Predigttext: Apostelgeschichte 16, 23–34
Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Kerkermeister, sie gut zu bewachen. 24 Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. 25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen. 26 Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab. 27 Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. 28 Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! 29 Der aber forderte ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. 30 Und er führte sie heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde? 31 Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! 32 Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren. 33 Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen 34 und führte sie in sein Haus und bereitete ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war. 35 Als es aber Tag geworden war, sandten die Stadtrichter die Gerichtsdiener und ließen sagen: Lass diese Männer frei! 36 Und der Kerkermeister überbrachte Paulus diese Botschaft: Die Stadtrichter haben hergesandt, dass ihr frei sein sollt. Nun kommt heraus und geht hin in Frieden! 37 Paulus aber sprach zu ihnen: Sie haben uns ohne Recht und Urteil öffentlich geschlagen, die wir doch römische Bürger sind, und in das Gefängnis geworfen, und sollten uns nun heimlich fortschicken? Nein! Sie sollen selbst kommen und uns hinausführen! 38 Die Gerichtsdiener berichteten diese Worte den Stadtrichtern. Da fürchteten sie sich, als sie hörten, dass sie römische Bürger wären, 39 und kamen und redeten ihnen zu, führten sie heraus und baten sie, die Stadt zu verlassen. 40 Da gingen sie aus dem Gefängnis und gingen zu der Lydia. Und als sie die Brüder und Schwestern gesehen und sie getröstet hatten, zogen sie fort.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
„Des Knaben Wunderhorn“, „Der Club der singenden Metzger“, „Wer die Goldkehlchen stört“, „Lenis Lied“ … Wenn ich real oder in Gedanken an meinem Bücherregal entlanggehe, kommen mir die verschiedensten Geschichten in den Sinn, die etwas mit Singen zu tun haben. Die von Menschen erzählen, für die das Singen – allein oder in Gemeinschaft – zentral ist, ihnen Halt, Hoffnung oder Heimat gibt.
Zu solchen Geschichten zählt auch die biblische Erzählung von Paulus und Silas im Gefängnis, die dem heutigen Sonntag Kantate zugeordnet ist. Zwei Männer, die aufgrund ihres christlichen Glaubens in Philippi im Gefängnis sitzen. Im „innersten Gefängnis“, wie die Apostelgeschichte präzisiert, ihre „Füße im Block“ (Apg 16, 24). Bewegungsunfähig, gefesselt, im Dunkeln.
„Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott“ (Apg 16, 25), heißt es. Als die Nacht am Dunkelsten, die Enge am bedrohlichsten ist, fangen sie an zu beten.
Man könnte meinen, hier bewahrheite sich das Sprichwort: „Not lehrt beten.“ Die verbreitete Annahme: Wenn dir das Wasser bis zum Hals steht, dann wirst du Gott schon anrufen und beten! Als würde man spätestens in Notsituationen Beten lernen.
Ich glaube nur, dass das eigentlich nicht stimmt! Denn erstens können oder wollen nach meiner Erfahrung nicht alle Menschen beten, die in Not sind. Schmerz, Erschrecken oder Trauer kann einem auch die Sprache verschlagen. Menschen in Not können auch stumm werden. Und sich wie abgeschnitten von Gott und den Menschen fühlen. In Enge, Isolation oder Finsternis, geradezu wie Paulus und Silas im Gefängnis, bloß eben ohne deren Möglichkeiten, den Mund aufzutun und zu singen, zu beten, zu klagen und zu loben.
Schwer fällt es vielen von uns, den Mund aufzumachen, vielleicht auch gerade in unserer Kultur, wo es heißt: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Als stark gilt, wer mit seinen oder ihren Nöten selbst fertig wird und andere nicht damit belästigt. Wo wir selten laut oder in Gemeinschaft beten und singen, abgesehen vom Chor oder dem Gottesdienst.
Silas und Paulus haben offensichtlich einen anderen Background und eine andere Haltung. „Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott, und die anderen Gefangenen hörten sie.“ (Apg 16, 25) Sie beten anscheinend nicht bloß in Zimmer- oder Zellenlautstärke – was für uns, wenn wir an eine Situation im Krankenzimmer, im Gefängnis oder im Hospiz denken, schon eine Herausforderung wäre! Sie beten und singen so laut, dass die Mitgefangenen sie hören können.
Die Szene erinnert mich an Filme, die die befreiende Kraft von so einem lauten gemeinsamen Singen schildern: eher individuell der bekannte schwedische Chor-Film „Wie im Himmel“, wo eine Frau sich durch die Gemeinschaft und das Singen im Kirchenchor aus einer toxischen Beziehung löst. Oder eher gesellschaftspolitisch der neuere Film „Sing Sing“, der von einem Theaterprojekt in dem berüchtigten gleichnamigen New Yorker Gefängnis erzählt. Manche kennen vielleicht auch den Film über Johnny Cash „Walk The Line“ und darin die Szene zu seinem Song „Folsom Prison Blues“.
In allen drei Filmen, wie auch bei Paulus und Silas im Gefängnis, wird laut gesungen und gebetet, aber es werden – und das ist wohl noch bemerkenswerter! – keine Klagelieder angestimmt. Sondern Hoffnungs- und Loblieder: „Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lobten Gott.“ (Apg 16, 25)
Sie rufen den Gott herbei, den sie lieben und ehren, dem sie jetzt in der Not danken möchten, vor oder mit dem sie sich freuen wollen!
Was könnte das gewesen sein, wofür Silas und Paulus Gott damals lobten? Woran mögen sie sich dankbar und fröhlich erinnert haben?
Was, meinen Sie, meint ihr, könntet ihr erinnern? Welche Bilder, Gefühle, welche Erfahrungen mit Gott könnten wir in uns hervorholen, wenn wir in Not oder Bedrängnis gerieten?
Die Bibel, insbesondere die Psalmen, bieten eine Fülle von Beispielen, wo Menschen gerade in der Not Gott danken und loben für das, was sie individuell oder als Gemeinschaft bisher, vorher schon an Gutem mit ihm erlebt haben: der Dank für die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, das Lob für Gottes einzigartige, wunderbare Schöpfung, der Dank für Bewahrung, Versöhnung oder Neuanfänge, für den Regenbogen nach der Sintflut oder das langersehnte Kind.
Wer erst in der Not anfängt zu beten oder zu singen, kann es schwer haben. Denn ihr oder ihm werden diese guten, stärkenden Bilder, Geschichten und Erinnerungen an Gott nicht unbedingt leicht zur Verfügung stehen. Not kann eben niederdrücken, stumm und einfallslos machen. Und beten, loben, singen fällt leichter, wenn wir sicherer um Gottes Kraft wissen und Gottes Wohltaten lebendiger in uns tragen.
„Count your blessings“, sagte eine ältere Dame und großzügige Unterstützerin unserer Gemeinde immer wieder. Mit dieser allabendlichen Aufforderung ihrer englisch-sprachigen Mutter war sie aufgewachsen. Der Satz wurde ihr Lebensmotto: „Count your blessings!“
Damit wir sie in der Not parat haben – die Erinnerungen oder den Glauben an Gottes Kraft und Segen, seine Liebe und Hilfe.
Als Paulus und Silas im Gefängnis laut beten und Gott loben – da spannen sie an diesem schrecklichen, gewaltvollen, dunklen Ort einen anderen Raum auf. Einen unsichtbaren Raum, der bis zum Himmel reicht und alle Gefängnismauern sprengt. Sie stellen eine Beziehung zu Gott her, die erdet, aufrichtet und Halt gibt.
Das hat Konsequenzen nicht nur für sie selbst, sondern auch für andere. Als durch ein Erdbeben die Gefängnismauern fallen, flieht keiner der Gefangenen. Alle bleiben. Ohne Angst vor Verfolgung oder weiterer Bestrafung. Vielleicht überrascht, vielleicht abwartend. In diesem Raum der Gegenwart Gottes, den Paulus und Silas durch ihren Gesang und ihr Gebet aufgespannt haben, froh und bereit, neu anzufangen.
Der Kerkermeister hingegen, so erzählt es die Apostelgeschichte, will sich das Leben nehmen. Er hat seinen Auftrag verfehlt. Jetzt hat der Peiniger selbst die größte Angst, gepeinigt und bestraft zu werden. So sehr sitzt ihm diese Logik der Gewalt in den Knochen! Und auch er erfährt, was im Raum der Gegenwart Gottes möglich ist: Vergebung, Trost und ein Neuanfang. Er nimmt Paulus und Silas in sein Haus auf, er pflegt ihre Striemen und bewirtet sie. Die Taufe wird für ihn zum Zeichen seiner Lebenswende. Sie bildet am Ende unseres Predigttextes sozusagen das „Happy End“.
Aber die Befreiungsgeschichte von Paulus und Silas, geht eigentlich noch weiter: Denn am nächsten Tag, als die Amtsdiener im Auftrag der Stadtrichter kommen, um sie freizulassen, beharrt Paulus auf der Unrechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung und einer Entschuldigung der Richter. Als römische Bürger, wenn auch christlichen Bekenntnisses, hätten sie gar nicht ohne ein ordentliches Urteil geschlagen und inhaftiert werden dürfen!
Auch dies gehört zum Singen, Beten und Loben; auch dies gehört dazu, den Raum der Liebe und Güte Gottes zu eröffnen: dass daraus Mut erwachsen kann, gegen Willkür, Gewalt und Menschenverachtung aufzustehen, für Recht und Gerechtigkeit im öffentlichen, politischen Leben einzutreten.
„Count your blessings!“ Das ist wichtig – nicht erst, wenn es eng wird und wir unter Druck geraten! Damit wir, wenn es darauf ankommt, singen und beten, Gott loben und ihm danken können. Gewiss, dass wir aus Gottes Raum der Liebe niemals und nirgendwo hinausfallen können. Amen.
Predigttext:
Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Was mir mein Vater gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann es aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins. (Johannes 10, 11-16.27-30)
Predigt
Liebe Gemeinde,
oder vielleicht sollte ich Sie heute am Hirtensonntag als „meine lieben Schäfchen“ anreden. Schließlich bin ich Ihre Pastorin, was auf deutsch nichts anders heißt als „Hirtin“. Trotzdem würde sich vermutlich sofort innerer Widerspruch bei Ihnen regen. Wer will schon gerne als Schaf bezeichnet werden. Schafe kommen bei uns meisten sprichwörtlich schlecht weg: als dummes Schaf, schwarzes Schaf, blökende Herde. Das passt so gar nicht auf Sie.
Vielleicht ist das Bild inzwischen einfach veraltet. Ich erinnere es aus meiner frühesten Kindheit: Da hing über dem Bett meiner Großeltern ein goldgerahmtes Gemälde. Darauf war ein Mann in einer lieblichen Landschaft zu sehen, umringt von Schafen, ein Lamm über die Schulter gelegt, mit einem Stab in der Hand. Der gute Hirte.
Ziemlich kitschig dieses Schäferidyll. Das spricht heute vermutlich niemanden mehr an. Wir leben ja auch nicht mehr in einer Agrargesellschaft. Ich vermute mal, dass Ihr Konfirmand:innen alle noch nicht so besonders viele Begegnungen mit Hirten und Schafherden hattet. Aus nachvollziehbaren Gründen ist es ziemlich schwer geworden, im Hier und Heute auf Personen zu treffen, die noch Nutztiere hüten. Das mit den Nutztieren geht ja in unseren Breitengraden inzwischen alles sehr viel effizienter. Leider lassen sich aus dieser Art Nutztierhaltung dann keine schönen poetischen Texte mehr dichten, die dann als Bild für Gottes Zuwendung herhalten können.
Das Hirten-Bild ist heute vielleicht nicht mehr besonders anschlussfähig für 14-Jährige aus Harvestehude und für andere, für Ältere auch nicht. Ein Kollege1 hat einmal darüber nachgedacht, ob Paketzusteller als Berufsgruppe nicht sehr viel verständlicher sei: Wem mangelt, der bestellt. Und der Paketbote liefert. Der „gute Paketbote“ sorgt auch dafür, dass kein Paket verloren geht, bringt fehlgeleitete Sendungen dann doch an ihr Ziel, geht pfleglich mit dem ihm Anvertrauten um. Und auch sonst kann man durchaus Parallelen zwischen heutigen Paketzustellern und damaligen Hirten ziehen: Es ist ein harter Knochenjob, die Bezahlung ist schlecht, die Arbeitsbedingungen prekär. Nur gibt es für Paketzusteller keine romantische Verklärung wie für Hirten. Und ehrlich gesagt: Mit einem Paketzusteller-Psalm 23a würde ich mich schwertun.
Ich gebe zu, ich mag das biblische Bild vom Hirten, obwohl auch ich keinem mehr in Echt begegne. Deswegen bitte ich Sie, sich heute einmal darauf einzulassen und mit mir einzutauchen in diese ferne Welt der Hirten und Herden, in dieses uralte Bild, das sich durch die ganze Bibel zieht.
Die Menschen damals sind verwurzelt in einer agrarischen Gesellschaft. Ihre Vorfahren lebten noch als Nomaden, Viehherden waren die Lebensgrundlage schlechthin. Die Hirten waren für den Bestand und das Wachstum verantwortlich, sie schützten die Tiere vor Räubern und Raubtieren. Mose war Hirte, Jakob hatte Schafsherden, Josefs Brüder waren mit den Schafen auf den Weiden und David hütete Schafe, bevor er als König ein guter, später auch idealisierter Menschenhirte wurde. Das sind die Hirten-Vorbilder.
Und auch die abschreckenden Beispiele sind präsent, z.B. in den prophetischen Texten. Da wird geklagt über weltliche und geistliche Herrscher: über Könige, die ihr Fähnchen machtpolitisch in den Wind hängen, über Priester, deren Frömmigkeit scheinheilig ist, über falsche Propheten, die den Mächtigen nach dem Mund reden, statt Unrecht anzuprangern. Und das Volk musste ausbaden, was die Herrscher verbockt hatten, nämlich dass das Land erobert und geplündert wurde, die Bevölkerung ins Exil geführt. Nur zu verständlich, dass die Menschen sich nach einem König sehnen, der ihnen Frieden bringt, der nicht für seine Machtgier das Leben seiner Untertanen einsetzt, sondern der es als seine Aufgabe sieht, sich um das Wohlergehen seines Volkes zu kümmern. Ein König wie David eben. Ein von Gott Auserwählter und durch seine Propheten Gesalbter. Gesalbter heißt auf Hebräisch Messias. Groß ist die Sehnsucht also nach dem Messias, der dafür sorgt, dass die Menschen in Ruhe und Frieden leben können, ihr Auskommen haben und geschützt sind – wie gut behütete Schafe eben.
Als ich über diese Predigt nachgedacht habe, habe ich im Deutschlandfunk ein Interview mit Avi Primor gehört, einem der früheren Botschafter Israels in Deutschland. Er sprach davon, dass die Mehrheit der Israelis, auch wenn sie sonst gespalten sind, dass die Mehrheit der Israelis Frieden will und dass der Krieg in Gaza nichts anderem dient als dem innerpolitischen Machterhalt der derzeitigen Regierung.
Das Bild des Hirten mag veraltet sein. Das, wovon es spricht, ist leider immer noch hochaktuell und nicht nur in Israel und Palästina. „Schlechten Hirten“ begegnen wir auch heute noch in Echt. Führungspersönlichkeiten nämlich, die entweder inkompetent sind oder ihre Machtposition bewusst ausnützen. „Hirten, die sich selbst weiden“, formuliert der Prophet Ezechiel sehr treffend, wir haben es vorhin gehört. Ich schätze, Ihnen allen fallen sofort Regierende, Machthaber, Firmenchefs unserer Zeit ein, die ihre Herde gerne dorthin führen, wo sie selbst gut weiden, sich die eigenen Bäuche und Taschen voll machen können. Menschen in Verantwortung für Staaten oder auch Firmenimperien, denen es völlig egal scheint, ob sie die ihnen anvertraute Menge der Bevölkerung oder Angestellten im Kreis herumführen und null Orientierung oder Schutz bieten. Ihnen geht es um den Gewinn an Macht oder Geld oder beidem. „Es gibt den Wolf nicht nur im Schafspelz, sondern auch im Hirtengewand.“2 Und wir müssen dabei nicht mal so groß und global oder staatstragend denken. Das reicht ja vom „verhaltensauffälligen Präsidenten“ bis hinunter zur Abteilungsleiterin, die ein toxisches Arbeitsklima schafft, ihre Mitarbeitenden mit unbezahlten Überstunden ausbeutet, feuert, wer nicht liefert, und keine Strategie erkennen lässt, weil sie selbst völlig unstrukturiert ist.
Wie schön wäre es, wenn Personen, die in irgendeiner Hierarchie über anderen stehen, nicht nur über diese bestimmten würden, sondern auch ihre Fürsorgepflicht wahrnähmen. So eben wie ein Hirte, der nicht nur bestimmt, wo die Schafe weiden, sondern darauf schaut, dass sie satt werden, gesund bleiben, nicht verloren gehen und sie notfalls auch vor wilden Tieren schützt.
Viele Jahrhunderte nach Ezechiel ruht genau diese Sehnsucht auf Jesus. Johannes greift das auf und malt das Bild vom guten Hirten. Er stellt dem „Mietling“ – also dem Hirten, der nur angemietet ist und für Bezahlung den Job macht – Jesus gegenüber, dem die Schafe gehören. „Sie sind die Meinen“ sagt Jesus. Und das heißt, dass er alles für sie tut. Worst case: Der Wolf kommt und er muss die Schafe mit seinem Leben verteidigen. Auch das tut er, auch das hat er getan. Sein Leben hingegeben. Karfreitag liegt noch keine 3 Wochen zurück. Jesus Opferlamm und guter Hirte in einem.
Wenn wir heute gemeinsam auf dieses Bild schauen, dann suchen wir ja unseren Platz darin. Und auch wir finden uns in beiden Positionen: Es geht um das Führen und Geführt-werden – und wir kennen uns sicher in beiden Rollen, je nachdem ob wir uns in der Familie bewegen, am Arbeitsplatz, im Ehrenamt oder Freundeskreis. Wir sind, um im Bild zu bleiben, mal Hirte, mal Schaf als Vater oder als Jugendliche. Als Abteilungsleiterin oder als Angestellter. Als Mitglieder des Kirchengemeinderates oder als Gottesdienstbesucherin. Als diejenige, die für den Freundeskreis die Wanderung organisiert, oder derjenige, der gerne mitläuft, ohne sich um etwas kümmern zu müssen. Wir kennen beide Rollen und manchmal wissen wir vielleicht auch nicht so genau, auf welcher Seite wir gerade stehen oder stehen wollen oder stehen sollten. Beide Rollen haben schöne und schwere Seiten: Das Schaf muss machen, was gesagt wird, der Hirte hat immer Schuld. Der Hirte kann gestalten, das Schaf kann relaxen.
Es ist immer einfach, an „denen da oben“ rumzumeckern, an denen, die die Entscheidungen treffen und die Richtung vorgeben, wo das Gras am grünsten sein könnte. Von denen erwartet man, dass sie möglichst auch in Dürreperioden saftige Wiesen finden und ist empört, wenn man nur gelbliches Gras kriegt. Kommunalpolitiker und Bürgermeisterinnen können ein Lied davon singen, wie sie mit Hohn und Häme, Hass und Hetze überzogen werden, weil jeder glaubt, es besser zu können. Sicher ist aber auch, dass es Zeiten gegeben hat, wo Menschen kritiklos schlechten Führern gefolgt sind. Schafe dürfen auch nicht dumm sein, sonst rennen sie ins Verderben.
Wir wollen ja gestalten und eigenverantwortlich sein und gleichzeitig lebt die kindliche Sehnsucht in uns, dass da jemand ist, der uns Entscheidungen zu unserm Besten abnehmen könnte, der für uns da ist und uns beschützt. Dieser Zwiespalt ist im Menschen schon in der Schöpfung angelegt: Weil der Menschen ist wie Gott, ihm ähnlich, aber eben nicht Gott ist, steckt er fest zwischen Autonomie und Angewiesen sein.
In dieser Zwickmühle hält uns Johannes das Bild vom guten Hirten vor. Ich glaube, es kann uns in dreierlei Hinsicht helfen:
Zum einen frage ich mich „als Schaf“: Wem kann und will ich folgen, wer meint es gut mit mir und wem kann ich vertrauen.
Zum anderen habe ich „als Hirtin“ ein Vorbild, wie gute Führung aussehen könnte. Zugegeben ein Vorbild an das ich nie heranreichen werde, aber das ist die richtige Richtung.
Und zum dritten können wir alle darauf vertrauen, dass wir einen guten Hirten haben: Dass Gott jemand ist, der uns behütet und beschützt, ohne uns einzupferchen. Als Gläubige sind wir keine dummen oder lammfrommen Schafe, auch keine blökende Herde. Wir leben auch nicht eingezäunt oder im Stall, sondern die Weide ist offen. Wir sind frei, frei auch davonzulaufen, auf Abstand zu gehen. Wir hören die Stimme dieses Hirten, hier und heute. Und ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass es gut ist, in seiner Nähe zu bleiben. Ich kann es Ihnen nur empfehlen. Amen.
1 Axel Reimann, Newsletter Andere Zeiten Mai 2023
2 Perikopenbuch, Misericodias Domini
Predit zum Osterlied „Auf, auf, mein Herz mit Freuden“ (1647)
Text: Paul Gerhardt; Melodie: Johann Crüger
Liebe Gemeinde,
noch ist es sehr früh am Morgen. Noch sitzen wir hier im Dunkeln oder zumindest im Schummrigen. Und vermutlich tun wir das emotional auch: Wir kommen gerade erst aus der Passionszeit, in der wir uns mit Leiden und Sterben beschäftigt haben. Da geht es um Fragen von Verrat und Schuld, von Angst, Unrecht und Grausamkeit. Fragen, die wir nicht nur aus dem Leben Jesu kennen, sondern die ja auch heute bei uns präsent sind, die uns umtreiben im Privaten oder auch im Blick auf die Welt.
Und jetzt der emotionale Umschwung: „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ – so beginnt das Osterlied von Paul Gerhardt. Diese Wochen – erst die Fastenzeit und dann das Osterfest –sind eine emotionale Achterbahnfahrt und heute, genau jetzt haben wir den Umkehrpunkt erreicht, wo es aus dem tiefsten Punkt den Wagen wieder nach oben reißt. Und Pauls Gerhardt will uns ganz wörtlich mitreißen. In der 6. Strophe reißet uns Christus durch den Tod und die Welt, Sünd und Not bis in den Himmel. Und das „Reißen“ schreibt sich mit scharfem „ß“, es ist keine gemütliche Osterreise, zu der wir eingeladen werden. Das ist Achterbahn pur. Ich weiß nicht, ob Sie so früh am Morgen schon darauf eingestellt sind. Und ich muss gestehen, ich fahre nicht gerne Achterbahn. Weder körperlich noch gefühlsmäßig. Mir fällt dieser emotionale Umschwung an Ostern immer schwer und ich kriege ihn nicht gut hin ohne diesen Gottesdienst am Morgen, wo ich den Umkehrpunkt hautnah erleben kann, wenn das Morgenlicht die Nacht vertreibt.
Auch die biblischen Geschichten sprechen nicht davon, dass auf Knopfdruck am Grab das Freudengeschrei einsetzte. Das älteste Evangelium erzählt von Furcht und Entsetzen der
Frauen. Wir brauchen ein bisschen Zeit, um da gefühlsmäßig hinterher zu kommen. Und Paul Gerhardt will uns dabei helfen. Er gibt uns mit seinem Osterlied einen Schubs, zugegeben einen ziemlich kräftigen.
„Auf, auf“ – so geht es los mit einer Terz, die den Kuckuck imitiert und die wir schon im Lichtruf: „Christus Licht – der Welt“ gehört haben. Kuck- kuck – Hal-lo – aufwachen. Es ist Ostern! So ruft uns Gerhardt zu dem, was er ein „Freudenspiel“ nennt, und das führt er in seinen 8 Strophen (ursprünglich waren es noch mehr) mit opulenten Bildern für uns auf.
1) Auf, auf, mein Herz, mit Freuden nimm wahr, was heut geschieht;
wie kommt nach großem Leiden nun ein so großes Licht!
Mein Heiland war gelegt, da, wo man uns hinträgt,
wenn von uns unser Geist gen Himmel ist gereist.
2) Er war ins Grab gesenket, der Feind trieb groß Geschrei;
eh er’s vermeint und denket, ist Christus wieder frei
und ruft „Viktoria“, schwingt fröhlich hier und da
sein Fähnlein als ein Held, der Feld und Mut behält.
3) Das ist mir anzuschauen ein rechtes Freudenspiel;
nun soll mir nicht mehr grauen vor allem, was mir will
entnehmen meinen Mut zusamt dem edlen Gut,
so mir durch Jesus Christ aus Lieb erworben ist.
Ostern ist eigentlich unglaublich. Es ist mit dem Verstand nicht zu begreifen. Deswegen spricht die erste Strophe gleich das Herz an. Was kognitiv schwer nachvollziehbar ist, die Gefühlswelt kennt das durchaus: Nämlich dass Menschen von der Trauer zurück zur Freude finden. Nichts anderes erzählen die Osterberichte: Sie schildern ja nicht, wie der tote Jesus die Augen aufschlägt, wie sein Atem und Puls zurückkommen, wie er sich langsam erhebt. Ostern erfahren wir „nur“ gespiegelt in den emotionalen Reaktionen der Zeug:innen, und zwar in der ganzen Bandbreit: Erschrecken, ungläubiges Staunen und dann eben Freude und Zuversicht. „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ – Ostern ist ein Herz-Fest.
Und was geht mehr zu Herzen als eine fröhliche Melodie? Die hat Johann Crüger, ein Berliner Kantor und Gerhardts Freund, denn auch diesem Ostertext verpasst: ein italienischer Tanz–rhythmus, walzerartig im 6/4 Takt zu Beginn, drängt die Weise vorwärts – ein Auferstehungstanz, der uns einlädt mitzutanzen bei diesem Freudenspiel.
Und eine Art Schauspiel ist es wirklich, was Gerhardt für uns da auf die Bühne bringt: Da wird gekämpft und gesiegt, geschrien und gerufen, Christus jubelt Victoria und weil es damals noch kein Viktory-Zeichen (vormachen) gab, schwingt er die Siegesfahne. Sie ist auf vielen alten Osterdarstellungen zu sehen: Die weiße Fahne mit dem roten Kreuz symbolisiert die Auferstehung. Wenn nachher mehr Licht durch unsere Kirchenfenster kommt, können Sie die Fahne auch erkennen – oben im 2. Kirchenfenster von rechts. Dort hält das Osterlamm die Fahne hoch.
Die Metapher vom Kampf findet sich mehrfach im Lied: das Dunkle, die Höll und ihre Rotten, der Tod mit seiner Macht im Kampf gegen das Licht und den, der von sich sagt, ich bin das Licht.
4) Die Höll und ihre Rotten, die krümmen mir kein Haar;
der Sünden kann ich spotten, bleib allzeit ohn Gefahr.
Der Tod mit seiner Macht wird nichts bei mir geacht’;
er bleibt ein totes Bild, und wär er noch so wild.
5) Die Welt ist mir ein Lachen mit ihrem großen Zorn;
sie zürnt und kann nichts machen, all Arbeit ist verlorn.
Die Trübsal trübt mir nicht mein Herz und Angesicht;
das Unglück ist mein Glück, die Nacht mein Sonnenblick.
6) Ich hang und bleib auch hangen an Christus als ein Glied;
wo mein Haupt durch ist gangen, da nimmt er mich auch mit.
Er reißet durch den Tod, durch Welt, durch Sünd, durch Not,
er reißet durch die Höll; ich bin stets sein Gesell.
Uns ist diese Bildwelt vermutlich fremd. So würde ich Ostern nicht beschreiben. Aber das Lied ist 1647 entstanden, d.h. ein Jahr vor dem westfälischen Frieden, mit dem der 30-jährige Krieg endete. Die das damals zu Ostern sangen, haben jahr–zehntelanges Gemetzel hinter sich. Viele Menschen kennen gar nichts anderes als Kämpfen, Leiden und Sterben. Sterben nicht nur im Krieg, sondern auch an den Pestwellen, die es immer wieder gab. Gerhardt selbst hat seinen Vater verloren, als er 12 war, seine Mutter 2 Jahre später, ein Bruder stirbt an der Pest. Von fünf seiner Kinder überlebt nur eines die Eltern. Der „wilde Tod“, der in der 4. Strophe auftritt, ist allgegenwärtig. Das Leid, das Paul Gerhardt in den Blick nimmt, ist nicht nur das Leid Christi, sondern sein eigenes, das seiner Mitmenschen, das seiner ganzen Umwelt. „Die Welt zürnt“ so beschreibt er es in der 5. Strophe.
Vielleicht kann, vielleicht muss man das auch über unsere Zeit heute sagen. Viele erleben unsere Welt heute auch als bedrohlich und bedroht.
Und dieser Bedrohung – die Gerhardt ja nun hautnah erlebt und erlitten hat – der lacht er ins Gesicht: „Die Welt ist mir ein Lachen“, dichtet er und es folgen paradoxe Formulierungen: Trübsal trübt nicht, das Unglück ist mein Glück, die Nacht mein Sonnenlicht.
Ostern dreht alles um, so die Botschaft des Liedes, Ostern macht aus der Fahrt in den Abgrund eine Fahrt in den Himmel. Das Freudenspiel ist schon aufgeführt, das gute Ende schwingt in der Siegesfahne von Christus vor unseren Augen.
Für Paul Gerhardt ist die Geschichte vom Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu keine Erzählung aus ferner Vergangenheit, sondern sie betrifft unser Leben, meines und Ihres. Wir hängen alle mit drin, wir hängen mit dran: „Ich hang und bleib auch hangen an Christus als ein Glied“. Wir sind keine unbeteiligten Zuschauer und Zuschauerinnen, wir spielen mit. Das macht schon der Auftakt klar: „Auf, auf mein Herz!“. Das „Ich“, das „Wir“ ist allgegenwärtig in Gerhardts Strophen. „Mein Heiland war gelegt, da wo man uns hinträgt.“ Das, was da geschieht, hat ganz essentiell mit meinem, mit Ihrem Leben und Sterben zu tun. Gerhardt geht es nicht um das Osterereignis an sich, sondern das, was es für Sie und mich bedeutet. Und er malt das aus für die Menschen seiner Zeit. Sie sind bedroht – aber sie werden siegen. Das Leben ist eine Achterbahnfahrt, aber die endet nicht im Abgrund. Und weil wir das wissen, können wir manches gelassener sehen, können wir uns manche Sorgen und Ängste besser vom Leib halten, manches Scheitern mit Humor nehmen. Es ist ein Mutmachlied, dass wir – egal was uns begegnet in dieser zürnenden Welt – keine Angst haben müssen, darin unterzugehen. Das, was da aufgeführt wird, ist keine Tragödie, auch wenn manche Szene so anmuten mag, es ist ein Freudenspiel. Eines, das uns direkt in den Himmel führt.
7) Er dringt zum Saal der Ehren, ich folg ihm immer nach
und darf mich gar nicht kehren an einzig Ungemach.
Es tobe, was da kann, mein Haupt nimmt sich mein an,
mein Heiland ist mein Schild, der alles Toben stillt.
8) Er bringt mich an die Pforten, die in den Himmel führt,
daran mit güldnen Worten der Reim gelesen wird:
Wer dort wird mit verhöhnt, wird hier auch mit gekrönt;
wer dort mit sterben geht, wird hier auch mit erhöht.
Viele Gesangbuchlieder landen dort, wo uns die beiden letzten Strophen hinführen: An der Himmelspforte oder im Jenseits. Man könnte meinen: Weltflucht ist der einzige Ausweg aus dieser zürnenden Welt, erst recht vor der Kulisse des 30-jährigen Krieges. Aber das wird der Frömmigkeit eines Paul Gerhardt nicht gerecht. Diese „Himmelsstrophen“ nenne ich sie jetzt mal, heben hervor, dass der christliche Glaube eine Hoffnung in sich trägt, dass das, was hier bruchstückhaft und unbefriedigend bleibt, später vollendet und ins rechte Licht gerückt wird. Dieses Leben hier ist das Vorletzte und nicht das Letzte. Es ist ein Leben mit Höhen und Tiefen, manchmal muss man sich durchkämpfen, manchmal hat man das Gefühl, vom Schicksal hin- und hergerissen zu werden, Achterbahnfahrt eben. Aber wir sind diesem Auf und Ab nicht willkürlich ausgeliefert. Da hat jemand das Steuer in der Hand. Der, der das Toben stillt, wie es die 7. Strophe besingt. Dieser Ausblick auf das Jenseits, kann dem Lebensgefühl im Hier und Jetzt eine andere Wendung geben. Gerhardt will gerade mit seinem Hölle- und Himmel-Szenario uns Mut machen für das tägliche Aufstehen im Leben:
Wenn Menschen sich dem Leben anvertrauen, Ängste überwinden, Drohungen keinen Raum gehen, Hoffnungsvolles sehen, andere darauf verweisen, dann können wir die Siegesfahne des Lebens sehen. Den Sieg des Lebens beschreibt Gerhardt als das große Licht, das kommt. Es kommt so unwiderruflich wie heute morgen das Licht kommt. Sie werden alle in einen hellen Morgen hinausgehen. Das ist Ostern.
Vielleicht brauchen auch wir einen Schubser, ein „auf- auf“, um uns freuen zu können. „Auf, auf – mein Herz freue dich“, denn wir leben im Horizont von Leben, das stärker ist als alles, was es bedroht. Also freut euch mit mir darauf, in das Licht des Tages hinauszugehen, freut euch an diesem Fest. Lasst uns Ostern feiern. Amen.
Predigttext: Johannes 19, 16–30
Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde. Sie nahmen ihn aber, 17 und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. 18 Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte. 19 Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. 20 Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. 21 Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König. 22 Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. 23 Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. 24 Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten. 25 Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und seiner Mutter Schwester, Maria, die Frau des Klopas, und Maria Magdalena. 26 Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! 27 Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. 28 Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. 29 Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund. 30 Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von Gott!
„Ich will hier bei dir stehen,
verachte mich doch nicht;
von dir will ich nicht gehen,
wenn dir dein Herze bricht …“
(EG 85, 6)
Diese Worte aus dem Choral, den wir eben gesungen haben, die manchen unter uns vor allem aus Bachs Matthäus-Passion vertraut sind – diese Worte stellen uns mit unter das Kreuz. Unter oder neben den Gekreuzigten, wo sich nach der Erzählung des Johannes-Evangeliums ein Kraftfeld unterschiedlichster Energien entfaltet.
Die Aufschrift des wankelmütigen, unentschlossenen Präfekten Pilatus, der halb spöttisch, halb ehrfürchtig in allen drei damaligen Weltsprachen schreiben lässt: „Jesus von Nazareth, König der Juden“ (V. 19). In ihrer Zwiespältigkeit steht die Tafel wie eine Überschrift über den widerstreitenden Energien, die unter Jesu Kreuz laut werden:
Der Widerspruch und die Rechthaberei der Hohenpriester, die fordern: „Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt hat: Ich bin der Juden König.“ (V. 21) Der Streit, der Ärger und die Wut, die sich an Jesus entzündet haben schon zu Lebzeiten und sich an ihm austoben bis zu seinen letzten Atemzügen.
Die Gier der Soldaten, das Haben-Wollen: Wie Tiere zerren sie seine Kleidung auseinander, reißen an sich, was sie nur kriegen können. Bloß den Umhang, den „Rock“, der in einem Stück gewebt ist, rühren sie nicht an. Als dämmerte ihnen, wie sie da unter dem Sterbenden handeln …
Die Erstarrung der vier Frauen: Von Jesu Mutter und ihrer Schwester, von Maria, der Frau des Klopas, und Maria Magdalena – von keiner der Frauen unter dem Kreuz ist uns auch nur ein Wort überliefert. Als hätte Jesu Qual, seine Folter ihnen die Sprache verschlagen. Stumm und starr vor Entsetzen mögen sie sich kaum auf den Beinen gehalten haben.
Verstummt ist auch Johannes. Auch Jesu liebster Freund sagt nichts. Er wird wie Maria zum Gekreuzigten hochgeblickt haben, als dieser sie anspricht: „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ Und: „Siehe, das ist deine Mutter!“ Kaum vorstellbar, dass die beiden gleich verstanden, was Jesus ihnen da sagte. Und doch heißt es: „Von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ (V. 26f)
An unterschiedliche Plätze schickt uns das Johannes-Evangelium, bietet uns verschiedene Identifikationsmöglichkeiten an, eröffnet uns unterschiedliche Perspektiven auf das Kreuz und zugleich auf uns selbst und unser Leben.
Erkennen mögen wir in dieser aufgewühlten Szene unter dem Kreuz unsere eigene Wankelmütigkeit oder unser Nicht-Verstehen, wenn wir manchmal gar nicht begreifen, welche Momente der Fülle, welche Begegnungen oder Erlebnisse uns im Alltag geschenkt werden … Erkennen mögen wir unser Rechthaben-Wollen, unsere Ich-Bezogenheit und den Wunsch, uns möglichst oft gegen andere durchzusetzen …. Vielleicht fühlen wir auch unsere Gier, unsere Lust zu besitzen, zu kaufen, zu essen … Und wir sehen vielleicht auch unsere Erstarrung und Stummheit, wo es eher dran wäre, dass wir in Bewegung kommen und den Mund aufmachen, klagen oder kämpfen.
Beides – unser Mittun am Leid von anderen, ob aktiv oder passiv, wie auch unser Mitleid, unsere Liebe und Verbundenheit mit anderen – findet seinen Platz in uns unterm Kreuz.
Und unwillkürlich mögen uns dabei auch die Menschen in den Blick kommen, mit denen wir heute verbunden sind: die, an deren Hunger wir Mitschuld tragen, mit denen wir nicht teilen, die wir lieber vergessen wollen. Oder auch die, die uns herausfordern, deren Nähe wir kaum ertragen können. Und ebenso auch die, deren Leiden und Sterben wir begleiten mussten oder müssen, und es zerreißt uns das Herz.
Schuld, Schmerz, Wut und Liebe – so viel, was uns unter oder im Angesicht des Kreuzes treffen kann …
„Erkenne mich, mein Hüter,
mein Hirte, nimm mich an …“
(EG 85, 5)
Der große Lieddichter Paul Gerhardt fasst hier in Worte die widerstreitenden Empfindungen und Erfahrungen, die wir kaum in uns zusammenhalten können. Sodass wir das Gegenüber Jesus Christus, den Hüter und Hirten, den Bruder und Geliebten brauchen, der das teilt und versteht, was wir allein nicht tragen oder an uns selbst nicht ertragen können.
Manche von Ihnen und euch mögen das Kreuz von San Damiano kennen, das sog. Franziskus-Kreuz, das den Heiligen Franz von Assisi um 1200 zu seiner radikalen Jesus-Nachfolge inspiriert hat. Bis heute ist das etwa zwei Meter hohe, bemalte Holzkreuz, das einer Ikone ähnelt, in der Basilica Santa Chiara in Assisi zu sehen. Es zeigt den aufrechten Gekreuzigten mit dunklen, offenen Augen und weit ausgebreiteten Armen. Zu allen Seiten ist er von Menschen umgeben: Die Heiligen und Patrone von Umbrien stützen seine Füße. Ihm zu Seiten stehen ernst Maria und Johannes sowie zwei weitere Marien und der römische Beamte mit seinem Kind, das Jesus heilte. Engel unterhalten sich fröhlich unter Jesu Armen. Frauen empfangen lächelnd etwas aus seinen geöffneten Händen …
Wer sich nicht in die Nähe des Gekreuzigten begibt – so die Aussage dieser Kreuzesdarstellung – der oder die wird nicht erfahren, was er zu geben hat.
Denn in der Nähe zum Gekreuzigten, zum Geliebten, in seinem Kreuz liegt der Anfang zur Veränderung, der Keim des Neuen. Durch das Kreuz, den Schmerz, durch Erstarrung und Entsetzen muss hindurch, wer Anteil am neuen Leben bekommen will. Diesen Weg gehen wir aber nicht allein, sondern mit Jesus Christus. Darin liegt das Geheimnis Gottes, dafür steht das Kreuz – so verstehe ich es.
So wir erkennen, wie wir unter dem Kreuz stehen und wie der Weg durch das Kreuz mit Jesus Christus führt, so ist uns der Ostermorgen, so ist uns neues, anderes Leben verheißen.
Dessen Vorzeichen und Spuren der Evangelist Johannes schon in der Kreuzigungsszene anlegt:
Die Aufschrift des Pilatus, der nur halb-bewusst den neuen König in allen Weltsprachen verkünden lässt. Den universalen König, der für Gewalt- und Besitzverzicht steht, für Sanftmut und Barmherzigkeit. Den König der Herzen, der uns die Tür zu Gottes Reich aufstößt.
Die Zurückhaltung der Soldaten, die das in einem Stück gewebte Tuch nicht anrühren. Das Kleid, das Bild oder die Botschaft Jesu bleibt ungeteilt, unzerstört. Man kann davon nicht nur einzelne Teile nehmen. Es ist eine Botschaft und ein Weg, auf den Jesus uns ruft.
Die Gemeinschaft der vier Frauen, die zusammenhalten. Sie wissen: Allein ist die Botschaft des Kreuzes nicht zu fassen; allein ist Nachfolge nicht möglich. Immer hat Jesus Gemeinschaften gebildet und Menschen versöhnt. Selbst seine Jünger sendet er wenigstens paarweise, zu zweit aus.
Der Auftrag an Maria und an Johannes, sich gegenseitig wie einen Sohn, wie eine Mutter anzunehmen. Familie, die Jesus jenseits von biologischer Zugehörigkeit stiftet. Familie, die durch Verantwortung und Verbundenheit entsteht, und manchmal auch durch Verletzung und Trauer.
All diese Sätze und Zeichen unter dem Kreuz – sie deuten an, wohin der Weg durch das Kreuz einmal führen wird … Was denen verheißen ist, die sich Leid und Schuld stellen, die Liebe und Schmerz fühlen. Und die sich auf den Kreuzwegen in ihrem Leben und in unserer Zeit und Welt Jesus Christus anvertrauen.
„Ich will hier bei dir stehen,
verachte mich doch nicht …“,
heißt es im Choral.
Und wir mögen diese Worte heute aufnehmen und in unserem Leben weiterschreiben:
Bei dir wollen wir stehen, von dir nicht gehen.
Bei dir wollen wir bleiben im Leben und im Sterben,
bis einmal dein neuer großer Tag anbricht
und wir dich sehen von Angesicht zu Angesicht.
Amen.
Predigttext:
Einzug in Jerusalem
Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte. Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.
Predigt:
Als Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 – also einen Monat vor Kriegsende – hingerichtet wird, saß er schon zwei Jahre lang im Gefängnis. Eine Zeit, in der viele seiner eindrücklichsten Texte entstehen: sein Glaubensbekenntnis z.B., das am letzten Sonntag hier bepredigt wurde, und auch das wunderbare Gedicht „Von guten Mächten“. Diese Texte zeigen, wie Bonhoeffer seine widerstreitenden Gefühle, das Bangen – „und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern“ und Hoffen – „doch willst du uns noch einmal Freude schenken“ – vor Gott bringt: Er hofft auf Freiheit und eine Zukunft, er ahnt, dass ihm das Todesurteil drohen könnte.
Im Juli des Jahres 1944 ist Bonhoeffer besonders angespannt, denn er weiß von den Anschlagplänen auf Hitler. Er weiß noch nicht, was wir heute wissen: dass das Attentat auf Hitler am 20. Juli schief gehen wird. In diesen Tagen, am 8. Juli, schreibt er an seinen Freund Eberhard Bethge und legt diesem Brief ein kurzes Gedicht bei. Vertont klingt es so.
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.
Not kennt Bonhoeffer genug: Tagtäglich erlebt er sie im Gefängnis. Er fühlt sich ohnmächtig wie „ein Vogel im Käfig“, so schreibt er an anderer Stelle, „ringend nach Lebensatmen, als würgte mir einer die Kehle“. Er erlebt die Willkür der Wachen, die alltäglichen Kränkungen in der Haft. Und er sorgt sich nicht nur um sein eigenes Schicksal, sondern um so viele andere. Um seine Familie – Bruder und Schwager sind ebenfalls inhaftiert – um seine Freunde im Widerstand, um die Juden, über deren Schicksal unter den Nazis er sich nie Illusionen gemacht hat.
Ja, Not kennen die Menschen zu dieser Zeit genug, vor allem natürlich in den Konzentrationslagern und den Kriegsgebieten.
Not lehrt beten, heißt es, oder mit Bonhoeffer: „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not.“ Sie bitten um das, was sie zum Überleben brauchen: um Brot. Und um das, was aus Überleben echtes Leben macht: um Glück. Um Sinn und Erfüllung, Zufriedenheit und Liebe.
„So tun sie alle“ lautet die letzte Zeile der Strophe, die uns aus der konkreten geschichtlichen Situation im 3. Reich herausführt und uns heute mit unserer aktuellen Not mit hineinnimmt. Ich vermute, dass wir allein hier in dieser Kirche all das versammelt haben, was menschliche Not ausmachen kann: Sorge um schwächer werdende Eltern und um die Zukunft der Kinder, berufliche Sackgassen und Scheitern, Krankheit und Schmerzen, Einsamkeit, Trauer. Sorge auch um den Zustand dieser Welt, das Klima, die Kriege, Migration, Wirtschaft, wackelige demokratische Systeme und so weiter. Ja, all das bringen wir auch heute vor Gott. Als Einzelne und immer wieder hier gemeinsam.
Erstaunlich an dieser ersten Strophe von Bonhoeffers Gedicht sind vielleicht nur die letzten drei Worte, die dem Gedicht auch den Titel gegeben haben: „Christen und Heiden“. Auch Heiden machen sich auf den Weg zu Gott, behauptet Bonhoeffer. Ich verstehe das so: Wer die menschliche Ohnmacht erlebt, der wendet sich an eine höhere Instanz als letzten Ausweg. Das Verlangen, dass das Leid ein Ende haben soll, das vereint alle Menschen, egal ob gläubig oder nicht. Und damit auch die Sehnsucht, dass es da eine höhere Kraft geben müsste, die für Recht sorgen kann, die aus Krankheit, Schuld und Tod erretten kann. Wer die menschliche Ohnmacht erlebt, der sucht nach einem allmächtigen Gott. Am besten nach einem deus ex machina. Aber wenn man in diese Welt schaut mit ihrem ganzen Leid, dann möchte man an der Vorstellung eines allmächtigen Gottes verzweifeln. Dann landet man bei der Theodizeefrage, also: Wieso lässt Gott Leid zu? So ist es uns neulich ergangen, als wir in einer kleinen Runde über das Glaubensbekenntnis diskutiert haben. Wie kann man „Ich glaube an Gott, den Allmächtigen“ mitsprechen, haben wir uns gemeinsam gefragt.
Vielleicht so, wie Bonhoeffer das in seiner 2. Strophe tut. Auf der Suche nach dem allmächtigen Gott, trifft er auf den ohnmächtigen:
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.
Das ist nicht unbedingt das, was wir zu hören erwarten, was wir zu hören hoffen, wenn wir uns in unserer Not an Gott wenden. „Christen stehen bei Gott in seinem Leiden“ – ein Gott, der unseren Bei-stand braucht?
Bonhoeffers Gottesbild mag überraschen. Und doch denkt er eigentlich nur die Passionsgeschichte, die wir in diesen Wochen wieder lesen und hören, radikal zuende: Jesus verlassen im Leid, ohnmächtig am Kreuz. Bonhoeffer sieht auf die Not um sich herum und erkennt in den Gesichtern der Leidenden das Gesicht Gottes. „Arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot“. Eigentlich kennen wir das: „Was ihr diesem meinen geringsten Brüdern getan habt – dem Obdachlosen, dem Hungernden, dem Kranken, dem Fremden, – das habt ihr mir getan“. Da ist Gott zu finden. Nicht als externes Lösungsmodul für unsere Probleme und Nöte, sondern bei den Leidenden. Er leidet mit. Mensch und Gott begegnen sich dort, wo man etwas aushalten und ertragen muss. Wo der Schmerz, wo die Not den Ton angeben. Dort, wo dann das Bei-stehen zählt, das Nahesein, wo Glaube lernen muss und kann, zu vertrauen.
Ich finde es immer wieder schwer, das zusammenzubringen: Gott allmächtig und ohnmächtig zugleich. Mir hilft dabei dieser Tag heute. An Palmsonntag wird die Allmacht und Ohnmacht Gottes in einem Bild inszeniert: der König auf dem Esel. Es geht hier am Eingangstor zur Hauptstadt um Machtfragen. Die Mächtigen in Jerusalem werden nervös, als Jesus so bejubelt wird. Johannes nennt stellvertretend die Pharisäer: „Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet, alle Welt läuft ihm nach!“ sagen sie. Gegen Massen sind Mächtige machtlos. Vorerst. Hier in dieser Szene am Stadttor von Jerusalem spitzen sich die Machtfragen zu. Jesus kommt in die Hauptstadt – in das Zentrum der Macht. Er weiß, dass das riskant ist, und er riskiert es. Er scheut die Konfrontation mit den Mächtigen nicht. Aber er spielt das Machtspiel, das man von ihm erwartet, nicht mit. Jesus wird beklatscht als derjenige, der doch bitte nach der Macht greifen soll. Er ist die Projektionsfläche für all die Sehnsüchte, die dort am Straßenrand warten: „Errette uns von Not und Tod, von den Römern und deren Gewaltherrschaft, von der Ausbeutung, die wir erleben, der Haft, der Folter, der Todesstrafe.“ Die Palmwedler wünschen sich einen mächtigen Messias, der die Unterdrücker vertreibt.
Und was macht Jesus? Er entzieht sich den üblichen Machtstrukturen, er spricht auch kein Machtwort. Er reitet auf einem geliehenen Lastentier, und er erleidet all das, wovon die Menschen errettet werden wollen, selbst: Ungerechtigkeit, falsches Urteil, Schmach und Schmerzen bis zum Tod. So nahe kommt Gott dem Leid, so nahe kommt er denen, die leiden. Er kommt. Da ist es dann Gott, der sich auf den Weg macht. Beginnen die ersten beiden Strophen damit dass Menschen zu Gott gehen, heißt es jetzt: Gott geht zu den Menschen:
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod
und vergibt ihnen beiden.
Die dritte Strophe ist eigentlich die Antwort auf die erste: Hier wird den Menschen zugesprochen, was sie sich wünschen und zum Leben brauchen: Brot und Vergebung. Aber der Weg dorthin führt durch das Leid, durch Gottes Leid: Er stirbt den Kreuzestod – und auch hier wieder „für Christen und Heiden“. Der Rettungswille Gottes schließt alle ein.
Es ist ein Dreischritt, der nicht abgekürzt werden kann:
Gottes Allmacht wird angerufen – Gottes Ohnmacht wird entdeckt – und dann erst kann Gottes Nähe als Errettung erlebt werden.
Es ist ein Dreischritt, der sich auch in den Geschichten von Jesus spiegelt:
Zuerst sein Leben unter Menschen, die ihn in ihrer Not um Hilfe bitten – dann sein Leiden und Sterben –
und schließlich sein Auferstehen, in dem die Hoffnung liegt, dass Leid und Tod überwunden werden können.
Es ist ein Weg. Ein Weg der Annäherung von Mensch und Gott, von Gott und Mensch, bei dem ein Schritt nach dem anderen kommt und nicht einer einfach übersprungen werden kann. Zugegeben: Es ist kein einfacher Weg – eher ein ruckeliger. Bonhoeffer schafft kein gleichförmiges Versmaß in diesem Gedicht. Das macht es schwer, die Zeilen zu vertonen. In den 90er Jahren hat sich ein Pastor daran versucht und hat dafür auf die ältesten Quellen christlicher Liedgeschichte zurückgegriffen: das Prozessionslied, bei dem mehrere Silben auf einem Ton gesungen werden. Es wurde ein Lied daraus, das uns in Bewegung setzen will, hinaus aus der Enge, wenn Angst und Not uns lähmen. Eine sehr passende Idee für diesen Text, der ja mit immer neuen Wendungen überrascht. Leider ein sehr schwer zu singendes Lied.
Deswegen hat sich Christopher Bender schon vor einiger Zeit neu daran versucht. Seine Melodie, die wir schon gehört haben, spiegelt das Auf und Ab wider: In der Not, beim Leiden und Tod führen uns die Töne mit nach unten in die Tiefe. Gehen Menschen zu Gott nehmen die Noten uns mit nach oben. Dieses Lied führt uns in den Abgrund. Den kann man nicht überspringen. Aber überwinden kann man ihn. Und erleben, dass Gott doch sättigt und rettet und befreit. Aber eben nicht am Leid vorbei, sondern durch das Leid durch – auch wenn das schwer zu verstehen und auszuhalten ist. Dietrich Bonhoeffer weiß im Angesicht des Todes zu sagen: „Das ist das Ende, für mich der Beginn des Lebens.“ Mit dieser Zuversicht können wir in die Karwoche gehen, können wir üben, mit Leid umzugehen, und singen wir nun gemeinsam sein Lied: „Menschen gehen zu Gott in ihrer Not“. Amen.
Glaubensbekenntnis von Dietrich Bonhoeffer
Ich glaube,
dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube,
dass Gott uns in jeder Notlage
soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im Voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern allein auf ihn verlassen.
In solchem Glauben
müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.
Ich glaube,
dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind,
und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden,
als mit unseren vermeintlichen Guttaten.
Ich glaube,
dass Gott kein zeitloses Fatum ist,
sondern dass er auf aufrichtige Gebete
und verantwortliche Taten wartet und antwortet.
(DBW 8, S. 30f)
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!
„Ich glaube“, schrieb Dietrich Bonhoeffer Anfang 1943 in seiner engen, dunklen Zelle im Untersuchungsgefängnis der Wehrmacht in Berlin-Tegel. Trotz Rede-, Schreib- und Veröffentlichungsverbot schrieb er. Kritzelte auf Zettel, streute Lieder und Texte in Briefe an seine Familie ein, schmuggelte Nachrichten aus dem Gefängnis.
„Ich glaube“, schreibt Bonhoeffer und benennt damit in den ersten zwei Worten das Fundament seines Lebens. Das, was ihn als Person ausmacht. Nicht: „Ego cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin.“ Nicht: „Ich atme, also lebe ich.“ Sondern: „Ich glaube.“
Das ist wie ein Haus oder eine Heimat, in der Bonhoeffer lebt, auch im Gefängnis. Ein Haus, gebaut aus dem, was er in seinem großbürgerlichen Elternhaus und im Theologiestudium in Tübingen, Rom und Berlin gelernt und im Austausch mit namhaften Theologen seiner Zeit – mit Karl Barth, Reinhold Seeberg und George Bell – weiterentwickelt hat. Gebaut aus den beruflichen Erfahrungen, die er als Jugendsekretär des ökumenischen Weltbundes, als Leiter des illegalen Predigerseminars in Finkenwalde, als Gemeindepfarrer in Forest Hill bei London und als „Geheimagent“ der Abwehr gemacht hatte. Gebaut aus vielen Begegnungen mit US-amerikanischen, britischen und deutschen Christen auf der Suche nach Gott.
Bonhoeffers eigenes inneres Zuhause, über das sein Glaubensbekenntnis uns Auskunft gibt. Durch das wir ein Gespür für die Dynamik, die Fragen und Hoffnungen bekommen, die Bonhoeffer in den schwersten Jahren seines kurzen Lebens getragen haben.
So wie ja wahrscheinlich jede und jeder von uns in seinem oder ihrem eigenen Glaubenshaus lebt, mehr oder weniger bewusst. Das gebaut ist aus unseren Erfahrungen, Denk- und Suchbewegungen. Aus Gebeten, die wir früh gelernt, Bildern oder Kirchen, die wir gesehen, Menschen, die wir kennengelernt und die uns inspiriert haben.
Und damit verbunden die interessante Frage, welche Gestalt wir unserem Glauben geben würden? Mit welchen Farben, Strichen oder Stimmungen würden wir ihn malen? Welche Szenen oder Worte gehörten dazu?
Für die Jünger, von denen wir heute im Evangelium gehört haben, geht es offenbar stark um die Nähe zu Jesus. Die Brüder Johannes und Jakobus wollen wie auf der Erde so auch im Himmel ganz nah bei ihrem Freund und Vorbild Jesus sein. Sie denken: Was er kann, das wollen wir auch. Wie er in Verbindung zu Gott steht, das wollen wir auch. Wenn wir ihm auf seinem Weg genau folgen, dann werden auch wir Herrlichkeit und Gottesnähe erleben!
Starke Motivationen und große Hoffnungen – so höre ich sie. Und auch mit einem klaren Gespür für die feinen Unterschiede: Manche sind eben näher an Jesus dran als andere. Es ist gut, sich auch im Himmel die besten Plätze zu sichern.
Andere würden ihren Glauben vielleicht eher als ein Gefühl von Geborgenheit beschreiben. Ein unsichtbarer Schutz, womöglich durch Engel vermittelt, wie wir sie hier in der Kirche finden. Behütet durch Gottes liebevollen Blick auf uns, durch seine Ohren, die aufmerksam auf uns hören, und seine Hände, die uns leiten.
Wie eine gute Mutter, der wir vertrauen. Die ihren Mantel um uns breitet, uns beschützt und versorgt.
Wenn ich Dietrich Bonhoeffer richtig verstehe, dann beschreibt er seinen Glauben in unserem Text heute vor allem als eine dynamische wechselseitige Beziehung. Zwischen Gott und den Menschen, zwischen Bonhoeffer und Gott geht es in seinem Credo immer hin und her.
„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“ Auch in seiner, in der NS-Zeit, die viele äußerlich oder innerlich emigrieren, die viele verzweifeln ließ, Bonhoeffers Glaube, dass Gott Gutes entstehen lassen kann und will. – Auch in unserer Zeit, füge ich hinzu, die ebenfalls viele in Depressionen, in Angst oder auch in Gleichgültigkeit treibt.
Aber damit Gott Neues und Gutes schaffen kann, braucht er, so Bonhoeffer, „Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ Menschen, die nicht an der Dunkelheit ihrer Tage verzweifeln, sich zurückziehen oder ihre Kraft in der berechtigten Ablehnung und Kritik ihrer Zeit aufbrauchen. Sondern „sich alle Dinge zum Besten dienen lassen“.
Das ist eine sehr schöne Formulierung, finde ich, die Bonhoeffer aus der Bibel hat (vgl. Röm 8, 28)! Die Mut macht hinzusehen, anzunehmen und zu nutzen, welche Mittel und Wege uns dienen können, damit Gott Gutes entstehen lassen kann.
Ich denke heute an eine nur kleine Begebenheit von Freitagabend, als wir hier mit 15 Erwachsenen zur Kirchenübernachtung zusammenkamen. Menschen, die sich vorher nicht oder nur wenig kannten. Ein Wagnis, das auch Angst machte! Und vielleicht gerade deshalb brachten alle köstliche Speisen für ein wunderbares Abendessen mit. Alle hatten sich – ohne Aufforderung – zuhause gut überlegt und viel Mühe gemacht, etwas besonders Leckeres oder schön Angerichtetes mitzubringen – ohne genau zu wissen, für wen.
Mich hat dies bewegt: die Bereitschaft, für unbekannte Menschen in einem unvorhersehbaren Setting so gutes Essen vorzubereiten! Und so das Abendessen „zum Besten“ zu wenden.
„Ich glaube,“ schreibt Bonhoeffer im zweiten Absatz seines Credo, „dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.“ Wahrscheinlich sind dies für viele die wichtigsten Sätze in seinem Text.
Ich selbst habe sie schon oft anderen zugesprochen. Menschen, die aufgrund einer schlimmen Diagnose große Angst hatten. Oder die an ihrer elenden familiären Situation verzweifelten. „Gott gibt uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft, wie wir brauchen.“ So viel, dass wir durchhalten und wir selbst bleiben können. Das möchten oder können wir im Voraus oft nicht glauben. Wir ahnen nicht, welche Kräfte – ob Ausdauer, Liebe, Mut, körperliche oder seelische Kraft – Gott in uns freisetzen kann, bis es soweit ist.
Aber es geschieht. Menschen können schwere Krankheiten und belastende Therapien überstehen. Eltern und Kinder ohne Kontakt können wieder Wege zueinander finden, zerstrittene Paare Wege aus dem Rosenkrieg hinaus. Gott kann uns Kraft zuwachsen lassen – und dabei hilft es oft am meisten, unsere großen Ängste loszulassen.
„Ich glaube,“ schreibt Bonhoeffer weiter, „dass Gott kein zeitloses Schicksal (oder Fatum) ist“, das irgendwie von Ferne die Geschicke der Welt lenkt, den Masterplan hat und unser Leben schicksalhaft vorherbestimmt. So einen überzeitlichen, unpersönlichen Gott lehnt Bonhoeffer ab.
Es widerspricht dem, was er von Gott erwartet, und auch seinen Erfahrungen mit Gott. Denn er macht ja unter den härtesten Bedingungen von Rede- und Schreibverbot, von Haft und Kontaktsperre die Erfahrung, dass Gott ihm Widerstandskraft gibt. Dass er trotz aller Beschränkungen, Einsamkeit, auch Angst und Traurigkeit, festhalten kann am Leben. An dem, was er denken, fühlen, träumen und heimlich schreiben kann. An seiner Liebe zu seinen Nächsten. An der Verbundenheit mit Freunden und Gleichgesinnten. Dass er er selbst bleibt – in der Nähe und im Gegenüber zu Gott.
Das ist sicher eine der größten Erfahrungen, die man im Glauben machen kann: unabhängig von den äußeren Umständen, „in jeder Notlage“ lebendig, aufrecht und verantwortlich bleiben zu können – aus der Beziehung zu Gott heraus. Der auf unsere „aufrichtigen Gebete“ hört und auf unsere „verantwortlichen Taten wartet“ und der uns „antwortet“ – indem er uns Kraft schenkt.
Wie ein Glaubenshaus voller Leben und Beziehung – so empfinde ich Bonhoeffers Credo. Ein Gespräch, das hin und hergeht, das nach Gottes Rolle in unserem Leben, und nach unserer Beziehung zu Gott fragt. Im Vertrauen, dass wir in allen Lagen unseres Lebens und unserer Zeit geborgen sind von Gottes guten Mächten und getrost erwarten dürfen, was kommen mag. Amen.
Predigttext: Johannes 12, 20–14
Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest. 21 Die traten zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus sehen. 22 Philippus kommt und sagt es Andreas, und Andreas und Philippus sagen’s Jesus. 23 Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. 24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!
Liebe Gemeinde!
Als ich Jugendliche war, hing über meinem Bett eine Zeitlang ein Plakat: ein schwarz-weiß Druck, auf dem ein aufrecht stehender Braunbär zu sehen war, der mit der Tatze nach einem flatternden Schmetterling griff – oder ihm zuwinkte. Darüber stand auf Englisch:
„You can only keep what you have by giving it away.“
Auf Deutsch etwa:
„Du kannst nur behalten, was du auch loslassen kannst.“
Ich mochte diesen Druck damals gerne. Der Satz zog mich an – und zugleich forderte er mich heraus; manchmal ärgerte er mich sogar!
„Du kannst nur behalten, was du auch loslassen kannst.“
Ich überlegte, was ich wohl loszulassen und herzugeben hätte, an welche Besitztümer ich mich vielleicht überflüssiger- oder peinlicherweise klammerte. Im Laufe der Zeit fragte ich mich auch, ob sich der Spruch eigentlich nur auf Dinge und Besitz bezog, oder ob er auch anderes umfasste. Der Bär streckte die Tatze ja nach einem Schmetterling aus, nach einem Wesen, das er liebte oder bewunderte. Vielleicht ging es darum, manche Freundinnen, Helden oder Idole loszulassen?
Rückblickend denke ich, ob es bei meinen Gedanken ums Loslassen nicht auch um ein Thema ging, das mir damals nicht bewusst war: darum, meine Kindheit, mein Kindsein loszulassen und es zu wagen erwachsen zu werden. Den kleinen, verspielten Schmetterling loszulassen, um stark und aufrecht zu werden wie der Bär oder die Bärin – und dabei das Verspielte und Zarte auch zu behalten oder es in einer neuen, gewandelten Form wiederzugewinnen.
„Du kannst nur behalten, was du auch loslassen kannst.“
An diesen Spruch und dieses Bild musste ich denken bei dem heutigen Predigttext aus dem Johannes-Evangelium. Dem bekannten Jesuswort vom Weizenkorn, das in die Erde fällt. Das mir immer mehr als viele andere Erklärungen geholfen hat, den Abschied, das Sterben und Loslassen Jesu zu verstehen. Darin einen Sinn und eine Verheißung zu erkennen:
Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein;
wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. (Joh 12, 24)
Diesem markanten Bildwort geht eine kurze Einleitung oder Überleitung voraus, die das Wort einbettet in Jesu Leben. Jesus sagt es zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens, in einer bestimmten Situation.
Es wird erzählt, wie „einige Griechen“ (Joh 12, 20) zum Passah-Fest nach Jerusalem kommen – also Nicht-Juden. Frauen und Männer, die nicht zu Jesu Volk gehörten, die den jüdischen Glauben nicht kannten, nicht eingeübt waren in seine Geschichten, Hoffnungen und Bräuche.
Diese Fremden wollen Jesus sehen. Höflich bitten sie Philippus, einen der Jünger: „Herr, wir wollten gerne Jesus sehen!“ (Joh 20, 21) Sie möchten in Kontakt kommen, sie möchten den erleben, der Gottes Worte spricht, der Gottes Wesen und Willen auf der Erde zeigt und „eins ist mit dem Vater“, wie es das Johannes-Evangelium immer wieder formuliert (z.B. Joh 10, 30).
Was auf die Bitte der Griechen hin geschieht, ist ungewöhnlich: „Philippus kommt und sagt es Andreas, und Philippus und Andreas sagen es Jesus weiter.“ (Joh 20, 22)
Offenbar ist es nicht möglich, Jesus direkt darum zu bitten, ihn sehen und treffen zu dürfen. Offenbar ist es auch nicht möglich, dass nur Einer – dass nur Philippus – den Kontakt zu Jesus herstellt.
Wenn man dies wörtlich nimmt und aus der Erzählsituation herauslöst, dann macht dieser etwas umständliche Weg zu Jesus Sinn:
So geht es uns ja heute, so ging es allen Christus-Sucherinnen und -Suchern, die nach Jesu Zeit lebten, auch der johanneischen Gemeinde um 100 n. Chr.: Es war für sie und ist für uns nicht möglich, direkt zu Jesus zu gehen, um ihn zu sehen und zu sprechen. Wir können Jesus heute wie damals nur durch die Vermittlung anderer begegnen. Durch Worte und Botschaften, durch Bilder oder Bräuche.
Und gewöhnlich, so zeigt es die Erfahrung, reicht es für uns auch nicht, nur durch einen einzigen Menschen mit Jesus Christus in Kontakt gebracht zu werden. Die meisten von uns haben durch mehrere Menschen Zugang zum Glauben bekommen. Wir brauchen immer wieder Berührungen und Erfahrungen mit dem Glauben.
In Gesprächen über die eigene Biographie wird mir oft erzählt, dass die Mutter oder die Großmutter wichtig war, um Gebete, die Kirche, biblische Geschichten oder Gott kennenzulernen. Dazu kam dann später oft ein guter Religionslehrer oder eine gelungene Konfirmandenzeit, eine Gruppe oder Reise mit der Gemeinde, die wichtig waren für die eigene Entwicklung und den Glauben.
Ihr werdet euch sicher erinnern, wer diese Menschen oder welche Erlebnisse dies für euch waren oder auch jetzt sind! Meiner Erfahrung nach hört es eigentlich nie auf, dass wir Vorbilder und Vermittler brauchen.
Als in der biblischen Geschichte die beiden Jünger, Philippus und Andreas, Jesus endlich den Wunsch der Frauen und Männer vortragen, ihn zu sehen, da antwortet er mit einem Rätselwort: „Die Zeit ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde.“ (Joh 20, 23) Schlicht übersetzt: Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Abschied von dem Wunsch nach realen Begegnungen. Abschied vielleicht auch von bestimmten Vorstellungen und Wünschen, die ihr vom Leben oder von mir habt.
Jesus weiß, dass er sterben wird. Dass sein Weg mit Gott nicht länger durchs Leben, sondern nun durch den Tod hindurch führen wird. Dass noch etwas aussteht, was für seine Jünger und auch für die Fremden noch nicht zu sehen, noch nicht zu verstehen war.
Und wie um seine Botschaft, seinen Auftrag noch einmal zusammenzufassen, sagt er dann das berühmte Wort vom Weizenkorn:
Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein;
wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
Darin steckt vielleicht Jesu Angst, sein Wissen um den Abschied und die Härte des Loslassens. Darin steckt Jesu Hoffnung, sein Wissen um Gottes Kraft zur Verwandlung und Neuschöpfung. Und darin steckt auch Jesu Verheißung an uns, sein Zuspruch, dass wir es wagen mögen, ihm auf diesem Weg zu folgen.
Loslassen, was verzichtbar ist, was überholt oder überflüssig ist. Unser Herz nicht an die kleinen Besitztümer oder die großen Verlockungen hängen. Der Angst in uns, unserm Halten- und Kontrollieren-Wollen nicht zu viel Macht zu geben. Sondern bereit sein, loszulassen und zu vertrauen.
Das ist eine Aufgabe, die niemand abgenommen werden kann – und die wir umgekehrt auch für niemand übernehmen können. Wir können einander hier nicht entlasten, so sehr wir es uns manchmal vielleicht wünschen. In diesem Punkt sind wir unvertretbar. Nur wir selbst können dies: loslassen, frei werden. Im Vertrauen darauf, dass das, was wir loslassen, sich verwandeln wird.
Aber um dieses Vertrauen zu entwickeln und die nötigen Schritte zu tun, können wir uns durchaus gegenseitig unterstützen. Können wir einander Vorbilder sein und Hilfe anbieten – ähnlich wie die Jünger damals.
Das Geheimniswort Jesu über Loslassen, Verwandlung und neues Leben, das auch von unserem Leben erzählt, lässt sich nicht allein ergründen. Es braucht wohl ein ganzes Leben, um es zu verstehen. Und es braucht Gemeinschaft, geteilte Erfahrungen, um einander in diesem Prozess zu helfen.
„Du kannst nur behalten, was du loslassen kannst.“
Von diesem Spruch auf dem Plakat habe ich euch zu Beginn erzählt.
Vielleicht gehört es zu den Früchten des Älterwerdens, dass man auf andere Weise erkennt, wie dieser Spruch wahr ist. Anders als ich es als Jugendliche vielleicht ahnte. Wie sehr es dabei um einen selbst geht. Man verliert die Angst davor, auch wenn es die Situationen selbst nicht unbedingt leichter macht. Gleichzeitig lernt man, lerne ich mehr und mehr wahrzunehmen und wertzuschätzen, dass man in diesem Prozess nicht allein und ohne Vorbilder ist.
Umso dankbarer bin ich – besonders an einem Tag wie heute – zu einer Gemeinschaft zu gehören, in der wir uns mit unseren Fragen und Erfahrungen, auch mit dem, womit wir manchmal kämpfen oder an dem wir sogar scheitern können, einander anvertrauen und begleiten können. Dass wir uns helfen, Wandel und Verwandlung anzunehmen, im Vertrauen, dass daraus Neues erwachsen wird.
Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein;
wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
Gott gebe uns Gelassenheit, Vorfreude und Mut, dass dies auch in unserem Leben und unter uns geschehen kann! Amen.
Predigttext:
HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen.
Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen;
aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich,
und jedermann verlacht mich.
Denn sooft ich rede, muss ich schreien;
»Frevel und Gewalt!« muss ich rufen.
Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich.
Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken
und nicht mehr in seinem Namen predigen.
Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer,
verschlossen in meinen Gebeinen.
Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht.
Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!«
»Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!«
Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle:
»Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.«
Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, wie ein mächtiger Beschützer,
darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. (Jeremia 20, 7–11a)
Predigt:
Liebe Gemeinde,
Frau Schubert ist erschöpft. Wie eigentlich immer. Sie läuft die Stufen des Seniorenheims hinunter, wo sie gerade ihre Mutter besucht hat. In ihrem Kopf eine To-do-Liste: Sie muss den Arzt kontaktieren und ein neues Rezept besorgen, außerdem braucht ihre Mutter frische T-Shirts und mit der Heimleitung müssen die nächsten Physiotermine abgesprochen werden. Eigentlich wäre diese Woche ihre Schwester dran mit den Besorgungen für ihre Mutter. Aber sie ist gerade in einer heißen beruflichen Phase und schafft es nicht. Frau Schubert hat nicht Nein sagen können. Wie immer. „Ich kann diese Woche eigentlich nicht“ hat sie zu ihrer Schwester gesagt und an die eigenen Termine und die der Kinder gedacht. Aber mit „eigentlich“ hat man schon verloren. Sie weiß, ihre Schwester wäre einfach nicht gekommen. Und ihre Mutter braucht das Rezept und die Physio – und vor allem das Gespräch und dass jemand ihre Hand hält.
Wir alle landen in Situationen, in denen es uns schwerfällt, uns abzugrenzen. Oder wo wir auch einfach nicht Nein sagen können, weil es schlicht keine Wahl gibt. Das gehört zum Leben dazu. Das müssen schon kleine Kinder lernen. Z.B. wenn sie eine Jacke anziehen sollen, weil es draußen kalt ist. Sie können sich mit Händen und Füßen wehren und „Nein“ schreien, so laut sie wollen: Jacke im Winter muss sein. Oder Jugendliche, die umziehen müssen und ihre Peer-Group verlieren, weil es die Berufstätigkeit der Eltern erfordert. Hilft nichts, da muss man durch. Als Erwachsene ereilt uns das sprichwörtliche Hamsterrad, aus dem das Aussteigen nicht möglich scheint – und manchmal auch nicht ist.
Auch Jeremia wollte „eigentlich“ nicht, so haben wir es gerade in der Lesung gehört. Er wollte nicht das, was Gott von ihm wollte, und hat nicht Nein sagen können.
HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen.
Im Hebräischen steht da noch schärfer: „Du hast mich verführt“ oder sogar „mit Gewalt gepackt“. Das sind sehr harte Vorwürfe gegen Gott. Gegen Gott, der Jeremia dazu verdonnert hat, als Prophet den Menschen Gottes Meinung zu sagen. Jeremia leidet unter dieser Berufung. Er hat sich ein anderes Leben gewünscht. Er ist in der Nähe von Jerusalem aufgewachsen und stammt aus einer angesehen Priesterfamilie. Hätte er wählen können – vielleicht hätte er als Priester ein ruhiges und beschauliches Leben geführt. Aber er kam überhaupt nicht dazu, einen Beruf zu ergreifen. Er ist ergriffen worden. Von Gott. Und zwar mit aller Gewalt. Und nun musst er tun, was er nicht will: den Leuten Unheil ankündigen, sie damit vor den Kopf stoßen und sich die besten Freunde zu Feinden machen.
Noch dazu in so einer heiklen Situation. In Jerusalem tobten innenpolitische Machtkämpfe und außenpolitisch ist der kleine Staat Juda vom mächtigen babylonischen Reich bedroht. In dieser schweren Zeit wollen die Leute nicht auch noch von Jeremia die Leviten gelesen bekommen. Wenn Religion, dann bitte positive. Wenn schon einen Propheten, dann einen netten. Und wenn eine Predigt, dann eine optimistische und keine Moralpredigt. Das Volk fühlt sich von Jeremia angegriffen. Sie stecken da in der Katastrophe und kriegen auch noch den Vorwurf: „Ihr seid selbst dran schuld! Ihr missachtet Gottes Gebote! Verbrechen! Unterdrückung!“ Es wird noch schlimmer kommen. Der größte Feind des jüdischen Volkes, der babylonische Herrscher Nebukadnezar, ist – so behauptet Jeremia – Gottes Werkzeug und er wird Jerusalem zerstören.
Spätestens an diesem Punkt ist die Geduld der Bürger von Jerusalem mit diesem frommen Spinner Jeremia am Ende. Er wird gefangen genommen, der Tempelvorsteher lässt ihn schlagen und in den Block legen. Es nützt ihm nichts, dass er mit seinen Warnungen im Endeffekt recht behält. Nebukadnezzar erobert und zerstört ja tatsächlich Jerusalem. Aber niemand ist verhasster als der, der seinen Finger auf die Wunde legt. Davon weiß Jeremia ein Lied zu singen. Ein Klagelied. Und nicht bloß eins. Wir können seine Klagelieder heute noch in der Bibel nachlesen. Heute haben wir nur einen kleinen Ausschnitt davon gehört.
Selbst schuld, könnten wir sagen. Jeremia hätte ja bloß seinen Mund halten müssen. Nun, er hat es versucht:
Also dachte ich: „Ich will nicht mehr an Gott denken und nicht mehr in seinem Auftrag reden!“ Aber dann brennt dein Wort in meinem Inneren wie ein Feuer. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, um es zurückzuhalten – ich kann es nicht.
Jeremia brennt für Gott, für sein Wort, ob er will oder nicht. Als er wieder frei gelassen wird, macht er weiter. Sein ganz persönliches Hamsterrad. Und eine handfeste Krise in seinem Gottesverhältnis. In der Bibel gibt es viele Beispiele dafür, dass die Beziehung zu Gott in die Krise geraten kann. Und nicht nur in der Bibel. Auch heute. Vielleicht sieht diese Krise ähnlich aus wie damals. Dann wenn Menschen dafür angegriffen werden, dass sie sich in der Gemeinde engagieren: „Die Kirche ist doch total unglaubwürdig, spätestens seit den Missbrauchsfällen.“ heißt es dann. Oder wenn Menschen angefeindet werden für ihren Glauben: „Religion bringt doch nur Unfriede in die Welt, ohne wäre alles besser.“
Vielleicht sieht die Krise mit Gott heute aber auch ganz anders aus, als das, womit Jeremia sich abkämpfte. Nicht, dass Gott sich zu sehr in unser Leben einmischt, sondern dass wir ihn zu wenig spüren. Gibt es ihn überhaupt? Was bleibt noch übrig von Gott in unserem Alltag? Nicht zu viel Gottesnähe wie damals in Jerusalem, sondern zu viel Gottesferne heute hier bei uns?
Was machen, wenn wir mit Gott in der Krise stecken? Was macht Jeremia? Er sagt:
Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, wie ein mächtiger Beschützer.
Das kommt ein bisschen überraschend – eben noch so harsche Vorwürfe gegen Gott und jetzt plötzlich soviel Vertrauen? Das ist eine ziemliche Kehrtwendung vom Klagenden zum Lobenden. So schnell wie hier in den wenigen Sätzen geht das im echten Leben natürlich nicht. Aber es geht. Wie – dafür gibt der Name des Sonntags einen Hinweis: „Okuli“ – Augen heißt dieser Tag. Und im Evangelium geht es um die richtige Perspektive, darum, wo man hingucken soll und wo besser nicht. In Jeremias Fall: Besser nicht auf die, die über ihn lästern. Die schreien: »Wir wollen ihn verklagen!«, »Wir wollen uns an ihm rächen.“ Sondern: auf Gott. Auf den starken Helden, den mächtigen Beschützer. Und auf die, die Gott als solchen loben.
Denn das, was Jeremia da so vertrauensvoll von sich gibt, sind nicht seine eigenen Worte. Es sind Verse aus der Tradition – aus den Psalmen, vorgeformte Gebetssprache. Jeremia wusste sich also zu helfen, als er sich von Gott und der Welt so im Stich gelassen fühlte. Er hat sozusagen zum Gesangbuch gegriffen und darin gelesen. Er hat sich ermutigen lassen von dem, wie andere Gott erlebt haben. Als starken Helden, als mächtigen Beschützer. Das trägt ihn mit.
Dass das funktioniert, erlebe ich immer wieder: an mir und an anderen. In Zeiten, in denen ich mit Gott meine Krisen hatte, bin ich trotzdem in den Gottesdienst gegangen. Und auch wenn ich nicht vertrauensvoll selbst zu Gott beten konnte, so hat mich das Vater Unser der Gemeinde mitgetragen. Der Glaube von anderen nimmt mich mit hinein in die Beziehung zu Gott. Dann kann mein eigenes Vertrauen langsam wieder wachsen. „Gott ist ein starker Held, ein mächtiger Beschützer.“ Das haben Menschen vor Jeremia und lange vor uns am eigenen Leib erfahren. Sie haben Gott dafür gelobt und das aufgeschrieben. Jeremia machen diese Worte Mut, dass Gott ihn auch weiter beschützen wird, auch wenn seine Aufgabe als Propheten anstrengend und gefährlich ist.
Auch wir können uns gegenseitig Mut machen. Wir können uns Worte geben, wenn sie fehlen, uns gegenseitig beistehen, wenn wir uns von Gott und der Welt verlassen fühlen. Und wir können einfach das tun, was wir gerade tun: miteinander Gottes Wort hören, beten, singen und Abendmahl feiern.
Und was ist jetzt mit Frau Schubert? Und dem Nein- oder Eigentlich-sagen?
Auch das ist eine Frage, der Perrspektive, eine Frage, wie man draufguckt:
Eine Möglichkeit wäre, das Nein-Sagen zu üben. Der Schwester die Verantwortung zurückgeben auf die Gefahr hin, dass die Mutter eine Woche später das Rezept bekommt und die Physio und eine Woche lang niemand ihre Hand hält oder – wenn sie Glück hat – eine Pflegerin. Vielleicht wäre Frau Schubert sehr erleichtert, wenn sie das Nein schafft. Vielleicht würde sie sich aber auch große Sorgen machen.
Eine andere Möglichkeit für sie wäre, ins „Eigentlich“ zu hineinzugucken. In einem Eigentlich steckt immer ein kleines Ja. Woher kommt das? Und könnte man dieses Ja stärker und fröhlicher machen? Frau Schubert sagt nicht Nein, weil sie sich verpflichtet fühlt. Ihrer Mutter. Sie will, dass es ihr gut geht, dass sie hat, was sie braucht. Vielleicht blickt sie auf ihr „Eigentlich“ und sieht in die Vergangenheit, als ihre Mutter an ihrem Bett saß und die Hand hielt, weil sie abends Angst hatte, alleine einzuschlafen als Kind. Und die Mutter saß und hielt die Hand, obwohl sie „eigentlich“ noch so viel anders zu tun hatte. Vielleicht ist Frau Schubert genervt von dieser alten Verpflichtung. Vielleicht brennt in ihr die Liebe zwischen Mutter-und-Kind und sie kann die Verpflichtung besser bejaen.Es gibt immer mehr als nur eine Möglichkeit, auf eine Situation zu gucken.
Und so ist es auch mit unserer Gottesbeziehung: Wenn Gott uns ruft, dann fordert uns das, dann ist das nicht immer nur schön und angenehm. Dann kriegen wir auch mal die Krise. Dann spüren wir aber auch das Brennen in uns, dann brennen wir für Gott, dann erleben wir ihn als starken Beschützer. Das alles hat schon immer dazugehört zu einer Beziehung mit Gott. Ich hoffe, wir lassen uns „eigentlich“ gerne dazu überreden. Amen.
Predigttext: Johannes 3, 14-21
Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, 15 auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. 16 Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. 17 Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde. 18 Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er hat nicht geglaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. 19 Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. 20 Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. 21 Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!
Manchmal staune ich: Immer wieder gibt es neue Piktogramme zu entdecken! Ich habe ein bisschen gebraucht, um zu verstehen, dass das von einem Blitz zerrissene weiße Herz auf grünem Grund auf das Vorhandensein eines Defibrillators hinweist. Auch die Verbindung des Genderzeichens für weiblich und männlich – ein kleines Kreuz unter und ein kleiner Pfeil rechts oben an einem Kreis – war mir als Hinweis auf eine Unisex-Toilette relativ neu. Und manche Zeichen für gefährliche Substanzen, aber auch im Straßenverkehr finde ich nach wie vor nicht leicht zu merken.
Das Kreuz, um das es in unserem Predigttext aus dem Johannes-Evangelium heute geht, empfinde ich als ein leicht verständliches, klares und allgemein verbreitetes Zeichen – und gleichzeitig in seiner Bedeutung auch schwer zu fassen.
Ist das Kreuz das Zeichen für den Tod? So wird es manchmal zur Angabe des Sterbedatums verwandt. Ist es das Symbol für die christliche Religion? So steht es manchmal neben dem Davidstern für das Judentum und der Mondsichel für den Islam. Oder ist es das Zeichen für die Person Jesus Christus, der damit aber leicht auf sein Leiden und Sterben reduziert wird, ohne dass sein Handeln gut in den Blick käme.
„Das Kreuz mit dem Kreuz“ ist eine fast sprichwörtliche Aussage geworden. Menschen lehnen es ab und bevorzugen den Fisch, den Regenbogen oder die Taube als Zeichen für unseren Glauben und unsere Hoffnung.
Der Evangelist Johannes nähert sich dem Zeichen des Kreuzes auf ungewöhnliche Weise. Er nimmt Bezug auf die Wüstenzeit des Volkes Israel. 40 Jahre lang soll die Wanderung, der Auszug aus Ägypten durch die Wüste bis ins gelobte Land gedauert haben.
Die lange Wüstenzeit steht für Entbehrungen, Hunger und Durst – sowohl auf der körperlichen, materiellen Ebene als auch auf der emotionalen, geistigen Ebene. Schließlich lehnen sich die Israeliten auf. Sie „murren“, heißt es. Sie sind „verdrossen“, meckern und klagen. Sie „reden wider Gott und wider Mose“ (4. Mose 21, 4f). Sie ekeln sich vor dem immer gleichen Essen, sie sind wohl langsam angeekelt vom Leben in der Wüste – und sie werden dabei auch selbst zu Ekeln …
Manches, was hier komprimiert und bildhaft von der Wüstenzeit Israels berichtet wird, können wir wahrscheinlich leicht in unser Leben und unsere Zeit übersetzen. Das Gefühl, von allen guten Geistern verlassen zu sein, eine dunkle, harte Zeit mitzuerleben, nicht zu wissen, wohin die großen Nöte, die Kriege und Naturkatastrophen führen sollen, und auch nicht sicher zu sein, welchen Menschen oder Mächten wir uns darin anvertrauen können … Und manchmal geraten wir in diesen Bedrohungen, unseren Sorgen und Ängsten auch selbst zu lieblosen, aggressiven Ekeln …
In der biblischen Wüstengeschichte wird erzählt, wie in dieser Situation – als das Volk sich gegen die Leitung durch Mose und Gott auflehnt – von Gott „feurige Schlangen“ geschickt werden, die das Volk beißen und töten. Gegen das Schlangengift soll Mose nun wie eine Medizin oder ein Schutzschild eine sog. eherne Schlange machen, das heißt eine Schlange aus Metall, die er oben an einem Stab befestigen soll. „Wer gebissen ist und sie ansieht, soll leben – und nicht sterben“ (4. Mose 21, 8), sagt Gott.
Ein Rettungszeichen – wer den Kopf hebt und darauf sieht, wird überleben.
Diese zugleich sonderbare und plastische Erzählung aus der Geschichte des Volkes Israel zieht Jesus im Johannes-Evangelium heran, um seinem nächtlichen Besucher Nikodemus zu erklären, was es mit dem Kreuz auf sich hat. Warum er selbst sterben und erhöht werden muss: „damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3, 15f)
Den Kopf heben, auf das Kreuz sehen, daran glauben und nicht verloren gehen, sondern leben …
Wie geht das? frage ich mich. Wie wirkt das Kreuz? Wie kann es für uns zum Rettungszeichen, zum Gegengift werden?
Ich glaube, auf diese Fragen kann es nur persönliche, nur konkrete Antworten geben. Weder hilft die vermeintliche Eindeutigkeit des Kreuzes weiter, noch ein intellektuelles Aufblättern der vielfältigen Bedeutungsebenen des Kreuzes. Das Heil oder die Rettung, die das Kreuz vermitteln kann, muss erfahren, erlebt werden. Aber ich würde sagen, sie kann auch erlebt werden!
Ein ganz alltägliches Beispiel: Wenn Menschen in unserer Kirche eine Kerze anzünden, dann haben sie gewöhnlich zwei Blickrichtungen. Viele blicken zuerst einen Moment lang still auf die Kerze, das Licht, das sie entzündet haben. Dabei denkt man – so geht es mir jedenfalls – wohl meistens an den oder die Menschen, für die man die Kerze angezündet hat, oder an eine bestimmte schwierige oder belastende Situation. Und dann heben viele ihren Blick und richten ihn auf den Hochaltar, auf das Kreuz, das in der Mitte zu sehen ist. Sie blicken zum Gekreuzigten, der von Maria und Johannes flankiert ist. Wie eine stumme Bitte zu helfen oder da zu sein, wie eine kurze Kontaktaufnahme mit Gott. Ein Blick aus den eigenen Sorgen oder auch den Nöten anderer heraus zu dem, der Rettung bringen kann.
Und in diesem Blick zum Kreuz stecken ja oft eher halbbewusst die Einsicht, dass wir uns nicht in allem selbst helfen können, und die Bitte, das Vertrauen, dass Gott oder Christus uns helfen mögen.
Ich denke beim Kreuzzeichen auch an Holzkreuze, die man gut in die Hand nehmen kann. Handschmeichler zum Beispiel aus Olivenholz, die gut in die Hand passen. Manche Menschen nehmen auch gerne einen Holz- oder Bronzeengel in die Hand. Ich habe oft Schwerkranke oder Sterbende gesehen, die sich an einem Holzkreuz oder einem kleinen Engel festgehalten haben. Vielleicht wie ein Anker, der uns vergewissert, dass wir im Sterben nicht unter- oder verlorengehen. Vielleicht wie ein Schlüssel zur Himmelstür, zum neuen Leben in der Auferstehung …
Sie und ihr mögt eigene Erfahrungen mit dem Kreuz-Symbol gemacht haben. Ob es ein Kreuzanhänger an einer Kette ist oder ein Kreuz, das in der Wohnung hängt. Ob es eine beeindruckende künstlerische Darstellung des Kreuzes ist oder ein fröhliches, bunt-bemaltes lateinamerikanisches Holzkreuz … Manche Kreuze sprechen zu uns, weil wir sie mit bestimmten Menschen, Daten oder Erlebnissen verbinden. Andere, weil ihre Geschichte oder Ästhetik uns anspricht oder wir sie einfach besonders schön finden.
Ich möchte zum Schluss von zwei konkreten Kreuzen erzählen: Bei meiner Einführung als Pastorin auf meine erste richtige Stelle hat mir ein Freund ein flaches Bronzekreuz geschenkt, das man an die Wand hängen kann. Es ist quadratisch, alle vier Balkenenden sind gleich lang. In der Mitte ist ein kleines rundes Labyrinth eingeprägt.
Wenn ich dieses Kreuz in meinem Arbeitszimmer ansehe, dann denke ich: Ja, Gottes Wege sind geheimnisvoll. Ich verstehe sie oft nicht. Auch der Weg von Gott in Jesus Christus war geheimnisvoll: aus dem Leben in den Tod, aus dem Tod in neues Leben … Das ist schwer zu verstehen. Es geschieht im Verborgenen, vielleicht auf verschlungenen Pfaden … Aber dieser unsichtbaren, geheimnisvollen Botschaft vertraue ich.
Ein anderes Kreuz, das mich immer wieder anspricht, ist das im Dom von Ratzeburg. Zwischen dem Kirchenschiff und der Vierung steht auf einem massiven Querbalken hoch oben ein sog. Triumphkreuz. In diesem Fall ein großes Holzkreuz aus dem 13. Jahrhundert, farbig bemalt. Übergroß ist der Gekreuzigte zu sehen, darunter kleiner Maria und Johannes. Das Besondere an diesem Kreuz sind die geschnitzten Blätter, die die Balken säumen. Sie scheinen aus dem Kreuz herauszuwachsen.
Das Kreuz wie ein Lebensbaum. Aus dem toten Holz der Bretter sprießen Knospen und Blätter, Zeichen des neuen Lebens. Das Kreuz blüht und wächst, könnte man denken. Es ist nicht statisch, es steht nicht nur für das Ende, den Tod. Sondern auch für den Aufbruch aus dem, was tot und erstarrt ist, aus dem Tod in die Auferstehung, den Neubeginn.
Am Kreuz als Zeichen für diese Hoffnung, für diesen Glauben festzuhalten in den Wüstenzeiten, die wir persönlich oder gesellschaftlich erfahren, kann uns retten. Es kann für uns ein Anker, ein Rettungszeichen sein. Dass wir nicht verlorengehen, sondern dem Leben zugewandt bleiben. Dass wir in Gott geborgen bleiben in dieser Zeit und in Ewigkeit. Amen.
Predigttext: Lukas 10, 38–42
Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. 39 Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. 40 Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! 41 Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. 42 Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.
Predigt
Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt!
In Brüssel hängt in den Königlichen Kunstmuseen ein großes Gemälde des flämischen Malers Joachim Beuckelaer. Im Vordergrund sieht man, in kräftigen Braun- und Rottönen gemalt, eine sitzende Frau, im Begriff eine Gans zu rupfen. Ihr zur Seite steht eine jüngere Frau, in der einen Hand einen Bratspieß, auf dem schon ein großer Schinken steckt, in der anderen Hand ein gerupftes Huhn. Ein Küchenjunge sitzt am Feuer, bereit den bestückten Spieß zu übernehmen.
Erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennt man durch einen Torbogen weit hinten im Bild eine weitere, sehr viel kleinere Personengruppe. Etwas verschwommen, in Tusche gezeichnet, sieht man redende, betende, hörende Männer und Frauen.
„Maria und Marta“ bzw. „Marta und Maria“ – denn während die tüchtige Hausherrin Marta den Vordergrund des Bildes dominiert, ist ihre Schwester Maria im Hintergrund kaum zu erkennen.
Manche von Ihnen und euch wissen, dass ich früher am Pastoralkolleg in Ratzeburg in der Weiterbildung der Pastoren gearbeitet habe. Dort ist auch das Predigerseminar, in dem Olivia Graffam viele Kurswochen verbringen wird, wenn sie nicht gerade bei uns in der Gemeinde ist. Die hauswirtschaftliche Versorgung der Gäste in Ratzeburg leisten Mitarbeitende der Vorwerker Diakonie, Menschen mit Behinderung. Sie arbeiten in der Küche, in der Wäscherei und der Raumpflege.
Als ich dort war, gab es jeden Montagmorgen eine Hausandacht. Auf keine meiner Andachten gab es so ein bewegtes Echo wie auf die, die ich einmal zur Geschichte von Maria und Marta hielt. Die jungen Mitarbeitenden der Diakonie waren sofort völlig parteiisch für Marta: „Sie macht doch die ganze Arbeit! Marta schuftet, und Maria sitzt bloß rum!“ Sie konnten sich kaum beruhigen …
Mehr oder weniger explizit sprachen sie aus, wie diese biblische Geschichte auch unsere Situation im Gästehaus in Ratzeburg spiegelte: Die Mitarbeitenden der Diakonie arbeiteten schwer in der Küche für die Gäste, während die Studienleiterinnen, die Pastorinnen und Vikare nur sitzen, reden und zuhören – und dabei scheinbar das bessere Teil gewählt haben, jedenfalls das mit mehr Ansehen und mehr Lohn.
Die Geschichte der Schwestern Marta und Maria, die zusammen mit ihrem Bruder Lazarus zu Jesu Freundeskreis gehörten, ist eine Geschwister- und vielleicht besonders eine Schwesterngeschichte, sie erzählt aber auch von der unterschiedlichen Bewertung und Bezahlung von Arbeit, wie wir es bis heute kennen: Körperliche Arbeit wird schlechter bezahlt als geistige Arbeit. Gehen, heben, tragen, ziehen gilt weniger als sitzen, denken, reden, tippen …
Martas Empörung über die Ungerechtigkeit, in der Küche zu schuften, während ihre Schwester Maria zu Füßen des Meisters sitzt, werden viele Menschen teilen können. Ob sie als ältere Geschwister mehr im Haushalt mithelfen müssen als die jüngeren, ob sie im Handwerk oder in der Pflege deutlich weniger verdienen als andere am Schreibtisch, oder ob sie in der Familie, im Betrieb, auf der Straße das Gefühl haben, für die anderen nur die Drecksarbeit zu machen.
Dahinter die Frage, ob meine Arbeit und Anstrengung gesehen werden? Ob ich gesehen und wertgeschätzt werde in dem, was ich für andere tue, wo ich mir Gedanken mache, wo ich vielleicht auch eigene Bedürfnisse zurückstecke oder über meine Grenzen gehe …
Die zutiefst menschliche Unsicherheit, ob ich gesehen, gemocht, geliebt werde? Unsere Unsicherheit, dessen im Herzen gewiss zu sein.
Viele von uns hören Kritik lauter als Lob. Ein leichter Tadel kann uns länger in den Ohren klingen als ein herzlicher Dank … Eine wahre Last ist das manchmal! Die sich leicht zwischen uns legen kann, zu Missstimmungen und Missverständnissen führen kann.
Marta und Maria – sie zeigen Jesus auf unterschiedliche Weise ihre Zuneigung und Freundschaft. Marta, die als Hausherrin und Gastgeberin vorgestellt wird, nimmt Jesus und seine Jünger auf. Sie „macht sich viel zu schaffen, ihm zu dienen“ (Lk 10, 40), heißt es. Sie setzt all ihre Kraft, ihre Fähigkeiten und ihre Zuneigung ein, um es für die Gäste schön zu machen, damit es ihnen an nichts fehlt!
Maria „setzt sich dem Herrn zu Füßen und hört seiner Rede zu“ (Lk 10, 39). Sie zeigt Jesus all ihr Interesse, ihre Konzentration, ihre Zuneigung, indem sie ihm zuhört, seine Worte in sich aufnimmt, sich ihm auf ihre Weise widmet.
Eigentlich – könnte man sagen – ist doch alles in Ordnung! Menschen zeigen ihre Freundschaft, ihre Liebe, ihr Engagement auf unterschiedliche Weise: Die Einen kümmern sich gerne praktisch, sie kaufen ein, kochen, schneiden die Hecke, helfen mit dem Handy oder dem PC … Andere sind zärtlich, sie trösten, rufen an, hören zu … Wieder andere zeigen ihre Zuneigung in Geschenken, sie organisieren Feste oder Reisen, laden ein … Jede und jeder von uns wird Liebe auf unterschiedliche Weise zeigen, wird eine eigene Sprache, einen eigenen Dialekt der Liebe sprechen.
Und das wird in gewisser Weise auch für dich, liebe Olivia, im Vikariat gelten: Dass du deine Sprache der Zuwendung als Pastorin kennenlernst oder entwickelst. Deine eigene Art, dich in Worten und Taten auszudrücken, sei es eher praktisch oder künstlerisch oder intellektuell, verspielt oder seelsorglich …
Martas Sprache der Liebe sind Taten: andere bekochen, bedienen und umsorgen. Bloß Marta scheint nicht sicher zu sein, ob ihre Sprache der Liebe gehört wird, ob sie wahrgenommen und wertgeschätzt wird, ob dies die richtige Art ist oder ob nicht alle im Haus ihre Zuneigung auf dieselbe Weise ausdrücken sollten?
Wie es uns manchmal ärgern kann, wenn wir nicht das zurückbekommen, was wir selbst geben an Zeit, Geschenken, Einladungen oder Freundlichkeit … Und wir uns wünschen, dass sich die anderen genauso verhielten wie wir.
Jesus antwortet Marta in ihrem Ärger wiederum in seiner Sprache der Liebe: „Marta, Marta!“ – zweimal spricht er sie mit Namen an, um sie zu unterbrechen, damit sie ihm wirklich zuhört und auch damit sie weiß, dass jetzt wirklich sie gemeint ist (Lk 10, 41).
„Marta, du machst dir viel Sorge und Mühe.“ Jesus sieht, was Marta tut. Er sieht vielleicht, dass sie zu viel tut. Dass sie erschöpft ist. Dass sie den Besuch der Gäste vielleicht gar nicht genießen kann. Dass die ganze Hausarbeit zu schwer für sie ist.
„Eins aber ist Not“, sagt er, „Maria hat das gute Teil gewählt.“ (Lk 10, 42) – Diesen Satz höre ich wie eine Aufforderung an Marta, sich zu besinnen: Was ist jetzt notwendig? Was ist jetzt dran? In der Vielzahl der Aufgaben und Gedanken, die einen bestürmen, einen hetzen und stressen können, innehalten und überlegen: Was ist jetzt, in diesem Moment, wirklich wichtig – oder noch wichtiger als das auch wichtige?
Jesus weist auf Maria und sagt: „Sie hat das gute Teil gewählt, das soll ihr nicht genommen werden“ (Lk 10, 42).
Maria als diejenige, die in dieser Situation leichter spürt oder weiß, was dran ist: Sich zu freuen, dass Jesus zu Besuch gekommen ist, dass sie mit ihm zusammen sein, ihm zuhören und mit ihm sprechen kann. Dafür wird nicht mehr viel Zeit sein.
Jesus spricht – anders als Marta und auch anders als Maria – in seiner Sprache der Liebe. Macht Menschen aufmerksam dafür, dass Gottes Liebe in ihm jetzt und hier da ist. Dass Gottes Liebe auf der Erde geschieht und sich ereignet. Dass sie Gestalt annimmt, wo Menschen zusammenkommen, reden, zuhören, trösten, helfen und essen. Dass Gottes freundlicher Blick jetzt auf uns Menschen fällt – und wir sollen vor lauter „Sorge und Mühe“ nicht verpassen, dies zu bemerken.
Denn das ist wohl das Eine, was nötig ist: Dass wir es aufmerksam wahrnehmen, wenn Jesus zu Besuch kommt und bei uns anklopft, wenn Gott uns ansieht oder anspricht.
Und dazu braucht es bei aller Arbeit und Anstrengung Momente, wo wir wie zum Beispiel jetzt hier still werden, zuhören, träumen, abschalten, laut oder leise nachdenken …
Dass Jesus zu uns zu Besuch kommen kann und wir ihm die Tür öffnen und ganz da sind. Für einen Moment. Für das, was uns heute nötig ist. Für das liebevolle Wort oder den freundlichen Blick Gottes, den Segen, der uns unmissverständlich spüren lässt, dass Gottes Liebe in all unseren Unsicherheiten, Ängsten und Vergleichen auch uns gilt, dir und mir.
Gott versteht unsere Gedanken und Taten und Sprachen der Liebe von Ferne. Amen.