Das höchst Gebot
Gottesdienst am 24. August, 10. n. Trinitatis
Bibeltext:
Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft« Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« Es ist kein anderes Gebot größer als diese. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen. (markus 12, 28-34)
Predigt
Liebe Gemeinde,
welche Regeln bestimmen Ihr Leben?
Da gibt es vermutlich Hunderte, vielleicht sogar Tausende: Jemanden, der spricht, nicht unterbrechen, bei der Begrüßung die Hand geben, an einer roten Ampel anhalten, nach dem Essen Zähne putzen, usw. Wenn Sie genauer drüber nachdenken, fallen Ihnen sicher massig solcher Vorschriften, Regeln, Ge- und Verbote ein. Alleine Verkehrsregeln und Tischmanieren, Höflichkeitstraditionen und Benimm-Regeln – das sind so viele, über die wir gar nicht mehr nachdenken, an die wir uns aber doch (mehr oder weniger) halten oder zumindest halten sollten. Und dann natürlich Lebensregeln, die uns als Kind eingeprägt worden sind und die wir verinnerlicht haben: „Sie artig! Sei fleißig! Du musst was aus seinem Leben machen! Reiß dich zusammen!“ Ich weiß nicht genau, womit Sie aufgewachsen sind, aber auch solche Gebote prägen uns.
Was von all dem ist eigentlich das Wichtigste? Welches Gebot bestimmt bewusst oder unbewusst die Grundlage, die Richtung, die Orientierung unseres Lebens? Und ist das eigentlich das Richtige? Das, was es sein sollte, um glücklich und erfüllt und in Frieden mit anderen zu leben? Das ist wohl die Gretchenfrage. Und da kommt einer und stellt sie. Ein Schriftgelehrter: „Welches ist das höchste Gebot von allen?“ Auch er hat jede Menge Gebote und Regeln, an die er sich halten soll. Die jüdische Tradition kennt allein aus der Tora, d.h. aus den 5 Büchern Mose 613 Satzungen. Da sucht er nun die Mitte, das Zentrum. Und was er zu hören bekommt, das kennt er gut.
שְׁמַע יִשְׂרָאֵל יְהוָה אֱלֹהֵינוּ יְהוָה אֶחָד
וְאָהַבְתָּ אֵת יְהוָה אֱלֹהֶיךָ בְּכָל־לְבָבְךָ וּבְכָל־נַפְשְׁךָ וּבְכָל־מְאֹדֶךָ
Das kennt jeder gläubige Jude und jede gläubige Jüdin auswendig. Es ist das jüdische Glaubensbekenntnis:
Höre Israel, der Herr unser Gott ist einer. Und du sollst den Herrn deinen Gott, lieben von ganzen Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
Ich habe bewusst auf Hebräisch zitiert. Denn ich glaube kaum ein anderer Text in der Bibel zeigt so deutlich, wo wir Christen und Christinnen herkommen, wo wir unsere Wurzeln haben – nämlich in der jüdischen Religion. Gefragt nach dem Kern des Ganzen, nach dem Fundament, nach der Grundlage seines Glaubens antwortet der Jude Jesus mit dem Schema Israel. Höre Israel! Da kommen wir her und da gehören wir hin.
Und auch das zweite Gebot, das Jesus benennt – das dem ersten gleich ist – auch das ist ein Zitat aus der hebräischen Bibel.
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“
steht im 3. Buch Mose (19,18). Insofern ein wunderbarer Text für den Israelsonntag. Ein Sonntag, an dem wir nachdenken sollen über das Verhältnis von Kirche zu Israel
Das Verhältnis zu Israel – das ist natürlich ein Thema, das ist wahnsinnig komplex – und sehr heikel. Es ist Thema politischer, gesellschaftlicher und theologischer Debatten und man muss unglaublich aufpassen, dass man das Verhältnis zum Judentum in guter Weise unterscheidet vom Verhältnis zum Staat Israel und seiner Politik. Und ich finde, es ist in den letzten Jahren durch die aktuellen Ereignisse noch viel schwieriger geworden über das Verhältnis zu Israel zu reden.
Ich zumindest bin oft sprachlos: Sprachlos über das Leid, das am 7. Oktober 23 über so viele Menschen in Israel gekommen ist, über das Leid, das Geiseln und ihre Angehörigen noch immer ertragen müssen und über das Leid der Menschen im Gazastreifen, die vor den Augen der Weltöffentlichkeit – jetzt sogar offiziell anerkannt – verhungern oder an den Essensausgabestellen erschossen werden. Frauen, Kinder, Alte haben keinen Ort mehr, wohin sie fliehen können, und werden doch immer wieder vertrieben vom einen Ende dieses kleinen Landstrichs an das andere. Ich bin auch sprachlos, weil in dieser aufgeladenen Situation jedes Wort heikel ist, weil Kritik an Israel und der Politik seiner Regierung unvorsichtig formuliert als Antisemitismus missverstanden werden könnte in einer Zeit, in der antisemitische Aussagen und Übergriffe so massiv zugenommen haben. Ich bin sprachlos, weil man das, was ich sage, verstehen könnte als Relativierung des Leides irgendeiner Seite. Und ich bin sprachlos angesichts des Hasses, des Hasses, der so alt ist und sich durch die aktuelle Gewalt reproduziert und wächst und wächst.
Nicht nur mir scheint das Sprechen darüber schwer zu fallen. Auch denen, deren Job es ist, darüber zu sprechen, um eben Auswege aus der Gewalt auszuhandeln. Auch da scheinen die Beteiligten immer wieder aneinander vorbeizureden, mühsam geknüpfte Gesprächsfäden reißen wieder ab. Wie können verfeindete Lager miteinander ins Gespräch kommen? In der aktuellen politischen Lage scheint das fast unmöglich.
Auch in der Theologie ist das „Verhältnis zu Israel“ ein heikles Thema. Will man darüber reden, landet man notgedrungen bei einer wenig rühmlichen Auslegungsgeschichte, die Christen und Christinnen jahrhundertelang betrieben haben. Nämlich die Überzeugung, das Volk Israel, die Juden, seien „verstockt“, hätten den Messias nicht erkannt und insofern seien wir – die Christ:innen – in der göttlichen Erwählung an ihre Stelle getreten. Da wurde oft schwarz-weiß gemalt: Das Alte Testament mit dem zornigen Gott, mit all seinen Geboten und Verboten und dem Gesetz im Vordergrund. Das Neue Testament, das eben neu und besser sei, mit seinem gnädigen Gott, der Barmherzigkeit verspricht und Vergebung am Kreuz erwirkt – das Evangelium eben, die frohe Botschaft. Oder man hat das Alte und das Neue Testament im Schema Erfüllung und Verheißung gesehen – was früher angekündigt wurde, hat sich jetzt endlich für uns Christinnen und Christen erfüllt. Diese Sichtweisen – so hat inzwischen auch die christliche Theologie begriffen – werden der hebräischen Bibel, werden dem Judentum, werden auch Jesus nicht gerecht. Gerade das Gespräch mit dem Schriftgelehrten zeigt das überdeutlich.
Der Israelsonntag jedenfalls mahnt uns zum Dialog. Und wie Dialog geht, dafür liefert der Predigttext von heute ein gutes Beispiel: Da reden zwei miteinander: Jesus und ein Schriftgelehrter. Die streiten doch eigentlich immer miteinander – Jesus und die Pharisäer und Sadduzäer und wie sie alle heißen. Da geht es doch immer darum Jesus in eine Falle zu locken mit irgendwelchen spitzfindigen Fangfragen. Und Jesus manövriert sich meistens mit klugen Worten oder starken Zeichen aus der Zwickmühle heraus. Oder er wird sauer und beschimpft seine Gegner – auch das können wir in den Evangelien nachlesen.
Aber hier – in diesem Gespräch ist alles ganz anders. Da tritt einer aus der Masse heraus – ein Schriftgelehrter – und er kommt mit echtem Interesse. Er hat zugehört, so heißt es, und er hat gemerkt, dass Jesus „fein geantwortet“ hatte. Er hat gemerkt, der hat was zu sagen. Und jetzt will er wirklich etwas wissen, er möchte von diesem Mann lernen. Es ist eine Begegnung in beiderseitigem Respekt. „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ bescheinigt Jesus dem Schriftgelehrten. Das sagt er sonst nicht gerade häufig. Sie akzeptieren sich Jesus und der andere – als Gläubige, als Thorakundige, sie erkennen die religiöse Kompetenz des anderen an und merken: Wir sprechen die gleiche Sprache, wir haben die gleichen Wurzeln. Der Text zeigt uns, wie man miteinander reden kann. Voller Respekt nämlich. Das ist das WIE.
WAS sie da miteinander reden – das geht darüber hinaus – da geht es nicht nur um Respekt, sondern um Liebe. Und damit sind wir wieder bei unserer Eingangsfrage, der Gretchenfrage. „Welches ist das höchste Gebot von allen?“ Als Antwort bekommt der Schriftgelehrte nicht nur eines, sondern zwei im Doppelpack. Das Doppelgebot der Liebe: Gott lieben und den Nächsten. Aber eigentlich ist es sogar ein Dreierpack: Gott lieben, den Nächsten und mich selbst. Das ist das Dreieck, um das sich alles dreht im Leben – und wenn das aus der Balance gerät, dann nützen alle anderen Vorschriften und Anweisungen nichts.
Alles wurzelt in dem einen: dem einen Gott, dem, der uns liebt und den wir lieben sollen. Und es ist eben nicht irgendein abstraktes höheres Wesen, sondern der Gott, den Israel in seiner Geschichte kennen gelernt hat. Wir sollen nicht irgendeinen Gott lieben, sondern den Gott, der Israel befreit hat aus der Sklaverei in Ägypten. Der seine Geschichten geschrieben hat mit Abraham und Sarah, Mose und Mirjam, mit Ruth und David, Esther und Jona und die vielen anderen Helden und Versager. Ja, eben auch die Versager. In diesen Geschichten liegen viele Liebeserklärungen Gottes verborgen. Für Israel ist das „Schema Israel“ Ausdruck der Liebe zu, aber auch von ihrem Gott, von dem Gott, der als Vater von Jesus Christus auch unser Gott wurde.
Aus dieser Liebe von Gott und zu Gott – daraus leitet sich automatisch die Liebe für den Nächsten ab. Wer Gott liebt und seinen Nächsten nicht … das kann nicht funktionieren, finden wir doch Gott in unserem Nächsten wieder. Und umgekehrt: Seinen Nächsten lieben ohne selbst vorher geliebt zu werden, ohne diese Liebe aus einer anderen Liebe zu schöpfen – das funktioniert auch nicht.
Es ist ein sensibles Gleichgewicht diese Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu uns. Das erleben wir am eigenen Leib und spüren es gerade dann besonders deutlich, wenn es außer Balance gerät. Manchmal kann man das beobachten: Da engagieren sich Menschen im Beruf oder in irgendwelchen Projekten, im Ehrenamt, für Freunde, für Familie – und tun dies bis an die Grenzen der eigenen Kraft und darüber hinaus. Das wird sie früher oder später aus der Bahn werfen, aus dem Gleichgewicht, selbst wenn es noch so gut gemeint ist.
Und wenn ich nochmal auf das politische Geschehen im Nahen Osten oder auch an anderen Orten dieser Welt schaue, dann scheint mir da auch vieles aus dem Gleichgewicht, weil es kein Ausbalancieren mehr ist, sondern ein Kräftemessen zweier Seiten. Manchmal frage ich mich, ob es nicht daran liegt, dass die dritte Komponente fehlt. Zumindest erscheint mir vieles sehr gottlos.
Es fehlt unserer Welt an der Frage, die der Schriftgelehrte stellt: Wonach sollen wir uns ausrichten? Die Antwort Jesu – geschöpft aus der alten jüdischen Tradition – gibt eine Vorstellung davon, wie Menschen (und ich ergänze: auch Völker) eine gute Lebensbalance erreichen könnten – damals und heute. Da ist das Du und das Ich und beide haben Ansprüche – und man kann diese Ansprüche ausbalancieren, wenn man sie in Beziehung setzt zu dem Dritten, zu Gott, der diesen Ansprüchen ihr Recht und ihre Grenze gibt. Gott – der uns liebt – ermöglicht uns dadurch friedliche Beziehungen.
Was ist das höchste Gebot?
Kein: Reiß dich zusammen. Werde erfolgreich, opfere dich für andere auf – oder was auch immer uns Eltern und Gesellschaft mit auf den Weg gegeben haben. Auch kein: mach den besten Deal oder ich und mein Land zuerst.
Das Leben gelingt, wenn neben das Ich und Du die dritte Größe tritt, die jenseits von uns liegt. Es gelingt, wenn wir uns füllen lassen aus dieser Quelle und weitergeben, was überfließt. In anderen Worten: Wenn wir Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und unseren Nächsten lieben wie uns selbst. Amen.