehr Menschen abgelehnt, die sich dennoch als christlich bezeichnen würden. Die Kenntnis des Kirchenjahres, von Bibeltexten und Kirchenliedern verschwindet rasant – an eine höhere Macht, wenngleich nicht personifiziert, glauben dennoch viele.
Was ist uns, was ist Ihnen „gewisslich wahr“? Gehört der christliche Glaube zu Ihrer und eurer Identität dazu? Und wenn ja, was oder wie?
Als ich am Freitag im Altenheim im Mittelweg war und die Gottesdienstbesucher fragte, welche Rolle der Glaube für sie spiele, da beschrieb Eine den Glauben als eine innere Zuflucht, einen inneren Raum im Unterschied zu äußeren Welt, in dem sie Trost und Kraft findet.
Eine Andere sprach von ihrem Glauben als ein Vertrauen in Gottes Wege mit ihr: In ihrem Leben sei vieles anders gelaufen als gedacht; da hätte der Satz sie getragen: „Herr, wie du willst!“ Sich anzuvertrauen, sich begleitet zu fühlen, einzuwilligen in Gottes unerforschliche Wege mit uns.
Und dann betonte eine dritte Dame: Der Glaube sei und müsse ohne jeden Zweck sein! Man könne und solle damit nichts Bestimmtes erreichen wollen. Der Glaube als Selbstzweck, vielleicht wie ein Geschenk, eine innere Haltung, die nichts gewinnen will.
Ich musste an das Wort aus dem Hebräerbrief im Neuen Testament denken: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ (Hebr 11, 1)
Ein unsichtbarer Schatz, der unsere Füße auf festen Grund stellt oder uns Türen öffnet, der Gemeinschaft stiftet und Hoffnung. Der sich denen erschließt, die glauben …
Auch die „Buddenbrooks“ enden mit den Worten einer alten Frau: Als eine Gruppe von verwitweten und verwaisten Frauen zusammensitzt und den verstorbenen Familienmitgliedern nachsinnt, als sie sich fragen, was bleibt, was Trost schenkt, ob es wohl einmal ein Wiedersehen im Himmel gäbe … Da steht die alte verwachsene Lehrerin Sesemi Weichbrodt auf und sagt: „Es ist so!“
Ja, daran glaubt sie, das vertritt sie wie eine kleine begeisterte Prophetin: Dass es jenseits von dieser, noch eine andere unsichtbare, ewige Welt gibt. Ein unsichtbares geistliches Reich, das Gott gehört und zu dem wir im Glauben Zugang haben.
Denn „es ist der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ Amen.